IM TRAUM DAS LICHT
Träume können mächtig und luzide sein, wie dieser in einer Rauhnacht: Erst Dunkelheit und Eiseskälte, dann führt ein Lichtfunken die Träumende zu ihrem verlorenen, inneren Kind…
Hier erfahren Sie mehr über
- Fesselnde Träume
- Aufbrechendes Unterbewusstsein
- Eine traumhafte Entdeckung
Text Kat Schuetz
Kat Schuetz lebt in München und Sarasota, Florida. Sie ist Mitgründerin des Sarasota Art Museums und verfasste die Biografie über den New Yorker Künstler Geoffrey Hendricks „Himmel über Fluxus“ sowie die „Know Thyself. Heal Thyself.“-Buchserie.
Schon als Kind liebte ich es, mich in Träumen zu verlieren und mich der Mystik der Dunkelheit hinzugeben. Getragen von kindlicher Sorglosigkeit, glückselig, begab ich mich in den Schoss der Nacht, dessen numinose Kraft die Differenzen und Separationen des Tages auflöste, und folgte den Abenteuern meiner Traumfantasien.
Gerne ließ ich mich fesseln von den Bildern meines Bewusstseins, oft erlöst von jeglichem Begehren und Streben. Bis mein Geist nach und nach eins wurde mit seinen eigenen Kreationen, sich meiner Erfahrung mehr und mehr verschloss und schließlich im erinnerungslosen Nichts verschwand, um erst am nächsten Morgen von den Sonnenstrahlen in den unveränderten Alltag zurückgerufen zu werden.
DIE SEHNSUCHT NACH TRÄUMEN
Lange war die Nacht dem Tag ebenbürtig. Bedingungslos akzeptierte ich, dass sich mein Ich-Bewusstsein stets im dunklen Ozean des kollektiven Unterbewussten auflösen würde, um dann unversehrt ins Licht des Tages zurückzukehren.
Doch dann reifte ich unweigerlich heran, wurde erwachsen. Die Sehnsucht nach der mystischen Unterbrechung der von der Vernunft gesteuerten Welterfahrung ließ nach. Die Faszination von der scheinbaren Unendlichkeit meiner Imaginationen, die nirgendwo anders zu erfahren war außer in der Nacht, verblasste.
Selten nur erinnerte ich mich an meine Träume, und wenn dann schenkte ich ihnen keine Aufmerksamkeit, und schon gar keine Passion mehr. Der Schlaf degenerierte zum jüngeren Bruder des Todes, der dem Leben und seinen Wünschen die Zeit stahl.
LUZIDE RAUHNACHT
Bis zu dieser vergangenen Nacht, als mich ein luzider Traum zurückrief in den Zauber der Schattenwelten. Es war die erste Rauhnacht kurz vor Weihnachten, die den Schleier zwischen Diesseits und Jenseits zu heben begonnen hatte. Erschöpft vom Tage war ich zunächst in einen unruhigen Zustand gefallen, hatte mich hin und her gewälzt. Dann ergab ich mich endlich meinen gelähmten Gliedern und der natürlichen Regelmäßigkeit des Ein- und Ausatmens, und schlief ein – halbwegs.
Hier, in diesem Interregnum des Bewusstseins, wurde ich, wenn auch nur kurz, von einem ozeanischen Gefühl getragen. Ich lag geborgen im Wasser allen Lebens, sanft geschaukelt von seinen Wogen, schien eins zu sein mit der universellen Intelligenz. Bilder gewohnter Szenarien gefärbt von Emotionen und ordinärer Gedanken umspielten mich in diesen Gewässern, und ich ließ es einfach geschehen. Denn ich war der Ozean des Lebens selbst.
Doch dann, aus mir unbekannten Gründen, begann dieser Ozean unruhig zu werden. Erst waren es nur kleine Bewegungen im Fluss des mich tragenden Wassers, die meine friedliche Gelassenheit störten. Bald begannen diese kleinen Wogen jedoch, sich mehr und mehr aufzuschaukeln, um sich dann ineinander zu verkreuzen und eine Strömung zu bilden.
Und aus dieser Strömung wuchs schließlich ein Wirbel, der immer reißender wurde und drohte, mich in seinem dunklen Schlund zu verschlucken. Panik packte mich plötzlich und ich begann intuitiv, mich zu wehren. Mein Ego bäumte sich mit all seiner Stärke auf, sträubte sich mit aller Bewusstseinskraft.
„Nicht mit mir,“ schrie ich schlussendlich und mein gesamter Körper bebte, als ich den Schrei aus meinem tiefsten Inneren freigab.
Eine akustische Stoßwelle schoss in das tosende Wasser und breitete sich konzentrisch in alle Richtungen aus. Erstaunt von meiner eigenen Wirkungskraft sah ich, wie die Wucht meines Schreis jede Bewegung erlöschte, jede Strömung stoppte. Noch im Bann meines eigenen impulsiven Ausdrucks, wurde ich Zeuge, wie der Wirbel vor meinen Augen zu Eis kristallisierte. Ich triumphierte.
Doch der Siegesglaube war nur von kurzer Dauer, denn die Eiseskälte legte sich nun auch um mich. Eine eisige Starre erfasste meinen Körper und meinen Geist, hinterließen das Gefühl der Isolierung. Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos in der eisigen Stille verharrt hatte, unfähig irgendeiner Reaktion, als ich eine freundliche, etwas verschlafene Stimme vernahm.
„VOR WAS FÜRCHTEST DU DICH?“
„Vor was fürchtest Du Dich?“ Ein lauer Atemhauch berührte mich sanft. Steif vor Kälte drehte ich mich vorsichtig einmal um mich selbst, um die Quelle der Stimme ausfindig zu machen. Aber da war nur das Eis.
„Und? Vor was fürchtest Du Dich?“, vernahm ich kurz darauf die Stimme wieder, und dieses Mal sah ich einen goldenen Lichtschimmer in der Ferne. Wie eine Fata Morgana glitzerte dieses Licht im starren Meer der Eiskristalle, spielte mit meiner Wahrnehmung. Und dann kam es näher.
Bald spürte ich seine milde Wärme. In stummer Bewunderung beobachtete ich, wie sich langsam ein fantastischer Raum vor mir auftat. Im Hintergrund ein Kristallpalast, ähnlich einer Kathedrale mit bunten barocken Glasfenstern, entfaltete sich ein Märchengarten mit lachenden, überdimensionierten Blüten-Devas vor meinen erstaunten Augen. Und inmitten dieser surrealistischen Erscheinung lag eine junge Frau mit pfirsichfarbenem, langem Haar, in einen goldenen Glanz gebettet, und räkelte sich scheinbar noch verschlafen, um sich dann endlich zu mir umzudrehen. Sie war der Inbegriff von Unberührtheit, Liebe und Hoffnung.
„Willst Du es nicht wissen?“ Sie blickte mich mit ihren goldgrünen Augen direkt an.
Ihrem Zauber erlegen, verharrte ich stumm und selbstvergessen. Ich wollte gar nichts, außer dieses Wesen und ihren Märchengarten zu studieren.
DAS LICHT DES BEWUSSTSEINS
„Und wenn ich es dann wüsste?“, fragte ich schließlich.
„Nur, wenn Du Deine Dunkelheit kennst, kannst Du das volle Licht Deines Bewusstseins erreichen. Nur dann bist Du heil,“ sagte sie wie selbstverständlich, leuchtete kurz von innen auf, um mich dann völlig in den Bann der grünen Tiefen ihrer Augen zu ziehen. Und hier lag geborgen ihre Dunkelheit.
All ihre Ängste, Wunden, Schmerzen und Zweifel drückten mein Herz zusammen. Doch dann sah ich, dass diese Dunkelheit durchwoben war von einem feinen Muster von Lichtfäden und Lichtsternen, das sich langsam drehte. Es war mir, als ob ich in ihren Pupillen eine gesamte Galaxie sah. Als ob ich die Liebe fühlte, die es brauchte, all dies erschaffen und erfahren zu haben. Dunkelheit und Licht – eine sakrale Einheit – das eine brauchte das andere. Mein Herz öffnete sich weit und ganz in diesem Augenblick, offenbarte mir seine unausweichliche Weisheit: Die Zeit war gekommen, die Dunkelheit in mir anzunehmen.
Ich hatte diese bewegende Erkenntnis noch kaum akzeptiert, als ohne Vorwarnung ein heftiger Sturm mit Blitz und Donner aufzog. Aus seinen dunklen Wolkentürmen fiel erst Schnee, dann Hagel, vereinnahmte in seinem eisigen Grau mehr und mehr den Märchengarten. Unberührt von ihrem eigenen Schicksal der immanenten Auflösung, überreichte mir die junge Frau mit den pfirsichfarbenen Locken und den goldgrünen Augen noch einen kleinen Lichtkristall. Warm lag er schimmernd in meiner Hand.
„Finde in Deiner Dunkelheit Dein wahres Licht!“, verklangen ihre letzten Worte als zartes Echo im Hagelsturm.
DIE SUCHE IN DER DUNKELHEIT
Nur zögerlich begann ich loszulaufen, denn ich wusste nicht wirklich wohin. Wie und wo sollte ich meine Dunkelheit finden und dann mein Licht?
Frierend trotzte ich dem Wind und den Hagelkörnern. Mit einer Hand schützte ich mein Gesicht, mit der anderen Hand hielt ich den Lichtfunken fest. Ohne Zeit- und Raumgefühl setzte ich einen Fuß vor den anderen in scheinbarer Endlosigkeit und Undifferenziertheit. Mein Körper wurde schwerer und schwerer. Und auch wenn der Hagel begann, schwächer zu werden, langsam zu feinem Nebel wurde, so machte sich doch Kraftlosigkeit breit. Irgendwann waren meine Glieder so steif vor Kälte, dass sie sich begannen, meinem Willen zu widersetzen. Wie in Zeitlupe stapfte ich weiter.
Als plötzlich Bilder rund um mich herum erschienen, wie auf das Eis projiziert. Erstaunt hielt ich nun doch an, versuchte zu erkennen, was dies für Bilder waren. Sie waren mir bekannt. Erinnerungen, kam es mir plötzlich! Natürlich, lang vergessene Erinnerungen meiner Kindheit.
Doch dem kurzen Wunder folgte sogleich eine Welle dunkler Gefühle, die erst die Bilder umspielten, um dann mein Herz zu erfassen. Es waren Erinnerungen als der Vater uns verließ. Der tägliche Blick aus dem Kinderzimmer, erst noch voller Hoffnung auf seine Rückkehr, bis diese erstickt wurde in der Gnadenlosigkeit der Zeit und der trostlosen Verzweiflung der Mutter.
Einsame, leblose Stunden getränkt in Depression. Untergehen in der Stille der kindlichen Machtlosigkeit. Vergebliche Versuche, die Mutter aufzuheitern, den verlorenen Partner zu ersetzen. Quälende Fragen der Schuld des Nachts, die irgendwann absanken in ein Misstrauen des Lebens, gebettet in der steten, leisen Angst des Verlassenwerdens.
DER LICHTFUNKEN
Als dieser erinnerte Schmerz mich zu ersticken drohte, wehrte ich mich zunächst mit Wut und Aggression, klagte die Eltern meiner Erinnerungen an, beschimpfte sie, schlug um mich. Doch dies schien nicht genug. So nahm ich eine Handvoll Eis und schleuderte sie in diese Erinnerungsbilder. Dann noch mehr Eis. Und mehr Eis. Bis zur Erschöpfung. Verzehrt von Leid nahm ich gar hin, dass ich den Lichtfunken verlor.
Endlich zerfielen die Bilder meiner Kindheit. Doch nichts anderes als die Sicht auf die gnadenlose Trostlosigkeit des eisigen Graus wurde freigegeben. Sogleich bereute ich meine Tat, suchte nach dem Lichtfunken und fand ihn. Erleichtert flehte ich um Verzeihung. Ich liebte doch meine Eltern, wollte doch nur glücklich und geliebt sein. In Dankbarkeit sah ich, wie die Bilder wieder auf der Eisfläche auftauchten. Erst diaphan, dann immer deutlicher. Doch mit ihnen kamen die gleichen angstvollen Gefühle der Machtlosigkeit, Trauer, und Verzweiflung.
Und dann passierte etwas Sonderbares. Ich schlüpfte in die Rollen meiner Eltern, sah die Welt durch ihre Augen und Perspektiven, fühlte ihre Verzweiflung, ihre Trauer, ihren Schmerz, ihre Schuldgefühle, erfuhr ihre Erklärungen und Meinungen. Und in diesem Licht erschienen ihre Taten unumgänglich und richtig.
Um dann ohne Vorwarnung wieder in meine Kindheitsperspektive hineingeworfen zu werden, die ebenbürtig richtig war. Ich weiß nicht, wie lange ich hin- und hergeworfen wurde zwischen dem Paradox verschiedener Ansichten und ihren innewohnenden Wahrheiten und Gefühlen. Doch irgendwann waren mein Herz und mein Verstand so offen, dass ich das gesamte Drama umfassen konnte. Alle Perspektiven gleichzeitig.
DAS DRAMA VERLIERT KRAFT
Irgendwann sah ich keinen Sinn mehr, eine Perspektive einzunehmen und Schuld zuzuweisen, wissend, dass die andere Perspektive ebenso valide war.
Irgendwann sah ich keinen Wert mehr darin, an diesen negativen Bildern und Gefühlen festzuhalten.
Irgendwann verlor das Drama an Kraft. Es löste sich mehr und mehr auf. Die Erinnerungen, die Gefühle, verblassten. Zurückblieb Frieden, Verständnis, Mitgefühl, Vergebung. Fest drückte ich den Lichtfunken an mein Herz.
Im selben Augenblick klärte sich der Himmel, als ob er in Synchronizität den Zustand meiner Selbst widerspiegelte. Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Eis. Ich sah zu, wie ihre Wärme seine Kristalle zu Wassertropfen schmelzen ließen. Bald bildeten die Wassertropfen kleine Becken und Rinnsale, die sich zu größeren vereinten, sich in das Eis fraßen, um schließlich vereinzelte Grashalme freizulegen.
DAS MÄDCHEN IN MIR
Ich hätte diesem Schauspiel noch lange zusehen können. Doch dann sah ich plötzlich das verschwommene Spiegelbild einer Person in den kleinen, mäandernden Gewässern. Erschrocken hob ich meinen Kopf, um direkt in die großen, traurigen Augen eines Mädchens zu blicken. Eine Hoffnungslosigkeit umspielte das Kind, ergeben einem trostlosen Schicksal.
„Du hast mich einfach verlassen und vergessen,“ sagte sie, ohne den Blick abzuwenden.
Sie sprach mit meiner Stimme. Sie blickte mich an mit meinen Augen. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich selbst dieses Mädchen war. Ich erblickte den kindlichen Teil von mir, den ich einst begraben hatte und vergessen, als mein Vater gegangen war. Sie war der kindliche Teil von mir, den ich verdammt hatte, weil er zu viel Schmerz in sich trug.
Tränen begannen in Strömen zu fließen, bei mir und bei ihr, fielen zu Boden, vermengten sich mit den kleinen Becken und Rinnsalen des Schmelzwassers, um mit ihrer salzigen Wärme noch weitere Risse in das Eis zu fräßen. Unter Tränen bat ich um ihre Vergebung, versicherte ihr meine Reue, drückte ihr meine Dankbarkeit aus, dass sie es gewagt hatte, sich mir zu zeigen. Niemals würde ich sie wieder verlassen. Dann nahm ich sie in den Arm, drückte sie lang und innig.
Ich hörte nicht auf, sie in meinen Armen zu halten, bis sie mir vergeben hatte. Bis ich ihr Vertrauen in mich wieder spürte. Bis sie endlich wieder eins war mit mir. Und in dieser Wiedervereinigung begann der Lichtfunken in meiner Hand zu funkeln und zu blitzen. Bald erfasste sein majestätisches Licht mein gesamtes Dasein, öffnete mich schließlich von innen nach außen, bis ich in einer Bewusstseinsexplosion in einen ekstatischen Lichtrausch versetzt wurde. Ich wurde das Licht. Ich war das Licht. Ich war immer das Licht gewesen!
Und dann erwachte ich. Ganz allmählich. Nur ungern. Benommen, noch zwischen den Welten, schwebte ich für kostbare Momente in süßer Glückseligkeit. Dann holten mich die ersten Sonnenstrahlen des Morgens, die durch das Fenster auf mein Bett fielen, zurück in die Realität. Ich blinzelte, rieb meine Augen, streckte mich, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Als ich mich endlich in meinem Bett aufsetzte, lächelte ich.
Es war der 24. Dezember. Freude erfasste mein gesamtes Herz. Und ich spürte, wie sich das Mädchen in mir mit mir freute, den Lichtfunken fest in ihrer Hand.
Fotos/Illustrationen: Kat Schuetz