Mensch steht auf einer Leiter

TAPFERES SCHNEIDERLEIN: HERAUSFORDERUNGEN MIT BRAVOUR MEISTERN

Das tapfere Schneiderlein der Gebrüder Grimm besitzt laut Märchen eine ganz besondere Klugheit; diese befähigt es, Herausforderungen zu meistern – und bietet uns viele Anregungen!

Hier erfahren Sie mehr über

  • Selbstbewusstsein
  • Selbstimaginierung
  • Selbsttäuschung

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommu­nikation und ist Autorin.

Drei Schneider machen sich auf den Weg

„Es war einmal eine Prinzessin“ so beginnt das Märchen; sie gab den Freiern, die um ihre Hand warben, ein Rätsel auf. Konnte einer der Bewerber es lösen, würde dieser ihr Ehemann. Sollte der Anwärter auf Ehe und Thron jedoch bei der Lösung scheitern, ließ sie ihn mit Schimpf und Schande vom Hof verjagen. Natürlich hatte noch niemand die richtige Antwort gefunden. Der Hof nahm die jeweiligen Niederlagen indes zum Anlass, sich immer wieder köstlich zu amüsieren.
Unser Schneiderlein hörte von dem Versprechen der Prinzessin, ebenso zwei weitere Schneiderkollegen. Alle drei wollten sich der Lösung des Rätsels stellen und machten sich auf den Weg.

Das Selbstbewusstsein der drei Kandidaten

Von seinem Handwerk verstand unser Schneiderlein nicht viel, er war vielmehr ein Außenseiter, ein „Springinsfeld“. Ganz im Gegensatz zu seinen zwei älteren Kollegen und Mitkandidaten! Sie fanden ihre eigenen Fähigkeiten unschlagbar. Da sie „so manchen feinen Stich“ erfolgreich ausgeführt hatten, also erfahrene, angesehene Schneider waren, hielten sie sich für fähig, ja berufen, die Prüfung der Prinzessin bravourös zu bestehen.
Ihr Selbstbewusstsein speiste sich also aus ihrem beruflichen Erfolg. Das Schneiderlein war ihnen, so ihre Überzeugung, mit „seinem bisschen Verstand“ als beruflicher Looser keinesfalls gewachsen. Unser Schneiderlein rührte das jedoch mitnichten. Er war nämlich ebenso wie seine Mitbewerber felsenfest davon überzeugt, Glück zu haben und das Rätsel als Prüfung erfolgreich zu lösen.
Frohen Mutes, selbstbewusst und siegessicher machten sich die drei auf den Weg, allen voran unser Titelheld; er war beschwingt und bester Laune:
„Er ging dahin, als wäre die ganze Welt sein.“
Welch ungebrochenes Selbstbewusstsein! Woher er es nahm, wird sich noch zeigen.

Die zu bestehende Prüfungsaufgabe

Die drei Kandidaten meldeten sich bei der Wache der Prinzessin, die sie schließlich zu ihr ließen. Es sprachen zuerst die zwei älteren Schneider vor. Sie verlangten ohne Umschweife, das Rätsel zu erfahren. Selbstbewusst präsentierten sie sich als „die rechten Leute“ mit „feinem Verstand“; sie seien deshalb in der Lage, ebenso fokussiert zu denken wie sie den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen verstünden.
Die Prüfungsfrage der Prinzessin lautete: „Ich habe zweierlei Haar auf meinem Kopf, von was für Farben ist das?“
Der erste Kandidat meinte siegessicher: „Es wird schwarz und weiß sein wie das Tuch, das man Kümmel und Salz nennt.“
Der zweite meinte: „Ist’s nicht schwarz und weiß, so ist’s braun und rot wie meines Herrn Vaters Bratenrock.“
Urteil: Beide falsch!

Die Antworten unter der Lupe

Die beiden Kollegen der Schneiderzunft, die aufgrund ihrer Professionalität als angesehene Schneider siegessicher antworteten, gingen von ihrem eigenen Erfahrungshorizont aus. Der eine hatte das ihm bekannte weiß-schwarze Tuch aus dem Bereich der Küche im Blick, der andere den braun-roten Rock seines Vaters. Sie dachten überhaupt nicht daran, was das Umfeld der Prinzessin kennzeichnen könnte.
Vielmehr war ihr Gedankenradius auf die eigene Erlebniswelt beschränkt. Ihre Antworten stammten deshalb aus einem engen Blickwinkel. Dieser nährte zwar ungebrochen ihr Selbstbewusstsein, verließ jedoch nicht den Rahmen ihrer unmittelbaren Anschauung.

Frau zeigt in einem Spiegel auf sich selbst

Die erfolgreiche Antwort von unserem Schneiderlein

Die Prinzessin gab dem Schneiderlein nach dem Scheitern seiner beiden älteren Kollegen einen Bonus: „Der dritte antworte, dem seh‘ ich‘s an, der weiß es sicherlich.“ Der trat „keck hervor“ und wusste gleich die Lösung:
„Die Prinzessin hat ein silbernes und ein goldenes Haar auf dem Kopf, und das sind die zweierlei Farben.“
Bingo! Richtig! Doch wie hatte es die richtige Antwort herausgefunden?

Darüber steht nichts explizit im Märchen. Aber aus der kurzen Charakterisierung des Schneiders ist zu entnehmen, dass er über die Kombination von Selbstbewusstsein und Leichtigkeit verfügt. Er ist zwar beruflich nicht erfolgreich, hat jedoch als Springinsfeld einen weiteren Erfahrungshorizont als seine beiden älteren Kollegen. Dieser erlaubt ihm, zumindest mental in das Lebensumfeld der Prinzessin einzutauchen und es wahrzunehmen.
Wo Luxus ist, da ist Silber und Gold, die beiden edelsten Metalle, die zudem der Eitelkeit schmeicheln.
Was sonst könnte auf ihrem königlichen Haar glänzen?

Eine neue Herausforderung für unser Schneiderlein

Die beiden Kontrahenten bei der Bewerbung um die Hand der Prinzessin waren besiegt, doch die Prinzessin wollte sich noch nicht geschlagen geben. Entgegen ihrer ursprünglichen Zusage, den Sieger gleich heiraten zu wollen, verlangt sie nun das Bestehen einer weiteren Prüfung. Der Schneider soll bei dem Bären die Nacht zubringen, der für seine unnachgiebige Angriffslust bekannt war. Bislang hatte er noch niemand lebendig aus seinen Fängen gelassen, „der ihm unter die Tatzen gekommen war“.

Doch unser Schneiderlein war auch diesmal wieder allerbesten Mutes und sprach: „Frisch gewagt, ist halb gewonnen.“
Natürlich wollte der Bär sogleich auf ihn losgehen, doch unser Titelheld bewahrte seine Ruhe. Genüsslich fing er an, seinen Sack Nüsse aus seiner Tasche herauszuholen und sie zu verspeisen. Der Bär wurde neugierig, schließlich nur noch gierig. Er wollte auch Nüsse essen! Unser Schneiderlein reichte ihm eine Handvoll aus seiner Tasche – doch es waren gar keine Nüsse, sondern Wackersteine!
Natürlich gelang es dem Bären nicht, das zu knacken, was er für Nüsse hielt. Jetzt hatte unser Schneiderlein die Oberhand.

Opfer und Täter in vertauschten Rollen

Nun war der Bär der Bittsteller, der das Schneiderlein um den Gefallen bat, seine Lust auf die Nüsse zufrieden zu stellen. Natürlich kostete das kluge Schneiderlein diese Situation voll aus; er ließ sich immer wieder bitten, die Nüsse zu knacken. Sich selbst hat er Nüsse in den Mund gesteckt, dem Bären ausschließlich Wackersteine gereicht.
Schließlich attackierte er den Bären verbal:
„Da siehst du, was du für ein Kerl bist, hast so ein großes Maul und kannst die kleine Nuss nicht aufbeißen.“
So oft es der Bär auch versuchte, er biss sich daran – nur bildlich gesprochen? – die Zähne aus. Es gelang ihm nicht. Keine Chance! Diese List war zwar zunächst erfolgreich, doch die vom Bären ausgehende Gefahr noch nicht gebannt.

Jemand läuft über ein Seil vor einer Bergkulisse

Die Kunst der Verführung anwenden

Als nächstes fängt unser Schneiderlein an, die Violine zu spielen, die er unter seinem Rock immer mit sich trug. Der Bär greift nun beschwingt die Musik auf und beginnt zu tanzen; nach einer Weile ist die Neugier des Bären erneut angestachelt. Er will wissen, ob es denn schwer sei, die Violine zu spielen. „Kinderleicht,“ ist die Antwort, und es folgen genaue, froh gestimmte Anweisungen. Der Bär ist entzückt und möchte auf der Stelle das Geigen erlernen, um im Schwung der Musik seine Tanzlust auszuleben. Unser Schneiderlein solle ihm Unterricht erteilen.

Nichts lieber als das! Doch dazu müsse der Bär einwilligen, sich die langen Krallen an seinen Tatzen kürzen zu lassen, sie seien für das Geigenspiel hinderlich. Dem Bären leuchtete dies ein. Also holt sein Lehrer in spe einen Schraubstock herbei, um die Tatzen hiermit zu fixieren, was alsbald geschieht. Die Schere braucht er nicht mehr zu holen, das Ziel ist erreicht. Der Bär kann ihn nicht mehr angreifen. Um dessen protestierendes Brummen und Zetern kümmert er sich nicht weiter. Er legt sich auf ein Bündel Stroh und schläft tief und fest ein.

Auch seine zweite Prüfung hat er mit Bravour bestanden!

Die listige Abwehr einer boshaften Attacke

Die Prinzessin war sich sicher, wie immer den siegreichen Bären vorzufinden, so dass sich die zugesagte Heirat hiermit von selbst erledigt hätte. Zu ihrem großen Erstaunen, ja Entsetzen fand sie das kluge Schneiderlein lebend vor, der vom guten Schlaf bestens gelaunt und ausgeruht war. Der laufunfähige Bär hingegen jammerte im Zwingstock. Hiermit war klar: es gab für sie kein Entkommen, die Hochzeit war unausweichlich.

Sie fand kurz darauf tatsächlich statt. Doch die beiden älteren Schneider, die bei der Prüfung der Prinzessin durchgefallen waren, hatten „ein falsches Herz“; sie missgönnten ihm, dem glücklichen Gewinner und nun Ehemann der Prinzessin, seinen Erfolg. Neid und Missgunst lassen grüßen! Was taten sie? Sie schraubten den Bären los, der voller aufgestauter Wut dem Wagen des Hochzeitpaares mit eindeutigen Absichten hinterherrannte.

Was machte unser Schneiderlein? Er stellte sich auf den Kopf, streckte die Beine zum Fenster raus und schrie:
„Siehst du den Schraubstock? Wenn du nicht gehst, so sollst du wieder hinein.“
Der Bär drehte bei diesem Anblick um und trollte sich. Der Wagen unseres Paares setzte in aller Ruhe seine Fahrt fort.

Die Besonderheit der List

Diese letzte List hat es in sich, denn sie ist an manipulativer Raffinesse kaum zu überbieten. Schauen wir sie genauer an:
Der Bär war in seinem Schraubstock schmerzhaft zur Bewegungslosigkeit verdammt. Dann wurde er freigelassen und wollte seine Wut an seinem Peiniger auslassen. Unser Schneiderlein zeigt ihm seine eigenen Beine; durch dieses Bild ruft er im Bären die Erinnerung an seine Gefangenschaft wach. Darüber hinaus droht er ihm, erneut die schon bekannten, schrecklichen Qualen erleiden zu müssen, falls er sich nicht verzieht.
Die Kombination aus Wachrufen der Erinnerung und Angst einflößender Bedrohung wirken sofort. Die Wut kippt in Angst. Der Bär ist endgültig besiegt.

Mann mit einer Zigarette

Die Klugheit von unserem Schneiderlein

Seine Klugheit hat verschiedene Aspekte, die zum Nachdenken anregen.
Zum einen ist er in der Lage, die Befindlichkeit und das Gedankenschema der prüfenden Prinzessin zu erkennen, um so ihr Rätsel zu lösen; zum anderen unterwirft er den Bären, der gemeinhin als Aggressor siegt.

Er packt ihn bei seiner Verführbarkeit, indem er seine (Neu-)Gier weckt, einheizt und ausnutzt.

Schließlich wendet er eine raffinierte psychologische Technik an, den Bären durch assoziatives Hervorrufen der Erinnerung an seine schreckliche Lage zum Rückzug zu bewegen. Dessen Wut wandelt sich in Angst.
Woher unser Schneiderlein seine Klugheit hat?

Es ist sicher eine Kombination aus Selbstsicherheit, vielfältiger Erfahrung als Springinsfeld, sozialer Kompetenz und der Fähigkeit, Stärken und Schwächen seines Gegenübers zu erkennen, um sie für sich zu nutzen.

Ja, es ist eine listige Klugheit. Er schadet jedoch nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen. Vielmehr weist er diejenigen in die Schranken, die allzu selbstherrlich in ihrer gewohnten Komfortzone verharren. Ein Springinsfeld springt eben gerne ins Feld und setzt sich Unbekanntem freudig, mutig und voller Zuversicht aus.

Die Klugheit hilft ihm, ungewohnte Situationen zu meistern. Perspektivenwechsel, achtsame und wachsame Beobachtung, Erkunden von Neuem, Finden ungewöhnlicher Lösungen, bei sich sein – dazu regt das Märchen an. Kreativität entsteht aus Offenheit und Weite, die vom Standpunkt des Beobachtens aus erkennen und handeln lässt.

Aus der eigenen Mitte heraus leben, das meint, An- und Übergriffe erkennen, Entsprechendes unternehmen, frohgemut und voller Zuversicht im Hier und Jetzt sein.

Die Anwendung der List für sich selbst

Die Kombination von Bildassoziationen und Wachrufen von Emotionen durch Worte können wir als List auch anwenden, wenn es um Wohlfühleffekte geht.

Wie die bekannte Kommunikationsforscherin und -trainerin Vera Birkenbihl betonte, können wir uns selbst überlisten, indem wir die Kraft von Vorstellungen als Selbstimaginierung nutzen.

Unser Nervensystem, Gehirn und Unbewusstes unterscheiden nicht zwischen mentaler Vorstellungswelt und realen Gegebenheiten.

Dies können wir uns zur Erschaffung von beruhigenden, glücklich machenden Gefühlen zunutze machen. Es ist eine Art von „listiger Selbsttäuschung“; sie stärkt unser Immunsystem und macht uns resilienter. Besonders geeignet ist sie, unser Bild von dem, was wir als „real“ wahrnehmen, zu relativieren. Daraus entsteht ein Zustand der Ruhe, der dann einen entspannten Blick nach innen und außen ermöglicht. Einfach ausprobieren!

Fotos: iStock, Unsplash / Taylor Hernandez, Armand Khoury

 

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