ERZÄHL MIR VON MIR
Ausführungen zu einem besonderen Gedicht und Leserfeedback hinsichtlich der Kontemplation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Text Michil Costa
Michil Costa lebt in Corvara, Südtirol. In den Hotels „La Perla“ und „Berghotel Ladinia“ setzt er auf die Prinzipien der Gemeinwohlökonomie sowie wahre, nachhaltige Werte statt Trends. Und er gründete die „Costa Family Foundation“ zum Schutz von Kinderrechten und Frauen.
Vor einiger Zeit habe ich auf Facebook* folgenden Gedanken veröffentlicht:
„Nur zu überleben reicht nicht.
Wir müssen auch die Sterne kontemplieren,
müssen in den Augen des Anderen sein und ihm sagen
„erzähl mir von mir“.
Die Schöpfung umarmen.
Ja, ich habe gelebt.
Ich danke dir, Welt. Ich danke dir, kostbare Zeit.
Ja, ich lebe!
All das tun die guten Geister immer:
Sie füllen die Schwärze des Himmels
Und werden es ewig tun.“
Ein Leser kommentierte diese schlichten Zeilen folgendermaßen: „In Bezug auf Ihr Gedicht habe ich mich gefragt, wieso Sie die Vergangenheit (‚habe gelebt‘) und die Gegenwart (‚ich lebe‘) erwähnen, nicht aber die Zukunft.
Außerdem würde ich gerne wissen, was Sie mit ‚erzähl mir von mir` meinen.“
WER IST DER ANDERE?
Diesen Kommentar nehme ich zum Anlass, meine Gedanken zu so grundlegenden Themen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft etwas ausführlicher zu formulieren. Am besten fangen wir mit dem Thema der Kontemplation an, die ich in meinem Post erwähne.
Denn nur durch Kontemplation werden wir uns unserer selbst bewusst.
Kontemplieren können wir alles Mögliche, es muss nicht unbedingt ein Sternenhimmel sein. Kontemplation vermittelt uns das Bewusstsein, eine Seele zu haben. Kontemplation ist die Quintessenz dieser Seele, ist ihr Leben.
Zu dem Satz „Erzähl mir von mir“ hat mich hingegen das wunderschöne Buch „Der Andere“ von Ryszard Kapuscinski inspiriert, das uns begreifen lässt, wie wichtig Begegnungen mit anderen Menschen sind. Aber wer genau ist „Der Andere“ für den großen polnischen Reporter? Es ist nicht nur, mit wem wir heimliche Wünsche oder gefährliche Leidenschaften teilen, dramatische Momente und große Glückserlebnisse. Es ist auch nicht der nur, wer sich von uns durch Geschichte, Traditionen, Kultur unterscheidet.
Der Andere ist, wer wie wir begierig die Welt da draußen erkunden will, und zwar nicht so sehr die eigene, als die des anderen.
Nur durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen können wir unsere Herangehensweise an die Welt modifizieren und damit auch uns selbst transformieren.
SICH SELBST BEGREIFEN
Deshalb habe ich „erzähl mir von mir“ geschrieben. Ich will jemand anderen kennenlernen, um mich selbst besser zu begreifen. Ich bin ein Mensch, der die Stille liebt, die Berge, Orte wie das Mittagstal, wo selbst im August kaum Menschen unterwegs sind (was ich wunderbar finde); trotzdem bin ich noch nie in Versuchung gewesen, zum Einsiedler zu werden oder ein Kloster statt einem Hotel zu leiten.
Im Gegenteil. Das Leben in der Einsamkeit reizt mich nicht; viel schöner finde ich das Leben in der Gemeinschaft, im permanenten Umgang mit dem Anderen. Mein Beruf hilft mir dabei, denn die Begegnung mit dem Anderen ist letztlich Sinn und Zweck im Leben eines Hoteliers. Auch gutes Essen, geräumige Zimmer, ein schönes Panorama sind wichtig, doch all das aufrichtig mit jemanden zu teilen, der zu Besuch kommt, macht in unserem Beruf die allermeiste Freude, schenkt die größte Genugtuung. Der Rest sind Optionals.
WIE MAN ZUKUNFTSHOFFNUNGEN MISST
In seinem Kommentar auf meinen Facebook-Post hat mich Signor Piero auch darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich darin nicht auf die Zukunft beziehe. Jetzt wird es kompliziert, oder besser: Es wird persönlich.
In einer Weltgemeinschaft – ich benütze hier bewusst das Wort Gemeinschaft, weil es nach Wärme und Geborgenheit klingt und damit nach einer lebenswerteren, von Nähe geprägten Welt – muss jeder einzelne Mensch seine Zukunftshoffnungen an seinen gegenwärtigen Handlungen messen. Alles, was einmal sein wird, hängt von dem ab, was heute ist.
Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns auf das „hier und jetzt“ konzentrieren. Mein kleines, persönliches Schicksal ist für die Zukunft der Erde unerheblich; viel wichtiger ist meine winzige Gegenwart, die zusammen mit der Gegenwart des Anderen – fast acht Millionen Anderer – die Wirklichkeit bildet.
Das sollten wir bedenken. Statt uns zu sehr von der Idee der Zukunft konditionieren zu lassen, sollten wir die Wichtigkeit dessen kontemplieren (da haben wir’s wieder!), was jetzt existiert.
WENN MAN DIE VERGANGENHEIT VERGISST
Wenn wir unser Leben, unseren gegenwärtigen Alltag, Problemen unterordnen, die sich eben erst am Horizont abzeichnen und für die es keine haltbaren Beweise gibt, die dafür aber die Kostbarkeit des aktuellen Moments schmälern, weil sie uns in eine Zukunft katapultieren, die in der nächsten Sekunde beginnt und nie vorübergehen wird, dann verwandelt sich dieses gegenwärtige Leben in eine Art ewigen Wartebereich, aus dem wir nie herauskommen werden, weil wir nichts in der Hand haben.
So viele Menschen auf dieser Welt beschäftigen sich mit Zukunftsplanung. Es geht um die Zukunft der Menschen, des Planeten, des Landes, der neuen Generationen. Und so weiter. Klar, dass diese Zukunft funktionieren muss – für das Leben, den Fortschritt, den Wohlstand der Völker, die Stabilität der Regierungen und der ganzen Welt. Doch diese vielen Menschen sind derart mit der Zukunft beschäftigt, dass sie ganz schnell vergessen, was ebenso wichtig ist – nämlich das, was einmal war.
ZUKUNFT ALS MOTIVATION FÜR HEUTE
Mir widerstrebt nämlich nicht nur absolut diese zwanghafte Beschäftigung mit der Zukunft, sondern ebenso auch die übertriebene Verhaftung in der Gegenwart, von der unsere Gesellschaft durchdrungen ist – als wollte sie eine als lästig empfundene Vergangenheit im Namen einer künstlichen, allein auf Fiktion beruhenden Zukunft auslöschen. Für mich selbst ist Zukunft weniger ein Versprechen auf ein gutes Leben in zehn oder zwanzig Jahren oder übermorgen, sondern eher Motivation, um jetzt und heute schöne Dinge zu tun. Dinge, die klein und unbedeutend erscheinen mögen, die der Gegenwart jedoch Substanz verleihen.
Damit hoffe ich, wenigstens teilweise die Fragen von Signor Piero beantwortet zu haben. Natürlich sind meine Überlegungen das Ergebnis sehr persönlicher und furchtbar langweiliger Wahrnehmungen. Es wäre deutlich spannender, mit den Lesern und Leserinnen dieser Zeilen einen echten sokratischen Dialog führen zu können. Denn wahres Wissen entsteht erst aus Kontemplation. Und aus der Begegnung mit dem Anderen.
* Apropos Facebook: Es wird mir hoffentlich verziehen, dass ich hier noch von Facebook spreche. Aber die neue Schöpfung Meta (soll ich wirklich ‚Schöpfung‘ sage, wo doch jede Schöpfung göttlich zu sein hat?) lässt mich sofort ans Metaversum denken. An augmented reality, die in Wirklich keine vergrößerte Wirklichkeit ist, wie der Name vermuten lassen könnte, sondern eine gefälschte Wirklichkeit. Ein virtueller Ort, an dem ich einen virtuellen Hund streicheln und virtuelle Dinge virtuell einkaufen kann.
Mich erschreckt diese Dimension zutiefst, denn ich hänge doch sehr an unserer analogen Welt, in der Dinge noch echt sind und keine Abbildungen.
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