Fotokollage: Mensch vor Computerdaten.

DIGITAL HEALTH – GESUNDHEITSDATEN ALS WARE

Von kommerziellen Verwertungskreisläufen bis zum digitalen Schicksal: Daten sind die Grundlage für geschäftlichen Erfolg, auch im Gesundheitssektor. In vielen neuen Digital Health-Geschäftsmodellen sollen umfassende Datenmengen der Patienten kommerziell genutzt werden.

Text Thomas Kapitza

Schwarz-Weiß-Bild von Thomas Kapitza.

Thomas Kapitza ist öffentlich bestellter und vereidigter Sach­verständiger im Gesundheits­wesen und leitet das Medicine & Economics Ethics Lab an der Universität Zürich.

Im deutschen Gesundheitssektor herrscht derzeit kein Mangel. Jedenfalls nicht an großen Nutzenversprechen und positiven Marketingerzählungen darüber, wie erkrankte Menschen, Wissenschaft und Gesellschaft von einer möglichst uneingeschränkten Verwendung der Gesundheitsdaten und Versorgungsdaten profitieren würden. Die Eigeninteressen der Protagonisten einer fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitswesens bleiben dabei eher undeutlich oder unbenannt.

Gesundheitsbranche als Sanierungsfall

Der Ton ist gesetzt. Angesichts vieler Nachrichten zu aktuellen Problemen (Fachkräftemangel, Finanzierbarkeitsfragen der Patientenversorgung, besserer Verfügbarkeit von Patientendaten u.v.a.) erscheint die Gesundheitsbranche derzeit wie ein riesiger, dringend Veränderungen benötigender Sanierungsfall. Das kann die Bürger verunsichern, welche sich im Krankheitsfall einer kompetenten und wirksamen Patientenversorgung in Kliniken und Praxen anvertrauen wollen und müssen.

Digitaltechnologien als Erlösungserzählung

In den Diskussionen über zukünftige Lösungsansätze im Gesundheitswesen wird gerne ein technizistisches Narrativ verwendet. Mit Hilfe von geeigneter, scheinbar bereits umfassend verwendungsreifer Technologie, sollen im Gesundheitswesen eine „smarte“ digitaltechnologische Infrastruktur, neue Versorgungsmöglichkeiten und innovative Dienstleistungen entstehen.

Diese „Technologische Erzählung“ weist stets, sozusagen als Grundmotiv aller Beteiligten, auf zukünftig mögliche Qualitätsverbesserungen in der Patientenversorgung hin. Viele Innovationen in den Naturwissenschaften, in der medizinischen Forschung, Medizintechnologie und Arzneimittelforschung erscheinen nun dank neuer technologischer Unterstützung realisierbar.

Das fürsorgliche Versprechen

Diese Forschung ist, wie auch der Aufbau neuer Modellkonzepte eines digitalen Gesundheitsmanagements für die Bevölkerung, eng verbunden mit der Verfügbarkeit von Daten. Menschen sollen bereit sein, ihren Gesundheitszustand digital erfassen zu lassen.

Spezielle Software würde dann, unter Verwendung von Künstliche Intelligenz-basierten Softwaretechnologien, den aktuellen Gesundheitszustand messen, und individuelle Gesundheitseinschätzungen, Therapievorschläge und Prognosen zum zukünftigen persönlichen Gesundheitsstatus berechnen. Darauf beruhend könnten dann spezifische Behandlungs- und Präventionsprogramme als Bestandteil der persönlichen Lebensführung empfohlen werden.

In diesen Konzepten soll mit Daten das fürsorgliche Versprechen erfüllt werden, dass Gesundheit ein steuerungsbedürftiger Zustand sei, in dem Erkrankungen als Gesundheitsstörungen diagnostiziert und vorhersagbar werden, und damit bessere Vermeidungs- oder Heilungschancen entstehen.

Das ökonomische Potenzial dieser neuen Digitalgesundheit-Anwendungen und ihrer Verwertungskreisläufe ist sehr lukrativ, wenn es gelingt, Gesundheit, höhere Lebenserwartungen und damit persönliche Chancen auf optimiertes Lebensglück als glaubhaftes Verkaufsargument bei den Zielgruppen einzusetzen.

Der schöne Apfel hängt am Baum

Der Gesundheitssektor ist sehr datenintensiv, weil viele komplexe Leistungsprozesse der Patientenversorgung umfangreiche Datenmengen erzeugen. Big Data gibt es schon lange im Gesundheitswesen, allerdings waren viele Daten meistens nicht ausreichend verwendbar.

Nun sind neue Technologien wie z.B. Machine Learning, Natural Language Processing, Predictive Analytics u.v.a. bereits industriell verfügbar. Sie können maschinell verwertbare Daten analysieren, erweitern und in unternehmerisch verwertbare Wissensvorsprünge umwandeln.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens erscheint als vielversprechender Lösungsansatz. Durch den Einsatz von Digitaltechnologien könnte nun eine ordnende, weil datenzentrierte Gestaltungskraft in die amorph anmutende Komplexität der Gesundheitsbranche mit ihrem Konvolut an Gesundheitsdaten Einzug halten.

Die beabsichtigte Hebung (gesundheits)ökonomischer Effizienz- und Produktivitätspotenziale wird dabei als zukunftsentscheidend für die finanzielle Absicherung eines bisher überwiegend solidarisch finanzierten Gesundheitssystems deklariert.

  • 3-D-Druck
  • Computersimualtion eines Menschen.

Den Hammer in der Hand

Nicht nur im Gesundheitssektor sind Daten von elementarer Bedeutung als Rohstoff und Betriebsmittel ökonomischer Geschäftsmodelle, mit denen eine Rendite für die getätigten enormen Investitionen erzielt werden soll. Eine Voraussetzung hierfür ist die Verfügbarkeit der vorhandenen Datenmengen im Gesundheitssektor zur Ingangsetzung der Verwertungskreisläufe.

Dazu braucht es bisher in vielen Gesundheitssystemen eine regulatorische und gesellschaftliche Toleranz gegenüber Daten(verwertungs)industrie, unternehmenseigene Datencluster aus allen zugänglichen Datenquellen zu beschaffen oder selbst zu generieren, um diese dann für den eigenen unternehmerischen Erfolg zu verwenden.

Wer einen Hammer in der Hand hält, für den schaut die Welt häufig wie ein Nagel aus. Ausgestattet mit großer finanzieller Potenz sind einige der wertvollsten Digitalunternehmen der westlichen Welt (GAFAM: Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) in den nationalen Gesundheitssystemen vieler Länder aktiv. Es geht geschäftsstrategisch um die bestmögliche Positionierung in einem Billiarden-schweren Zukunftsmarkt.

Geschäftsgebaren und Handlungsbedarf

Industrielle Anbieter haben sich, wie viele andere Unternehmen auch, durch Datenaufkauf, Unternehmensübernahmen und Kooperationen mit öffentlichen Institutionen, bereits erhebliche einschlägige Informationsmengen beschafft. Jetzt zählt eine möglichst schnelle Technologie- und Produktentwicklung, um die Chance zu haben, in Zukunftsmärkten mit eigener Marktmacht aufzutreten und den Wettbewerb im eigenen profitablen Sinn zu bestimmen.

Die Bereitstellung von begehrtem und damit wertvollem Zusatzwissen, datentechnologisch erschaffen aus individuellen Gesundheits- und Versorgungsdaten, ist ein stark expandierender Geschäftszweig, dessen Aktivitäten ethische und gesellschaftliche Folgewirkungen mit sich bringt.

Das Geschäftsverhalten der Unternehmen muss dabei nicht immer kompatibel sein mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Themen wie Datentransparenz/-schutz, Gemeinwohl-Orientierung oder Fairness erscheinen stark regelungsbedürftig.

Das ist gut erkennbar in den aktuellen Anstrengungen der europäischen Legislative (EU Data Act, AIA Artificial Intelligence Act, DSA Digital Service Act, DMA Digital Market Act, GDPR usw.) mit ihren Überlegungen und Begründungen für einen regulatorischen Handlungsbedarf.

Ob sich die wirtschaftlichen Interessengruppen an diesen regulatorischen Feststellungen orientieren werden, bleibt abzuwarten. Der gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Diskurs sollte sich davon unabhängig aber immer an Werten und Prinzipien einer menschenzentrierten Versorgung im Gesundheitssystem ausrichten und verbindlich für alle Akteure sein.

Datengeber und Digitales Schicksal

Es ist bemerkenswert, dass viele Nutzer der marktführenden Web-Browser, von Social Media-Plattformen, Digital Health-Apps oder Smartphones, häufig nur wenig über die dahinter liegenden Geschäftsmodelle der jeweiligen Anbieter wissen. Die Frage, womit diese Unternehmen ihre Umsätze und Gewinne erwirtschaften (wollen), und welche Rolle die Nutzer-Daten dabei spielen, ist bei den Bewohnern der digitalen Lebenswelten kaum präsent. Das gilt auch im Gesundheitssektor.

Bei der wirtschaftlichen Verwertung gesundheitsrelevanter Nutzer-Daten ist es aus Sicht der Unternehmen interessant, neue Erkenntnisse aus der Verknüpfung unterschiedlicher Datencluster zu gewinnen. Dafür könnten beispielsweise Identifikationsdaten (z.B. Genom-Daten, Bürger-Stammdaten), Verhaltensdaten (u.a. Konsumverhalten/-präferenzen, Informationsverhalten, Standort und Bewegungsmuster, soziale Konnektierung) und Gesundheitsdaten (u.a. Quantified-self Datenkränze, elektronische Gesundheitsakten/ Patientenakten, Medikamente- und Heilmittel-Konsum, Forschungsregister- und wissenschaftliche Studiendaten) verwendet werden.

Artz hält Computer.

Das digitale Abbild des Patienten

Durch die Verknüpfung dieser Datenfelder kann u.a. ein gesundheitsbezogenes und ökonomisch verwertbares digitales Abbild eines Menschen erzeugt werden. Konzepte wie Digitale Zwillinge sind längst schon mehr als eine technologische Utopie. In anderen Wirtschaftsbranchen wie im Großanlagenbau, aber auch für Predictive maintenance- Funktionen (Vorausschauende Maschinenwartung) werden Digitale Zwillinge bereits angewendet.

Für die Datengeber, die bewusst oder ungewollt die Nutzungsrechte an ihrem Dateneigentum an kommerzielle Unternehmen im Gesundheitssektor abgegeben haben, ergeben sich vielfältige Fragen. Allein die Anonymisierungs- und Pseudoanonymisierungsargumente in den Datenschutzdebatten können möglicherweise nicht genug Vertrauen erzeugen. Es gibt viele Fragen.

Patienten im Verwertungskreislauf

Sollte es zukünftig legal und legitim sein, dass Patienten und Konsumenten, sortiert nach ihren datenbezogenen Merkmalen, und statistischen Gruppen-Profilen (u.a. Digital Phenotyping) zugeordnet, nicht nur wissenschaftliches Datenobjekt sind, sondern auch zum Bestandteil kommerzieller privatwirtschaftlicher Verwertungskreisläufe werden? Werden die Datengeber in ihrer Rolle als Dateneigentümer einen gerechten Anteil am wirtschaftlichen Nutzen erhalten, der durch die kommerzielle Verwertung ihrer Daten bei den Unternehmen entsteht? Wie können die zukünftigen Effizienzsteigerungen und die neuen Produktivitätszuwächse unter den beteiligten Interessengruppen aufgeteilt werden?

Welche persönlichen Folgen haben solche Analyseergebnisse? Werden Menschen, für die eine algorithmenbasierte hohe rechnerische Wahrscheinlichkeit eines zukünftig versorgungsaufwändigen Erkrankungsrisikos besteht, beim Abschluss von privaten Krankenzusatzversicherungen, privaten Krankenversicherungen, bei langfristigen Kreditfinanzierungen der Geschäftsbanken, oder auch bei Job-Bewerbungen benachteiligt? Ein Blick auf die Verhältnisse im amerikanischen Gesundheitssystem und das Geschäftsverhalten der relevanten Unternehmen kann als Menetekel dienen.

Das ökonomische Machtwissen

Je ausgefeilter es die neuen Datentechnologien ermöglichen werden, wirtschaftlich verwertbare Erkenntnisse aus den Datenmuster der verfügbaren Datenmengen zu erzeugen, umso mehr entsteht ein ökonomisches Machtwissen vor allem bei den kommerziellen Wissensproduzenten, aber auch bei den von ihnen bedienten Servicekunden.

Wird die Möglichkeit der Menschen, über ihre Lebenswege selbst zu entscheiden und dadurch eine Autonomie in ihrer persönlichen Lebensführung zu erhalten, durch die digitaltechnologische Perfektion eines unentrinnbar erscheinenden digitalen Schicksals eingeschränkt? Die Wahrscheinlichkeit eines sich in weiter Zukunft möglicherweise realisierenden Erkrankungsrisikos könnte zum persönlichen Makel für die Gegenwart der betroffenen Person werden.

Es erscheint fraglich, ob es richtig ist, Personen als Individuen auf einen Digitalkatalog von Daten zu reduzieren, dessen profitorientierte (oder auch politische) Verwertung abseits der wissenschaftlichen Forschungsziele einer verbesserten Gesundheitsversorgung stattfinden würde.

Fotos: iStock

 

Sie möchten nichts mehr verpassen? Hier erhalten Sie spannende Nachrichten zu Finanzen und vielen weiteren Themen.