Frau mit blauen Haaren zwischen bunten Blumen

„DAS KLUGE GRETEL“

Wie lassen sich Selbstfürsorge und Klugheit miteinander verbinden? Ab wann ist Klugheit eine Strategie, es sich so gut wie möglich gehen zu lassen? Und wird Klugheit zur Verschlagenheit, aus der Schaden entsteht?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Maßvolle Selbstfürsorge
  • Triebhafte Gier
  • Manipulation

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommu­nikation und ist Autorin.

Die Art der Selbstfürsorge

Wenn wir unter „Selbstfürsorge“ die Fähigkeit verstehen, gut für sich selbst zu sorgen, dann ist „das kluge Gretel“ aus dem Märchen der Gebrüder Grimm ein leuchtendes Beispiel dafür; allerdings bewerkstelligt sie das doch nicht so ganz mit noch zugelassenen Mitteln, worauf der neutrale Artikel „das“ Gretel hinweist.

Selbstfürsorge zum Schaden anderer Menschen überschreitet die Grenzen des Tolerierbaren. Und die Klugheit steht dann im Dienst der Vorteilnahme für sich selbst, wenn sie narzisstische Energien in sich birgt – in welcher Hinsicht, das werden wir noch sehen. Aber zunächst ist festzuhalten: Unser Gretel handelt stets überlegt und ist um keine Rechtfertigung ihrer Handlungen verlegen.

Selbstbewusstsein als Grundlage der Selbstfürsorge

Schon der erste Satz des Märchens lässt ein hohes Maß an Selbstbewusstsein erkennen – oder ist es narzisstische Selbstverliebtheit?
„Es war eine Köchin, die hieß Gretel, die trug Schuhe mit roten Absätzen, und wenn sie damit ausging, so drehte sie sich hin und her, war ganz fröhlich und dachte: ‘du bist doch ein schönes Mädel‘.“

Auf diese suggestive Weise wohl gestimmt gönnte sie sich stets einen guten Schluck Wein, der wohl noch ihre Fröhlichkeit erhöhte, und weil der Wein „auch Lust zum Essen macht, so versuchte sie stets das Beste, was sie kochte, so lang, bis sie satt war, und sprach ‚die Köchin muss wissen, wies Essen schmeckt‘.“

Ihre Selbstfürsorge bezieht sich also auf das Basisbedürfnis des Essens und Trinkens, wobei sie es sich selbst wert ist, sich das Beste davon einzuverleiben. Zudem weiß sie sich offensichtlich attraktiv zurecht zu machen, wenn sie ausgeht. Kein Heimchen am Herd, ganz im Gegenteil! In ihrer Selbstwahrnehmung ist sie so etwas wie eine gut genährte „grande dame“.

Gretel als selbstbewusste Köchin ihres Herrn

Eines Tages erwartet ihr Herr und Arbeitgeber einen Gast, weshalb er Gretel auffordert, zwei Hühner zu einer köstlichen Speise zu verarbeiten. Das tut sie auch mit den ehrerbietigen Worten „Wills schon machen, Herr“. Solange die Hühner so knusprig goldgelb gebraten und noch saftig sind, sollen sie doch bitte gleich gegessen werden, bescheidet sie ihrem Herrn. Er versteht dies als Aufforderung, den Gast zu holen und macht sich flugs auf den Weg. Eine sehr geschickte Art und Weise, die klar werden lässt, wer hier das Sagen hat.

Was dann geschieht, können Sie sich denken, doch wie es geschieht, ist bemerkenswert:
Gretel befindet, dass sie die Hitze des Feuers, mit denen die gebratenen Hühnchen warmgehalten werden, durstig macht; überhaupt, „wer weiß, wann die kommen“. Also geht sie in den Keller zum Weinfass und spricht sich selbst zu: „Gott gesegnes dir, Gretel“. Sogleich nimmt sie einen kräftigen Schluck, ja mindestens zwei, denn „der Wein hängt aneinander“. Das leuchtet ihr, wenn nicht auch dem heutigen Leser, ein. Logisch! Ein Schluck allein, nein. Mehrere Schlücke, das mag – der Wein!

Die Dynamik der ersten Ausreden

Natürlich duften die Hühnchen am Spieß köstlich und Gretel befindet, dass es eine „Sünde und Schande wäre“, sie nicht gleich zu essen. Da ihr Herr samt Gast noch nicht in Sicht sind, denkt sie, es sei besser, einen Flügel sofort zu verzehren, solange sie noch nicht verbrannt sind. So gedacht, so getan.
Doch dann kommt ihr der Verdacht, der Herr könnte die Asymmetrie bemerken und ist sich sicher, nur durch Verspeisen des anderen Flügels die Symmetrie wieder herstellen zu können. So gedacht, so getan.
Als die beiden noch immer nicht in Sicht sind, startet sie eine Aktion zur Rettung der „guten Gottesgabe“, indem sie sich – nach einem kräftigen Schluck aus dem Weinkrug – das ganze Hühnchen schmecken lässt. „Wenns all ist, hast du Ruhe“, sagt sie zu sich selbst; wie ein Gebet spricht sie sich vorher Mut zu. „Hei, Gretel, sei guter Dinge…“ und „aß das eine Huhn in aller Freudigkeit auf.“

UNgewöhnlich geschminkte Frauen umgeben von bunten Bällen

Die Dynamiken der Ausreden als Selbstläufer

Einmal in der Dynamik der Ausreden befangen, dreht sich die Spirale immer weiter. Mit bemerkenswerter Kreativität rechtfertigt sie in Selbstgesprächen, dass schließlich die beiden Hühner auch in ihrem Magen zusammengehören, denn „was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.“ Mit Einwilligung der Hühner, versteht sich, und natürlich nach einem weiteren kräftigen Schluck aus dem Weinfass „ließ sie das zweite Huhn wieder zum anderen laufen“. Logisch, die beiden Hühner fühlen sich erst gemeinsam wohl – in ihrem Magen.

Die „Selbstfürsorge“ artet also in eine wohlschmeckende Mahlzeit aus, die eigentlich für ihren Herrn und dessen Gast gedacht war, für die sie gekocht hat. Die Rechtfertigung im Selbstgespräch hat ihre eigene Logik, die sie ganz selbstverständlich zu ihrem Vorteil anwendet. Von Selbstkritik, schlechtem Gewissen oder Skrupel keine Spur. Auch nicht von der Tatsache, dass sie ihrem Herrn und seinem Gast Schaden zufügt. Zudem oder gerade deshalb ist sie völlig angstfrei.

Klugheit als List

Bislang bestand ihre „Klugheit“ darin, vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie sich die köstliche Mahlzeit gönnt, ja gönnen muss. Ein von ihr gut zubereitetes Essen verkommen zu lassen, das geht gar nicht. Es wäre nicht nur eine Sünde, sondern würde auch einer, nämlich ihrer, Logik widersprechen. Diese hält sie für den Umständen geschuldet.

Des Weiteren heckt sie eine List aus, die es ihr erlaubt, auch dann noch die Oberhand zu behalten – mehr noch, als Herrin des Geschehens aufzutreten, wenn sich Folgendes ereignet:

Der Herr und sein Gast kamen schließlich zu Hause an. Der Herr rannte vor, um sich bei Gretel zu vergewissern, dass die Mahlzeit bereit sei; der Gast kam etwas später nach. Ihrem Herrn versicherte sie artig, sie wolle das Essen „schon zurichten.“ Der Gast „klopfte sittlich und höflich an der Haustüre an.“ Was dann geschah, verschlägt wohl auch dem heutigen Leser die Sprache.

Sie wetzte die Messer im Gang, tat so, als sei dies für die Zubereitung der Hühnchen, rannte zum Gast und sagte ihm, den Finger an den Mund haltend:
„Still, still! Macht geschwind, dass Ihr wieder fortkommt, wenn Euch mein Herr erwischt, so seid Ihr unglücklich.“ Sie fährt fort, ihr Herr wolle ihm seine beiden Ohren abschneiden! Dies sei die Ursache für das Geräusch des Wetzens der Messer….

Die Dynamik der List

Sie erzeugt also eine panische Angst beim Gast – und ist damit erfolgreich. Dieser rennt davon, so schnell er kann. Doch Gretels List geht weiter.

Ihren Herrn beschuldigt sie, da habe er sich „einen schönen Gast eingeladen.“ Ja, denn der Gast hätte ihr die zwei Hühnchen von der Schüssel genommen und sei damit fortgelaufen. Ihr Herr glaubt ihr aufs Wort und beklagt lediglich, dass er ihm doch wenigstens eines der Hühnchen hätte lassen können, damit „mir was zu essen geblieben wäre.“ Schließlich rennt er mit dem Messer in der Hand hinter dem Gast her und schreit: „Nur eins, nur eins!“.

Er meint das Hühnchen, der Gast aber versteht: nur ein Ohr. Ein kommunikatives Missverständnis, das „klüger“ nicht hätte eingefädelt werden können! Beide denken aus ihrer Perspektive heraus; beide haben das Nachsehen. Der Herr bekommt nichts von der Mahlzeit und der Gast „lief, als wenn Feuer unter ihm brennte“, denn er wollte seine beiden Ohren behalten.

Und als lachende Dritte hatte sich das Gretel den Bauch genüsslich vollgeschlagen.

  • Mensch trägt eine große rosa Maske
  • Frau zwischen farbigen Luftballons

Die Moral von der Geschicht‘

Die Klugheit von Gretel besteht darin, so zu denken und zu handeln, dass sie nur für sich sorgt. Mehr noch: Ihren Egoismus, ja Narzissmus versteht sie hervorragend zu verstecken, indem sie Angst verbreitet, Behauptungen aufstellt und die möglichen Entdecker ihrer List ins Messer laufen lässt. Es sind also Strategien, die sie perfekt ausgebildet hat. Grundlage ist ihr klares Weltbild: Ich zuerst!

Mehr noch als Strategien sind es Manipulationstechniken, die auch heute noch gültig sind – wenn auch in verfeinerter Form. Ein Mensch, der so agiert, dürfte nur schwer Argumenten zugänglich sein, die an ethische Normen zum Wohle der Gemeinschaft appellieren. Gut eineinhalb Jahrhunderte später sind vergleichbare Verhaltensweisen nicht nur leicht ausfindig zu machen, sie werden durchaus als „klug“ im Sinne von listig, pfiffig und geschickt angesehen.

Klugheit im Dienste des narzisstischen Egos

„Das kluge Gretel“ denkt, argumentiert und handelt eindeutig gemäß einer „Klugheit“, die „Verschlagenheit, Bauernschläue, Hinterlist, Gerissenheit“ enthält. Das Wesensmerkmal dieser so genannten Klugheit ist die narzisstische Eloquenz und das listige Handeln. Dazu gesellen sich Skrupellosigkeit und maßlose Selbstfürsorge, die in ein Suchtverhalten ausgeartet ist.

Dahinter ist zweifellos der Wille vorhanden, aus ihrer sozialen Situation der Köchin mehr zu machen. Sie gönnt sich all das, was ihr eigentlich nicht vergönnt ist. Auf sie trifft in vollem Umfang der auch heute noch gängige Spruch zu: „Man gönnt sich ja sonst nichts.“

Diese Art von Klugheit schaut in ihrer extremen Ausprägung nur auf sich selbst und ist triebgesteuert. Die Argumente zur Rechtfertigung folgen den Bedürfnissen, die den Verstand und die Vernunft als abwägende Kontrollinstanz überrumpeln, ja gänzlich ausschalten. Genau diese Dynamik zeigt uns das Märchen sehr anschaulich.

Klugheit als ethisch motiviertes Handeln

Von dieser Art Klugheit völlig zu unterscheiden ist die Klugheit, die schon antike Philosophen als eine Tugend ansahen. Sie beruht auf ethischen Prinzipien, zu denen Selbsterkenntnis, Besonnenheit, das rechte Maß, Abwägen von Folgen des Handelns und Umsicht gehören. Wenn Klugheit mit Verstand und Vernunft kombiniert wird, wirkt sich dies in einer Haltung aus, die das gesamte Umfeld im Blick hat.

Es herrschen dann nicht ausschließlich „meine Bedürfnisse“ vor, die ich rücksichtslos durchsetze; vielmehr ist der Fokus auf ein größeres Ganzes gerichtet, das ein „Wir“ miteinbezieht. Während die listige Klugheit eindimensional ausgerichtet ist, zeichnet sich die Klugheit im Sinne der Besonnenheit, ja Weisheit, als eine Fähigkeit aus, Zusammenhänge zu erkennen und kombinatorisch miteinander zu verbinden. Das daraus abgeleitete Handeln ist dann ein Ergebnis von Abwägungen, Überlegungen und Möglichkeiten, Veränderungen vorzunehmen.

Natürlich ist unsere Gretel weit davon entfernt!

Eine Frau umgeben von Herz Luftballons

Glaub nicht alles, was dir erzählt wird!

Einerseits ist „das kluge Gretel“ im Sinne der egoistisch motivierten Verschlagenheit klug, auf der anderen Seite hat sie es mit zwei gutgläubigen Herren zu tun, die auf ihre Art der Klugheit hereinfallen. Sie lassen sich Angst machen, reagieren panisch – und haben das Nachsehen. Vielleicht sind sie einfach auf ihre Überlegenheit als der Herr und dessen Gast fixiert, auf die bestehende Hierarchie als gesellschaftlich vorgegebene Ordnung, die von der Köchin Gehorsam verlangt.

Es kommt ihnen daher nicht in den Sinn, dass die erwartete Einhaltung der Normen einer standesgesellschaftlichen Orientierung auch Raum für Betrügereien, selbstständige bis selbstherrliche Aktionen geradezu herausfordert. Welche Chance hatte eine Köchin, „grande dame“ zu sein? Nun, Gretel hat es perfekt arrangiert. Doch zum Erfolg der „Klugheit“ gehören zwei Parteien: die kluge und die andere, die in einem engen Weltbild verhaftet ist.

Achtsamkeit ist gefragt

So ist die eigentliche „Moral von der Geschicht“ eine doppelte: Sei achtsam, welches Selbstbild du inszenierst, und sei achtsam, welcher Form der Klugheit andere Menschen verpflichtet sind. Diese Achtsamkeit ist die Basis, ehrlich mit sich und anderen umzugehen. Dann öffnet sich das Tor zu einer ethisch begründeten Gemeinschaft.

Fotos: Adobe Stock

 

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