Wassertropfen

Hoch­sensi­bilität: ein emotionaler Trendzustand?

Oder ist es die Folgeerscheinung einer kollektiven Sehnsucht? Antworten aus der dritten Leseprobe des Buches „Weit weg – Nah dran. Was hätte sein können und was wäre, wenn.“

Hier erfahren Sie mehr über

  • Sensibilität
  • Empfindlichkeit
  • Mitgefühl

Text MoonHee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.

Eine Folgeerscheinung der materiellen und schnelllebigen Welt scheint die besondere Betonung von Sensibilität zu sein. Trotz des Überbordens von Egoismus und Oberflächlichkeit sieht es so aus, als würde die Sensibilität allgemein zunehmen. Wie kann das sein? Schließt das eine das andere nicht aus?

Sicherlich ist die Welt in den letzten Jahren bewusster geworden. Themen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, Vegetarismus, fernöstliche Philosophien, Yoga, Superfood, Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung gehören mittlerweile zu unserem Alltag. Dazu kommt, dass die Zahl an Burnout und psychisch erkrankten Menschen weltweit zunimmt.

Sind jedoch Überforderung und die Auseinandersetzung mit sich selbst und das Scheitern mit sich und an der Welt weitreichende Indizien für eine hochsensible Gesellschaft?

Blumen auf dem Unterarm

SENSIBEL ODER EMPFINDLICH?

Es ist auffallend bis tragisch, dass sensibel sein oft mit empfindlich sein verwechselt wird. Die Menschheit wird allgemein empfindlicher, aber wohl kaum sensibler. Wir sind weniger sensibel, geschweige hochsensibel, als empfindlich. Denn alles, was wir tun, machen wir für uns selbst, und alles, was uns passiert, beziehen wir auf uns selbst.
Sind die Dinge nicht so, wie wir es wollen, haben wir das Recht, laut zu werden und uns zu beklagen. Wir sind großartig darin, zu wollen, zu verlangen und uns zu bedauern – immer fehlt uns etwas.

Hingegen sind wir sehr schlecht im bedingungslosen Geben und Teilen. Wir geben und teilen gerne, wenn wir etwas dafür bekommen. Unsere gefühlte oder gedachte Sensibilität ist also keine echte, sondern eine ichbezogene Empfindlichkeit. Diese muss klar von Empfindsamkeit unterschieden werden. Bin ich wahrhaftig sensibel, bin ich auch empfindsam für die Bedürfnisse meiner Umwelt und nicht nur für meine eigenen.

Wahre Sensibilität impliziert Achtsamkeit, Respekt, Empathie und Verständnis gegenüber dem anderen. Ihr Fundament ist ein Dialog und kein Monolog.

Pusteblume

DIE WELT KRANKT AN MITGEFÜHL!

Die Menschheit als Kollektiv sowie der Einzelne leiden. Das ist nicht neu – nur wird dieses Leid durch Schnelllebigkeit und Übermaß bewusster erfahren und die Sehnsucht nach Leidbefreiung wird spürbar stärker. Nichtsdestotrotz ist Leiden kein Parameter für Sensibilität. Wer viel leidet, ist noch lange nicht sehr sensibel.

Offenbar leben wir in der irrigen Annahme, dass Sensibilität leidend macht, aber Leid und Sensibilität schließen sich aus den oben genannten Gründen weitgehend aus. Sensibilität führt nicht zu Leid. Sie transzendiert es. Wir leiden nicht an zu viel Sensibilität, sondern an zu wenig.

Wären wir wahrhaft sensibel, dann wären wir gegenüber den Nöten der Welt viel empfindsamer. Die Welt krankt nicht am Leiden – sie krankt an Mitgefühl und Lieblosigkeit. Wäre beides gegeben, so gäbe es kein Leid.

Unser ängstlich verschlossenes Herz

Tragischerweise haben wir unser Herz aus Angst vor Verletzungen verschlossen und weggesperrt. Um es zu schützen, zogen wir großartige Festungen hoch und sind stets dabei, diese weiter auszubauen. Eingemauert, jeglicher Berührung und Entfaltung beraubt, liegt das Herz still und einsam brach. Weil wir es kaum noch fühlen und hören, treten wir der Welt mehr oder weniger herzlos entgegen.

Unserem Herzen entzweit, fehlt uns nicht nur für ein gutes Leben das notwendige Gefühl an Empathie und Mitgefühl, wir leben auch unbeherzt ein ängstliches und unsicheres Dasein. Denn es ist unser Herz, das uns beschützt und nicht umgekehrt. Allein das Herz gibt uns die Sicherheit, die Souveränität und das Vertrauen in uns selbst, in andere und in die Welt.

Es ist das Herz, das uns erkennen lässt, was richtig oder falsch ist. Nur, indem wir alle trennenden Schutzmauern einreißen, unser Herz wieder befreien, es entfalten und leben, befrieden wir die Welt.

Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.

Fotos: Unsplash / Mayank Dhanawade, Andreas Haslinger, Carolina Heza

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