AUF DER SUCHE NACH DEM ICH IM WIR
Was ist wichtiger, der Einzelne oder „die Gesellschaft“? Und wer profitiert von wem? Vom Widerstreit zwischen Individuum und Kollektiv.
Hier erfahren Sie mehr über
- In- und Outsider
- Rollen jedes Einzelnen
- Spielerische Koexistenzräume
Text Giò von Beust
Giò von Beust ist Visionär, Künstler und Aktivist. Als Banker, Volljurist und Berater schöpft er aus der Berufs- und Lebenserfahrung als Autor, Übersetzer, Unternehmer, Buchverleger und Weltreisen-
der; sein Denken kreist um die Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.
„Willst du schnell vorankommen, gehe allein, willst du weit kommen, gehe gemeinsam.“
Dieses eher abgedroschene und in jedem Kirchenarbeitskreis als Handlungsmaxime ausgegebene Sprichwort aus dem Gedankenkreis der afrikanischen Ubuntu-Philosophie bildet das Framing für den immerwährenden Diskurs um die Rolle des Einzelnen, des Individuums, im gesellschaftlichen Zusammenhang.
Das fängt schon im Kindergarten an, wenn Karlchen bedeutet wird, er solle nicht so egoistisch sein, Spielzeug teilen, aufräumen, sich in Reih und Glied stellen und mitsingen. Selbst die Rotznase darf er sich nicht aus Eigennutz, sondern soll er sich zum ästhetischen Wohlbefinden der anderen putzen.
Die menschlichen Gemeinschaften, ob Familie, Stamm oder Nation, fordern seit jeher von ihren Mitgliedern jedweden Alters und jedweder individuellen Anlage die Einordnung in die Gruppe und Beachtung der dort vorherrschenden, meist übernommenen und in der Vergangenheit erprobten Verhaltensregeln.
Im Ursprung machte das durchaus Sinn und hatte vor allem Überlebensgründe – der schnell allein Vorauseilende hatte in der Savanne erheblich weniger Überlebenschancen als mit der Gruppe. Im Schnee der Alpen musste auch Ötzi diese Erfahrung machen.
Das Ballon-Experiment
Das folgende, oftmals erzählte Experiment einer Universität scheint die Vorteile gemeinschaftlicher Lösungsansätze ebenfalls zu bestätigen:
Die teilnehmenden Studierenden erhielten jeweils einen gleichfarbigen Luftballon ausgehändigt, mit der Aufgabe, diesen aufzublasen, mit dem eigenen Namen zu beschriften und ihn dann von der Balustrade der Aula in den Innenhof zu werfen.
Dort wurden die Ballons dann von den wissenschaftlichen Mitarbeitenden durchgemischt, woraufhin den Studierenden fünf Minuten Zeit gegeben wurde, den eigenen Ballon in der Menge ausfindig zu machen. Es gelang jedoch niemandem, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und in dem hektischen Durcheinander, den eigenen Ballon wiederzufinden.
Nach einer kleinen Pause der Beruhigung änderten die Leiter des Experiments die Aufgabenstellung. Nun sollten die Studierenden den nächstbesten Ballon aufnehmen und die Person suchen, deren Name darauf stand. Und klar: Innerhalb von fünf Minuten hielten alle Teilnehmenden ihren eigenen Ballon wieder in der Hand!
Besser zusammen als allein
Was sagt uns diese Geschichte?
Klassischerweise lautet die Interpretation dieses Ergebnisses und der Umrichtung der Herangehensweise an die Problemlösung, den einzelnen Ballon als die Verkörperung eines erstrebenswerten Ziels zu sehen, das allein zu erreichen aussichtslos ist, zum Beispiel in der Kalenderspruchvariante:
„Diese Ballons sind wie das Glück. Das Glück allein für sich selbst zu suchen, kann nicht gelingen. Wenn man aber nicht auf das eigene Glück bedacht ist, sondern auf das der anderen, findet man gleichzeitig auch sein eigenes.“
Doch in dieser Versuchsanordnung oder in dem Ansatz der Problemlösung steckt auch ein interessanter – organischer, systemischer, thermodynamischer – Aspekt. Nämlich, dass hier das Individuelle, das Einzelne, also die Zuordnung eines definierten Ballons zu einer bestimmten Person, aus dem Zusammenwirken der Gemeinschaft wieder hergestellt wird, ein syntroper Vorgang sozusagen; während sich zuvor die bestehende Zuordnung aufgelöst hatte und durch individuelle Maßnahmen nicht wieder herstellbar war. Der Informationsverlust war zu groß, die Entropie nicht reversibel.
Huhn oder Ei oder was?
Aber, wie der geneigte Leser bemerkt haben wird: In dem „Experiment“ geht es im Kern natürlich gar nicht um die Frage, ob allein oder zusammen handeln bessere Ergebnisse bringt, und auch nicht darum, ob egoistisches Handeln oder altruistisches Handeln größere Vorteile bringt, sondern einfach nur darum, welche Strategie in diesem speziellen Fall das schnellste und effektivste Ergebnis bringt, nämlich die Ballons zu den ursprünglichen Besitzern zurückzubringen.
Das Experiment ist jedoch ein gutes Beispiel dafür, wie durch Hinzudichtung ein simpler Vorgang so dargestellt werden kann, dass er eine individuell/gemeinschaftliche oder egoistisch/altruistische Färbung bekommt. Diese Unschärfe ist auch in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen immer wieder feststellbar, wenn Äpfel mit Birnen verglichen werden, um dem Kollektiv oder dem Individuum Vorrang einzuräumen, wenn individuelle Freiheit zum Beispiel als Egoismus ausgelegt wird.
Wir haben es auch nicht mit einem Huhn- oder Ei-Problem zu tun, nach dem Motto: am Anfang war die Horde, die Gemeinschaft, die sich zu Individuen ausdifferenziert hat oder andersrum:
Am Anfang war das Individuum, das sich zur Gemeinschaft zusammengetan hat. Das Problem Individuum vs. Kollektiv ist komplexer.
Einzeller und Mehrzeller
Vielleicht bietet die Biologie einen Verständnisrahmen. Lebendige Systeme, und ein solches ist der Mensch, haben die Tendenz, aus einer Vielzahl von getrennten Einzelteilen komplexere Einheiten mit eigener Identität zu erschaffen, die mehr sind als nur die Summe der Einzelteile – aus Atomen Moleküle aus Molekülen Zellen, aus Zellen Mehrzeller, aus Mehrzellern Organe, aus Organen Menschen zum Beispiel.
Die Multitude erschafft das Einzelne, Individuelle. Dieser Prozess geht so weit, dass ein Mensch am Ende ein extrem individualisiertes Produkt, eine Singularität ist – man denke allein an den Fingerabdruck und die Augeniris – und natürlich auch die Komposition des Körpersystems selbst aus Zellen, Bakterien usw., die nur jeweils einmal existiert auf dem Planeten. Diese Tendenz setzt sich auch im Prozess der psychischen Individuation fort, den C.G. Jung beschrieben hat.
Interessant ist nun, dass die sozialen Systeme, in denen sich der Mensch organisiert hat, diesen Vorgang der Individualisierung sozusagen umrichten und nach der Multitude, nach der Gemeinschaft streben. In der biologisch gewollten Singularität und Individualität des Einzelnen lauert, so die Annahme, eine potenziell zerstörerische Gefahr für das gemeinschaftliche Gebilde, weshalb individuelle Besonderheiten durch allerlei soziale und erzieherische Maßnahmen, durch Beschwörung von Gruppenzielen, durch Stigmatisierung und Ausgrenzung des abweichenden Einzelnen möglichst weggehobelt, „entindividualisiert“ werden, damit das Individuum zu einem „guten“ Mitglied der Gemeinschaft wird.
Auf diesen interessanten, scheinbar gegenläufigen Prozess kommen wir später noch einmal zurück.
Individualität als ökonomischer Verkaufsschlager
Dieses Paradoxon findet seinen Niederschlag auch im Kult der Pseudo-Individualität in den westlichen Gesellschaften, in denen zum Beispiel die Massenware einer Marke „personalisiert“, bzw. umgemünzt wird in ein Gefühl von Individualität bei den Markenkäufern, der Effekt jedoch zusätzlich ein gemeinschaftlicher ist, weil unter den Markenfans auch ein Gefühl der Gemeinschaftlichkeit erzeugt wird.
Wie in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen auch ist das Streben des Einzelnen nach Freiheit und Individualität paradoxerweise gepaart mit dem Wunsch nach Anerkennung und Aufnahme in das Kollektiv.
Die Verwirtschaftlichung des Lebens in der Postmoderne aber täuscht in der Regel nur vor, dass der individualisierte, personalisierte Konsum einerseits und die persönliche Markenbildung als Subjekt im Wirtschaftsgeschehen andererseits identitätsstiftend sei.
Exemplarisch stehen hierfür die Influencer, die auf Instagram und anderen Socialmedia-Plattformen einer oftmals hunderttausendfachen Voyeursgemeinde rund um die Uhr im Selfie-Modus Selbstgekochtes, Banalerlebnisse, Meinungen, Modetrends oder schlicht mit Produkten dekorierte Körperteile vorführen. Aus dem Subjekt wird hier das Objekt ökonomischer Prozesse.
In der politischen Sphäre sind die populistischen, nationalen, „identitären“ Bewegungen ganz unverblümt bestrebt, das persönliche Identitätsgefühl vom Individuum abzulösen und auf eine „kollektive“ Identität zu projizieren, um eine grobschlächtige Version dann in einem Prozess der Entmündigung an die Subjekte zurückzuspiegeln.
Insider und Outsider zugleich
Zeit, die Begriffe einmal anders zu betrachten.
Kollektivität könnte man als die Summe des Erfahrenen, Bewussten, Geformten, Formulierten und schließlich Gewussten bezeichnen, das sich im Zeitverlauf in Schichten ablagert und immer festere Strukturen bildet. Auf diesen Strukturen aus der Vergangenheit beruht dann die Wahrnehmung der Gegenwart und die Vorhersage der Zukunft.
Individualität hingegen schöpft aus dem Raum des noch nicht Erfahrenen, Unbewussten, Formlosen, im inneren Gewussten und siedelt im Außenseitertum. Individualität strebt jedoch auch nach Verbindung (wie alles und jedes) und wenn es ihr gelingt, sich zu erklären, so dass es von der Kollektivität aufgenommen und verstanden werden kann, tritt etwas Neues auf den Plan, das der Kollektivität eine andere Richtung verleiht und alte Muster auflöst, verblassen lässt.
Wer bin ich … wenn nein, was dann?
Wie man es auch wendet und von allen Seiten betrachtet, eines ist offensichtlich: Individualität und Kollektivität sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind nur scheinbar Gegensätze. Sie sind ein Kennzeichen aller biologischen Systeme, in denen eine Myriade von verschiedenen Einzelteilen zusammenwirken, voneinander abhängig sind und Gesamtheiten bilden, die ihrerseits zusammen wieder zu neuen Gesamtheiten werden.
Es ist also eine Frage, auf welcher Ebene ich die Dinge anschaue und eine Frage der Emergenz, des Umstands also, dass Gesamtheiten immer mehr sind als nur die Summe ihrer Einzelteile. Die „neue“ Gesamtheit, die sich aus Einzelteilen bildet, weist immer auch neue Eigenschaften auf, die in den Einzelteilen nicht vorkommen. Das ist in der Feststoffphysik ebenso wie in der Menschwerdung, das ist ein konstituierendes Element sogar der Raumzeit.
Individualität könnte also als ein Phänomen der Emergenz gesehen werden, das sich sowohl aus einer biologisch-physischen Komposition ergibt als auch aus dem geistigen Humus, welchen die Kollektivität auf dem Boden der Vergangenheit abgelagert hat. Individualität entsteht aus Kollektivität, Kollektivität besteht aus Individualitäten.
Das ist auf eine gewisse Weise befreiend, denn eine von dieser Einsicht getragene Individualität weiß, dass sie lediglich ein emergentes Phänomen aus dem kollektiven Raum, sozusagen kein „Ich“ ist. Gleichmaßen erkennt das Kollektiv, dass es lediglich ein emergentes Phänomen aus einer Vielzahl von Individualitäten ist, sozusagen kein „Wir“ ist.
Ein Bewusstsein und ein gesellschaftliches Übereinkommen, das das Ich auf ein „Nicht-Ich“ relativiert und das Wir auf ein „Nicht-Wir“, würde neue, kreative und spielerische Koexistenzräume für das Einzelne und das Gesamte eröffnen.
Fotos: iStock, Unsplash / Josh Calabrese