Freiheit statt Zeitschleife
Was ist Zeit? Warum tickt sie immer schneller? Und wie können wir Überforderung vermeiden? Zeit ist Gefühlssache, meint unsere Autorin, und betrachtet die Hintergründe von Tempo bis Slow Motion genau. Eine Leseprobe aus ihrem Buch „Weit weg – nah dran“.
Hier erfahren Sie mehr über
- Messbare Zeit
- Gefühle und Zeit
- Freiheit und Universalität
Text MoonHee Fischer
Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.
Wir befinden uns in einer schnelllebigen und fordernden Zeit, die uns im Alltag schnell in eine Überforderung bringen kann. Das Mittel der Wahl ist dann Abgrenzung und Priorisierung. Wie kann man in unserer dualen, verstand‐ und leistungsgesteuerten Welt Einheit bzw. Ganzheit leben?
Zeit ist subjektiv
Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen. Trotz ihrer allgemeingültigen, objektiven Messbarkeit empfinden wir sie als etwas sehr Subjektives. Wie wir Zeit erleben, schnell oder langsamer vergehend, erfüllend oder nicht erfüllend, ist individuell geprägt.
Allgemeinsprachlich reden wir von Zeit als einer, die sich ständig verändert. Ich meine dies nicht im heraklitischen Sinne – alles fließt (panta rhei) – oder im Sinne der Relativitätstheorie, die von einer Raum-Zeit spricht, in der es eine festgelegte, starre Zeit nicht gibt, sondern die relativ ist (Zeitdilatation). Wenn ich hier von Zeit spreche, dann von einer psychosozial konditionierten.
Wie Zeit zum Maßstab wurde
Allzu gerne sagen wir: Die Zeiten haben sich geändert. Zeit war ursprünglich natur- oder gottgegeben. Mit der Erfindung der Uhr wurde sie stückweise zu etwas Weltlichem und Mechanischem portioniert. Zeit war von nun an nicht mehr ein natürlicher Welt- und Wegbegleiter – sie wurde zum Maßstab für ein neues, detailverliebtes Bewusstsein.
Der Blick auf das Große und Ganze verschwand. Die Zerlegung und Spaltung in Einzelteile wurde favorisiert und vorangetrieben. Seitdem scheint die Uhr – nicht die Zeit – immer schneller zu ticken.
Die Zeit an sich (messbare Zeiteinheit), ungeachtet der Diskussion, ob es so etwas wie Zeit überhaupt gibt, hat sich nicht verändert – wir haben uns verändert!
Zeit ist ein menschliches Bewusstseinsphänomen. Raum und Zeit gibt es in der Natur nicht.
Und wo ein Bewusstsein ist, da ist Dualität, und wo Dualität ist, da sind Gegensätze und Trennungen. Dualistisches Bewusstsein bedeutet: gefühlte Gedanken – gedachte Gefühle.
Gefühle bestimmen unser Bewusstsein von Zeit
Zeit ist weniger eine quantitative Sache als eine qualitative. – Zeit ist eine Gefühlssache. Betrachten wir die Zeit – unsere Zeit – unter diesem Aspekt, so müssen wir unsere Gefühle anschauen. Welche Gefühle haben wir? Welche bestimmen unseren Alltag? Können wir diese steuern, sie stoppen oder unterliegen wir ihnen? Woher kommen sie, wohin gehen sie?
Gefühle bestimmen unser Alltagsleben und dadurch unser Bewusstsein von Zeit. Da wir unzählige Gefühle und damit verbunden unendlich viele Gedanken haben, läuft uns die Zeit davon. Immer hinken wir irgendwelchen Gedanken hinterher. Ich muss dieses; ich muss jenes. Ich brauche dieses; ich brauche jenes nicht. Tick tack, tick tack.
Wir sind unser eigener Gefangener einer selbstkreierten Zeitschleife. Einerseits scheint die Zeit zu rennen, andererseits läuft sie gefühlt in Slow Motion im ewigen Trott dahin. Der moderne Mensch ist gestresst und gelangweilt zugleich. Er ist ein in sich widersprüchliches und zerrissenes Wesen. Er weiß viel und auch nichts.
Er ist selbstbezogen, dennoch liebt er sich nicht. Er hat alle Freiheit und doch nutzt er sie nicht.
Die allgemeine Überforderung
Das Problem der schnelllebigen Zeit liegt im schnelllebigen Menschen. Dieser hängt an Begrifflichkeiten und äußerlichen Dingen. Er glaubt, dass Freiheit eine äußere Sache sei und keine innere.
Weil er keine innere Freiheit kennt, ist sein Fühlen, Denken und Handeln nicht selbstbestimmt. In seiner Unmündigkeit vertauscht er Wirkung mit Ursache und Realität mit Wirklichkeit. Daher neigt er dazu, zu handeln, wo er ruhen sollte, und zu ruhen, wo er handeln sollte. Er redet, wo er schweigen sollte und schweigt, wo er reden sollte.
Dies führt zu Energieverlust und zu einer Überforderung im Allgemeinen. Die Folgen sind Optimierung, Effizienz und Priorisierung. Tatsächlich sind das alles nur andere Bezeichnungen oder Vorgehensweisen, die Welt zu funktionalisieren und zu bürokratisieren.
Eine drastische Auswirkung davon ist Unverbindlichkeit. Nicht nur, dass wir unverbindliche Beziehungen führen, auch unsere Einstellung zum Leben im Allgemeinen ist unverbindlich und beziehungslos geworden.
Da die ganze Welt so tickt, nehmen wir das als selbstverständlich hin und machen alle kräftig mit. Als Rechtfertigung muss die schnelllebige Zeit herhalten. Aber der wahre Grund unserer Beziehungsunfähigkeit ist die kollektive Oberflächlichkeit, in der wir so dahindümpeln. Unserem Leben fehlt die Tiefe. Sich auf einen anderen einzulassen bedeutet heute nur noch Belastung und Zeitverlust und nicht mehr Bereicherung und Freude.
Unverbindlichkeit und „Individualitis“
Die kollektive Unverbindlichkeit fußt auf der Angst, sich einschränken und Verantwortung übernehmen zu müssen. Der moderne Mensch leidet an Individualitis, verbunden mit einem Selbstverwirklichungswahn und einem vollkommen überzogenen Freiheitsbegriff. Wir pochen auf unsere Rechte und jede Art von Pflicht wird als Opfer empfunden, statt als Dienst oder Geschenk am nächsten.
Oft wird die zunehmende Unverbindlichkeit durch Esoterik verschönt. Hier gibt man sich gern den Dingen der Welt gegenüber gleichmütig und ist stolz darauf, alle Erwartungen abgelegt zu haben. In diesem Kontext repräsentiert solch eine Haltung alles andere als einen erleuchteten Geist, sondern die Gleichgültigkeit oder die Hoffnung, wenn man keine Erwartungen an andere stellt, dann bleibt man auch von denen der anderen verschont und man hat Gott sei Dank seine Ruhe.
Wenn wir aber keine Erwartungen mehr haben oder stellen dürfen, wird die Welt einsam und dunkel. Dann steht jeder für sich allein und keiner traut sich noch, um Hilfe und um Anschluss zu fragen. Was traurigerweise schon der Fall ist. Es heißt zwar: Gemeinsam ist man weniger allein, aber leider stimmt das nicht. Unsere Gesellschaft vereinsamt kollektiv.
Die kollektive Vereinsamung
In der großen Weltmaschine wird der Einzelne nicht gehört. Das Einzige, was noch zählt, ist, den Betrieb am Laufen zu halten. Dafür sind wir bereit, uns selbst und das, was uns zum lebendigen Menschen macht, zu opfern.
Heute ist es zur Tugend geworden, alles unter Kontrolle zu halten. Gelingt uns das nicht, fühlen wir uns unzureichend und überfordert. Da negative Gefühle lieber kompensiert statt aufgelöst werden, verfallen wir in ein Noch-mehr-tun oder in ein Noch-mehr-haben-wollen. Beide Begriffe sind austauschbar. Das eine bedingt das andere.
Ich möchte betonen, dass Konsum sich nicht nur auf physische Dinge bezieht. Der moderne, schnelllebige Mensch ist Konsument. Er hat viel mehr, als er braucht, und nimmt sich mehr (vor), als er verarbeiten kann. Sogar wenn er glaubt, loszulassen, fügt er ein Weiteres hinzu. Es werden keine Gedanken entleert: Es werden Strategien und Konzepte entwickelt und angeeignet, um entspannter zu sein, um wiederum mehr Zeit zu gewinnen.
Aber je mehr wir tun, desto schneller und lauter tickt die Uhr. Nun haben wir noch ein Ding mehr, das wir bewerkstelligen müssen. Tick tack, tick tack.
Einzig allein dort, wo keine Gedanken sind, ist kein Handeln oder Tun und somit auch keine Zeit. Das Pferd von hinten oder von außen aufzuzäumen ist müßig. Freiheit, auch die von Zeit, beginnt immer bei uns selbst. Sie setzt Klarheit voraus. Unabhängig von äußerlichen Faktoren ist sie eine Größe, die nicht trennt oder ausschließt, sondern vereint.
Der Weg zu Freiheit und Einheit
Wie beginnt man, alte Gewohnheiten zu verändern? Indem wir zum Beginn, zum Anfang, zurückgehen. Und der Anfang allen Seins und Nichtseins ist das universelle Bewusstsein. Wenn wir von der Illusion einer Dualität ablassen, erkennen wir, dass alles universelles Bewusstsein ist: Es ist Anfang, Ende und das Dazwischen. Dualität ist ein Konstrukt, ein Produkt des menschlichen Denkens, und nicht Wirklichkeit.
Wollen wir die universelle Einheit erfahren, müssen wir uns aller mentalen Barrieren entledigen. In einem dualen Verstand oder Leben kann es keine Freiheit und Einheit geben. Wir brauchen uns nicht von der Welt abzuwenden – wir müssen nur eine klare Entscheidung treffen: Glaube ich an Einheit und Universalität, an Wahrheit und Wirklichkeit, oder halte ich an einer Realität mit Täuschungen, Grenzen und Trennungen fest?
Ist die Entscheidung für das universelle Bewusstsein erst einmal getroffen, eröffnet sich auch der Weg. Der Weg ist immer schon da. Aber erst, wenn wir die Wichtigkeit des Gehens verstanden haben, haben wir auch die Muße, ihn zu beschreiten.
Es liegt ganz an uns selbst, ob wir uns dem großen Ganzen, in dem die Dualität nicht verneint wird, sondern transzendiert wird, in Freude unterwerfen oder ob wir in Selbstzentrismus und Gegensätzen verweilen. Als Bewusstseinswesen haben wir die Freiheit, zu wählen.
In Michael Endes Buch Momo heißt es: „Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.
Fotos: Unsplash / Maxime Lebrun, Yusuf Onuk, Alex Shuper