Die Verwandtschaft von Marionetten und Menschen
Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Marionette, was verbindet sie? Es gibt da ein Geheimnis, das mit der Verbindung zur jeweiligen Mitte zu tun hat.
Hier erfahren Sie mehr über
- Natürliche Bewegungen
- Wie man in der Mitte bleibt
- Einen starken Bären
Text Irmela Neu
Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommunikation und ist Autorin.
Gelebte Synchronizität
„Bleib in deiner Mitte“ – diese Aufforderung hat gerade in letzter Zeit Hochkonjunktur. Doch wie erreiche ich dies? Die Kampfkünste einschließlich Yoga und Xi Gong geben ausführliche Auskünfte und Praxisanleitungen hierzu. Doch wer hätte gedacht, dass der 1810 erschienene Artikel von Heinrich von Kleist (1777-1811) „Über das Marionettentheater“ wertvolle Anregungen und Hinweise dazu liefert? Meine Erkenntnisse verdanke ich übrigens nicht der Literaturwissenschaft, sondern den Aikido-Meistern Martin Gruber (Berlin) und Ute Schwarzmayr (Salzburg).
Die Faszination von Marionetten als Lebewesen
Die Kurzgeschichte von Kleist ist hauptsächlich ein Protokoll, in dem er die Ausführungen eines Tänzers aufzeichnet; dieser war ihm immer wieder als aufmerksamer Beobachter eines Marionettenspiels und vor allem des Marionettenspielers an einem Marktstand aufgefallen. Es entstand ein Dialog, in dessen Verlauf der Tänzer detailliert Auskunft über bestimmte Fragen gab. Sie sind auch heute noch eine Quelle der Inspiration, verraten sie doch ein lang gehütetes Geheimnis entsprechender Lehren – ob aus dem Bereich der Kampfkünste oder aus dem der Mystik.
Das Geheimnis der Wirkung auf die Zuschauer
Der Marionettenspieler bewegt seine Marionetten nicht einfach nur; vielmehr erfüllt er sie mit Dasein. Er ist mit ihnen aufs Engste verbunden, denn sie sind Lebewesen. Nur wenn dies geschieht, erreicht sein Spiel das Publikum emotional, das dann mitgeht, mitempfindet, die Marionetten und die Handlung miterlebt.
Diese Dynamik entfaltet sich immer wieder aufs Neue und bereichert sich gegenseitig, bis das Empfinden einer vollkommenen Einheit zwischen Puppenspieler, Marionetten und Publikum entstanden ist.
Der Puppenspieler wird ebenso zum Tänzer wie seine Marionetten – und genau das ist es, was unseren Tänzer, der dies beobachtet, so fasziniert. Heinrich von Kleist wiederum stellt es in seinem protokollarisch verfassten Aufsatz den Lesern zur Verfügung.
Lebendigkeit durch Spiralbewegungen
Der Marionettenspieler stellt ein Band zwischen sich und seiner Marionette her. Das macht er, indem er sich mit seinen Marionetten verbindet, einen Dialog mit ihnen führt, sie erspürt, sie als Personen wahrnimmt. Das reicht jedoch noch nicht; die Verbindung stellt nämlich keine gerade Linie dar wie die Schnüre, an denen er zieht. Vielmehr ist es eine elliptisch geformte Spirale, weil nur so das intentionale Einschwingen in die „Form der Bewegung“ von „natürlichen Gelenken“ möglich ist.
Die bewusste, von der Absicht gesteuerte Anwendung dieses Naturgesetzes führt also dazu, die Mechanik lebendig werden zu lassen. Sie folgt dann natürlichen Bewegungen.
Rhythmisierung der Bewegungen durch den Atem
Der Marionettenspieler versteht sich nicht nur in der Kunst, das Prinzip der elliptischen Bewegungen mental und körperlich herzustellen, sondern auch in der Kunst, die Marionetten seinem Atem folgend tanzen zu lassen. Die spiraligen Bewegungen entstehen aus dem Rhythmus seines Atems. Beide verschmelzen zu einer Einheit und genau dies macht sie lebendig.
Aus der Marionette wird ein Tänzer; der Marionettenspieler erweckt sie zum Leben, weil er es versteht, die Schnüre mit einer leichten elliptischen Drehung im Rhythmus seines Atems in Schwingung zu versetzen. Das wiederum bezaubert das Publikum.
Die Zentrierung ausloten
Der Marionettenspieler lässt seine Puppen auf diese Weise tanzen, ist selbst ein Tänzer. Sein Geheimnis ist die Anwendung der Fokussierung auf das Naturgesetz der Ellipse und der Kraft des Atmens. Als wäre das nicht schon anspruchsvoll genug, gehört noch ein weiterer, ja der zentrale Aspekt zum lebendigen Marionettenspiel: das Ausloten der Zentrierung bei sich und den Marionetten.
Es gilt, den „Weg der Seele des Tänzers“ zu beschreiten – und zwar, wie Kleist sagt „dadurch, dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d.h. mit anderen Worten tanzt.“
Dazu gehört zweierlei: der Marionettenspieler ist ganz mit seiner Mitte verbunden – er weiß also genau, wie er diese Verbindung herstellt. Zudem muss die Marionette so gebaut worden sein, dass Bewegungen ihrer Mitte Arme und Beine mitschwingen lassen. Sein Zentrum verbindet sich mit dem Zentrum seiner von ihm gelenkten Figuren.
Das ist der Weg der Seele des Tänzers: beide tanzen gemeinsam aus der Verbundenheit ihrer Mitte heraus.
Mit der Kraft der Mitte verbinden
Das Geheimnis liegt darin, dass der Schwerpunkt der beiden zu einer Einheit verschmilzt. Auch Marionetten bedürfen eines inneren Zentrums! Sie müssen so gebaut werden, dass sie über einen richtigen Schwerpunkt verfügen, welcher bei Impulsen die Glieder mitbewegt – den Menschen vergleichbar, deren Arme bei Hüftschwüngen mit pendeln.
Das Schwingen aus der eigenen Mitte erzeugt nach außen die Lebendigkeit, die andere Menschen spüren. Der Marionettenspieler beherrscht die Kunst, elliptische Bewegungen im Rhythmus des Atems aus seiner Mitte heraus entstehen zu lassen, was sich dem Publikum mitteilt und in seinen Bann zieht.
Yoga, Kampfkünste und Tanz wissen um die Kraft der eigenen Mitte, denn sie basieren auf diesem alten Wissen. Ihr Ziel besteht darin, durch entsprechende Bewegungsabläufe und Atem das eigene Zentrum zu stärken. Dies ist zwar bekannt, erfordert jedoch regelmäßiges Üben, bei dem es nicht um Können, sportliche Leistung und Auspowern geht, vielmehr um Balancierung der Kraftzentren. Dies erlaubt eine gebündelte Kraftentfaltung im Innen und Außen.
Die Mitte bewusst entstehen lassen und stabilisieren
Was aber ist nun unter „Mitte“ überhaupt zu verstehen?
In einigen Kampfkünsten wird die Mitte als „Hara“ bezeichnet, was viel mehr bedeutet als nur „der Bauch“; damit ist ein körperlich-geistig-seelisches Gleichgewicht gemeint, das stetes Üben erfordert. Es gilt, einen Gleichklang von Körper, Geist und Seele herzustellen.
Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob ich mit dem Ziel meinen Körper trainiere, um vorgegebene Leistungsnormen zu erfüllen, oder ob ich mental meine Aufmerksamkeit auf die Harmonisierung meiner Mitte richte. Dann liegt mein Fokus nicht nur auf mir, sondern auf der Ausübung von Naturgesetzen durch entsprechende Bewegungsformen, Atem und Harmonisierung; dies lässt meine Mitte entstehen und stabilisiert sie.
Wenn ich aus meiner Mitte heraus lebe, finde ich immer wieder zu mir selbst zurück.
Es macht das Dasein in all seiner Fülle lebenswert. Leben aus der eigenen Mitte befähigt zum Tanzen auf der Bühne und im Leben, denn ich halte stets meine Balance. Störungen von außen ändern daran nichts, erfordern möglicherweise neue Einstellungen in einem dynamischen Prozess des Auslotens.
Leben aus der eigenen Mitte heraus macht authentisch
Eine Marionette hat einem Tänzer etwas Entscheidendes voraus, nämlich, dass sie sich nicht verstellt. Die meisten von uns spielen im Alltag bestimmte Rollen, tun als ob etwas der Fall sei; sie spielen etwas vor, was nicht wirklich ist.
Das passiert dann, wenn wir etwas anderes empfinden als das, was wir denken, fühlen, sagen -, wenn also Körper, Geist und Seele auseinanderdriften. Dies kommt immer in der Körpersprache zum Ausdruck. Dann sind wir nicht bei uns, wirken zerstreut, was sich nach außen mitteilt.
Das körperlich-geistig-seelische Gleichgewicht verbindet uns mit den Befindlichkeiten unseres Körpers, unserer Gefühle, Gedanken und mehr. Wenn ich mich immer wieder bewusst justiere, lebe ich nicht im „Eigentlichen“, sondern ich richte mich so ein, dass eine kraftvolle Einheit erwächst. Dazu bedarf es eines starken Zentrums. „Ziererei erscheint…, wenn sich die Seele …in irgendeinem anderen Punkte befindet als in dem Schwerpunkt der Bewegung“, so Kleist.
Umgekehrt führt die Zentrierung zu gebündelter Strahlkraft.
Aus der Zentrierung wird eine innere Haltung mir selbst und anderen gegenüber. „Nur so entsteht auch Echtheit in menschlichen Beziehungen. Notwendige Voraussetzung ist die Authentizität eines Menschen … Das bedeutet, dass der Mensch eine körperlich-geistig-seelische Einheit bildet“, gibt uns die Aikido-Meisterin Ute Schwarzmayr mit auf den Weg.
Leben aus der eigenen Mitte macht stark
Heinrich von Kleist erzählt außerdem sehr anschaulich von einer Begebenheit, wie Leben aus der eigenen Mitte heraus unangreifbar macht.
Ein hervorragender Fechter sollte mit einem angebundenen Bären kämpfen. Dieser ließ sich von Geplänkel-Techniken kein bisschen beeindrucken. Er reagierte nur auf kraftvolle, aus der Mitte ausgeführte Fechtangriffe – und zwar dadurch, dass er im rechten Moment den Angriff mit einem gezielten Tatzenhieb von seiner Mitte wegleitete. Keine Chance für den Fechter!
Der Bär blieb ruhig, konzentriert, wachsam und unangreifbar. Er hat gar nicht gekämpft, nicht einen einzigen Angriff gestartet. Seine Mitte war mit der Mitte des Fechters verbunden. Er ließ sich durch nichts provozieren, beobachtete und spürte ganz genau hin, blieb offensichtlich völlig bei sich.
Das Leben tanzen
Marionette, Marionettenspieler, Tänzer, Kampf- und Lebenskünstler – was verbindet sie? Ganz eindeutig: Sie wissen, wie sie ihre Mitte pflegen und leben aus ihrer Mitte in der Gewissheit, dass sie sich über ihr Zentrum mit allem verbinden, in ein Wechselspiel treten können. Dies erfordert die Absicht, den Willen, es zu tun, und täglich – mit Leichtigkeit und Humor – beim Üben Erfahrungen zu sammeln, weiterzumachen, zu erforschen.
Es ist eine wundervolle, nie endende, ortsunabhängige Abenteuerreise, zu der ich viel Freude bei all dem, was es da zu entdecken gibt, wünsche!
Fotos: iStock, Unsplash / Pablo Hermoso, Ahmad Odeh