
FLIESSEN – EIN ABSCHIED IN LIEBE
Die Begleitung eines nahestehenden Sterbenden geht nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Dieser Einschnitt zwischen Leben und Tod verändert alles – auch den, der zurückbleibt.
Hier erfahren Sie mehr über
- Abschied
- Sterbebegleitung
- Selbsterkenntnis
Text Barbara Imgrund

Barbara Imgrund ist freie Literaturübersetzerin und Autorin sowie ehrenamtlich im Hospizdienst und im internationalen Tierschutz tätig. barbara-imgrund.de
Du entgleitest mir schon. Sachte, stetig, wie Wasser, das durch meine Finger rinnt. Es will weiter, immer weiter. Und wie dein Leben war, ist auch dein Sterben: kein Aufbegehren, kein Widerstand. Nur Loslassen. Fließen.
Die Kinder sind fort, sie haben längst von dir Abschied genommen – zu viel Angst und zu viel Kummer.
So sind es jetzt nur noch wir beide, wie damals, am Anfang: du und ich.
SICH DEM „DRÜBEN“ NÄHERN
Zerbrechlich bist du geworden, du, der vor Kraft strotzte und ohne Furcht in der Welt stand. Abgrundtief deine Atemzüge. Mal um Mal hebt und senkt sich dein Brustkorb, ein Blasebalg, der dir die letzte Luft abpresst. Es ist fremd und schon so viel weniger Du.
Den Schrecken darüber halte ich aus, irgendwie. Er ist der Preis dafür, dass du nicht mehr leidest. Qual war, den Krebs an dir fressen zu sehen, eilig und eifrig. Nun liegst du entspannt, die Medikamente tun, was sie sollen; ihnen helfen die Gifte, die in dir kreisen, da die Organe sich langsam abschalten. Du erkaltest bereits. Inzwischen bist du dem Drüben näher als mir.

ABSCHIED VOM FEUER, ABSCHIED VOM GLÜCK
Vor dem Fenster vergeht ein sonniger Nachmittag, doch ich habe längst Feuer gemacht; du frierst neuerdings schnell. Das Knistern im Kamin war unser Soundtrack. Stunde um Stunde haben wir beide auf diesem Sofa geruht und in die Flammen gesehen; oft schläfrig-still, satt, der Gesellschaft des anderen zufrieden. Dass dies Glück war, groß und gewaltig, begreife ich, da es nicht wiederkommt.
Ich spüre jeden deiner Knochen durch die wollene Decke. Seit Tagen nimmst du nur noch ein paar Bissen zu dir, und jede Minute, die du sie bei dir behältst, ist ein Sieg. Dann heute Morgen deine Augen, ihr stummes Flehen, und ich streckte die Waffen. Wozu dich zwingen, dieser Krieg ist nicht mehr zu gewinnen. Genug von allem, genug. Du sollst Frieden haben, kein „mir zuliebe“ mehr. Ein verschwiegener Pakt, wie es zahllose Pakte zwischen uns gab: Wir lassen Schicksal und Krankheit ihr Werk tun. Und endlich kann Erlösung sein.
DU WARST WIE EIN FISCH IM FLUSS
Von hier aus sehe ich durchs Fenster den wilden Fluss. Kannst du noch immer das Wasser spüren? Es hat sich beruhigt, der Sturm ist vorüber, beinahe glatt wie ein Tuch liegt es da. Nur kleine Wellen ab und zu, die an Treibgut und Felsen lecken.
Ich bin es, die hier aufgewachsen ist, aber niemand liest diesen Fluss wie du. Eure erste Begegnung vergesse ich nie, vor Jahren im Frühling unter blauem Himmel. Wir traten ans Ufer, nur einen Steinwurf von hier. Du sahst hinab, und der Fluss sah zurück. Hin und wieder ging etwas, ein Erkennen, Verstehen, so als lebte der Fluss und antwortete dir.
Es war eine Einweihung. Von da an wusstest du um seine Launen und wann wir ihm besser fernbleiben sollten. Wir anderen wagten uns niemals hinein. Nur dich schien er zu dulden, und du, ohne Angst, voll Vertrauen, getragen zu werden, warst wie ein Fisch in seinen tückischen Wassern. Beklommen blieb ich am Ufer und beneidete dich um deine Arglosigkeit. Ich weiß um die dunklen Tiefen und wie allein man dort unten ist.

„ICH FLÜSTERE WORTE, DIE NUR DU VERSTEHST“
Die Tage voll Licht sind nun vorbei; du verlässt uns. Der Fluss hat sich lange dagegen gewehrt. Noch gestern tobte er da draußen wie in dir der Krebs, nur um heute besänftigt zu fließen, zu fließen, so wie du es tust, jenem anderen Ufer entgegen, an dem kein Leiden, kein Schmerz mehr ist.
Ich spüre Muskeln unter deiner Haut zucken, ich fange an, dir ein Schlaflied zu summen wie eine Mutter dem Kind, ich flüstere Worte, die nur du verstehst. Meine Hand erforscht dich ein letztes Mal, verabschiedet all die vertrauten Orte, verweilt hier und da, um zu wärmen, beruhigen, und schließlich ebben die Krämpfe ab. Sie werden häufiger, und ich weiß, was das heißt: Er kündigt seine Ankunft an.
NOCH EINMAL: UNSERE GESCHICHTE
Lass mich dich in den Schlaf wiegen mit der Geschichte, wie begann, was niemals zu Ende sein kann. Ich war damals nicht auf Bekanntschaften aus, nur auf der Flucht vor allem und mir. Dann stand ich vor dir, auf jener Straße im Menschengewühl. Voller Neugier dein Blick. Wer ich war, wollte er wissen. Er meinte nur mich. Und warum? Ich weiß es bis heute nicht.
Denn Glück war etwas, das andere hatten; ich hauste im Schwarz. Kein Gedanke an Rettung, keine Zuflucht, kein Ausweg aus meinem Hamsterrad. So viele Chancen verpasst und verpatzt, bis nichts mehr ging, bis alles stockte, zu Stillstand gerann. Mit jedem Scheitern weniger Mut und immer mehr Wut, und dann, irgendwann, stand ich nicht mehr auf.
Noch heute erinnere ich mich an das Schwarz. Es war überall, wie ein böses Geschwür, das metastasierte, sich voranfraß in mir. Längst hatte ich aufgehört, mich zu spüren, ich war nicht mehr Wirt, nur noch Wucherung. Trostlosigkeit, bleischwere Leere, kein Sinn, keine Freude. Und jeder Tag ein verfluchtes Versprechen auf Ewigkeit.
Dort unten, am Boden, kam mir ein Gedanke. Er lag nah, so nah, dass ich ihn jetzt erst sah. Und einmal gefasst, ließ er mich nicht mehr los: Ich muss dieses Leben nicht zu Ende leben … Ein Teil von mir erschrak zu Tode. Der Rest fand, es kam auf dasselbe heraus.

ES GIBT KEIN ZURÜCK
So stand es um mich, und dann warst du da, auf jener Straße. Ich bemühte mich wirklich, dich nicht zu beachten; nur für mich hatte ich Kraft, für niemanden sonst. Es hat dich nicht eine Sekunde gekümmert. Wie entschlossen du warst, in mein Leben zu treten! Nicht weil du mich brauchtest; dein großer Geist genügt sich auch selbst. Die Bedürftige war ich, ich habe es nur erst spät gemerkt.
Das Haus zerfällt, in dem dein großer Geist wohnt. Und ich kann nichts für dich tun, nur dableiben, während du dich entfernst. Dir wünsche ich, dass du schnell gehst, mir wünsche ich, dass du nie gehst. Doch es gibt kein Zurück, jene mächtige Hand, die den Blasebalg führt, wird langsam müde. Immer mehr Zeit, die atemlos verstreicht. Bangen, das erst beim Luftholen endet und gleich darauf von vorn beginnt.
Kannst du mich immer noch spüren und riechen? Man sagt, diese Sinne schwinden zuletzt. Ich würde dich so gern trösten, beschützen, falls dein Löwenherz Trost und Schutz überhaupt braucht. Wenigstens das lass mich tun, dieser kleine Dank ist ohnehin elend genug. All die Jahre warst du es, der über mich wachte, ich gab es nur viel zu ungern zu.
DIE SONNE GEHT UNTER…
Was nicht heißt, dass es stets leicht mit dir war: Du bist ein Freigeist, dein Kopf ist aus Stahl. Doch selbst durch Reibung wuchsen wir – zwei Wildbächen gleich, die sich tobend vereinen hinab zu Tal, um dort ein Strom zu sein, ein ruhiger Wille, dem Lauf der Dinge zu folgen, dem Meer entgegen, das so fern zu sein scheint … Du wirst dieses Meer nun vor mir erreichen, wirst dich in jedem Tropfen verschwenden. So verfehle ich dich nicht, wenn auch meine Zeit kommt.
Die Sonne geht unter, in ihrem Glanz brennt der Fluss lichterloh. Ein flammender Abschied, der bald schon erlischt; dann wird es dunkel sein und kalt. Bis zuletzt warst du mein Fels in der Brandung, an dir war gut Festhalten so lange Zeit. Nun muss ich sehen, ob ich das ohne dich kann: Mut haben, vertrauen, nicht an mir zweifeln. Mir verzeihen, dass ich bin, wie ich bin. Und dann fließen lassen, was fließen will.

„JETZT ZIEHST DU IN MEIN GEDÄCHTNIS UM“
Du hast niemals gefragt, ob deine Mühe sich lohnt. Ob ich es wert bin. Du hast einfach geglaubt und alles gegeben. Ich kann nicht aufhören, darüber zu staunen, und ich werde nie anfangen, dich zu vergessen. Wenn im Frühling der Fluss braun vom Schmelzwasser wird, stehst du an seinem Ufer mit mir.
Lass im Sommer über dem Wasser die Mücken tanzen, und ich raune deinen Namen in den Abend hinein. Im Herbstwind, der weiß die Wellen empört, hilfst du den Kindern beim Blätterfangen. Und sobald sich der Fluss in sein Winterkleid zwängt, läufst du mit uns aufs Eis hinaus. Es wird fast sein wie immer und jeden Tag. Und so stirbst du nicht wirklich, du ziehst nur in mein Gedächtnis um.
Dort wirst du ab jetzt unsere Geschichte hüten. Du warst mein Wunder, du kamst, um zu bleiben, als ich allein und verlassen war. Schon habe ich Mühe, dein Herz unter meiner Hand schlagen zu spüren. Was wird aus mir, wenn es stehen bleibt?
AUFSTEHEN, NICHT UNTERGEHEN!
Dies sind schwierige Zeiten. Eine Welt ist im Wandel, eine Welt ist im Wanken. Wir suchen und hoffen und wissen nicht, was. Du warst für uns da, ich konnte blind auf dich bauen; nichts fürchtete ich mehr als den heutigen Tag, mir graute vor dem Verlorensein. Doch nun wird mir klar: Du hast mich ja längst schon stark gemacht!
Dein Zauberwort hast du mir verraten, das Stürme und Stürze in Dunkelheit bannt. Die Parole heißt Aufstehen, nicht Untergehen … Und so stoß mich in dieses kalte Wasser, und sieh, wie ich schwimme, neuen Ufern entgegen, bis ich am Ende an deines finde. Denn ich weiß, wir werden uns wiedersehen … irgendwann, wenn kein Leben, kein Tod mehr zwischen uns ist …

EIN HAUCH UND LICHT IN DEINEM GESICHT
Ich fahre auf, atemlos. Etwas hat mich geweckt, ein winziger Laut, ein Hauch nur, so lärmend wie Donner in mir. Der Tag ist vergangen, Glut glimmt im Kamin, vom Fluss dringt nur noch wenig Silber herein. Es schmilzt zu Zwielicht zwischen den Schatten, und ich sehe es erst auf den zweiten Blick: Du bist fort, verstohlen hast du dich aufgemacht.
Jener Hauch war dein letzter Atemzug? Sein Echo hallt dröhnend in mir wider: ein Gruß zum Abschied, vielleicht ein Versprechen. Du hast gewartet, bis ich endlich schlief – dies war deine Entscheidung, und natürlich passt sie so gut zu dir. Deine Augen halb offen: Ging dein Blick noch einmal aufs Wasser hinaus? Er hat Schönes gesehen, da ist Frieden und Licht in deinem Gesicht.
ES BLEIBT NICHT NUR LEERE, VOR ALLEM VERBUNDENHEIT
Dann trifft mich die Leere. Ich spüre nichts, wie in Zeitlupe werde ich mir dessen gewahr. Es tut gar nicht weh, der Schmerz hält die Luft an, er sammelt Kraft, und ich harre bang seines Keulenschlags. Bitte hilf mir da durch, wenn die Schonfrist um ist. Bitte bleib bei mir, wenn der Schrecken kommt …
Es ist noch Wärme in deinem Leib, und ich drücke mich an dich und atme dich ein. Noch einmal dich spüren! Wo höre ich auf, wo fängst du an? Es hat keine Bedeutung, wir waren nie zwei, sondern immer eins. Doch deine Hülle ist nicht mehr du. Du schwimmst bereits über deinen Fluss, uns anderen wieder einmal voraus. Denn alles fließt, immer, und nichts bleibt, wie es war. So viel gemeinsam erlebt und gefühlt.
Symbiose war unser roter Faden, von dir zu mir, von mir zu dir. Er ist nicht gekappt, ich fühle ihn noch. Kein loses Ende, nur Endlosschleife, wir bleiben verbunden. Du gehst nur voran, und ich fließe dir nach zu meiner Zeit.
ER SCHENKT(E) KRAFT
Kraft flutet an von irgendwoher. Bist das du, der sie schickt? Eine Welt ohne dich muss ich erst neu denken, doch mit einem Mal weiß ich: Ich kann das hier. Es wird dauern, bis die Wunde mit deinem Namen sich schließt. Ich werde dich lange noch atmen hören, wenn nachts das ganze Haus schläft, und im Augenwinkel wird mir dein Schatten ein Schutzengel sein. Was wir hatten, bewahrt eine Welt im Gedächtnis, Orkane und Vögel singen davon.
Es wird nicht sein, als wärest du nie gewesen. Du hinterlässt Spuren. Nichts ist vergessen, und nichts war vergebens. Ich versuche, dich nicht zu sehr zu vermissen, solange ich ohne dich auskommen muss.
Und ich werde erwidern: „Er war mein Herz und er war meine Rettung“, wenn jemals einer es wagt und sagt: „Aber es war doch nur ein Hund.“
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