VON TRÄNEN UND TITANEN
Was passiert, wenn Heroen straucheln? Eine Geschichte über zutiefst menschliche Psyche und was wir von Oliver Kahn lernen können.
Hier erfahren Sie mehr über
- Ausgebranntsein
- Gehirnchemie
- Psychische Not
Text Daniela Otto
Dr. Daniela Otto ist Literaturwissenschaftlerin, Expertin für Digital Detox und Buchautorin zum Thema. Als Vorstand der Florian Holsboer Foundation setzt sie sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Mehr über mentale Gesundheit im Podcast „Alles nur im Kopf“.
Die Welt sehnt sich nach Heldengeschichten. Nach Erzählungen von Menschen, die das Unmenschliche schaffen. Die an der Schwelle zum Olymp zu stehen scheinen. Die scheinbar unfehlbar sind. Und doch. Gerade dann, wenn Heroen straucheln, wenn sie fallen und menschlich werden, fangen wir an, über die Verehrung hinauszugehen: Wir fangen an, sie zu lieben. Es gibt kaum ein besseres Beispiel dafür als den Ausnahmefußballer und heutigen Vorstandsvorsitzenden des FC Bayern: Oliver Kahn.
AUG IN AUG MIT DEM TITANEN
Wir zeichnen eine Folge des Podcasts „Alles nur im Kopf“ auf. Titel: WELTERFOLG, KONKURRENZKAMPF, BURNOUT: WIE MEISTERT OLIVER KAHN LEISTUNGSDRUCK? In München ist Schneeregen, der Himmel ist grau, einen Tag vorher ist die deutsche Nationalmannschaft aus der WM ausgeschieden.
„Der Torwartjob kann sehr gemein sein“, weiß Oliver Kahn und spricht so offen wie nie über die Belastungen in seiner Zeit als Profifußballer.
Kahn, das war immer der „Titan“. Was aber ist ein Titan? In der Mythologie sind die Titanen ein Göttergeschlecht aus der besten aller Zeiten, der Goldenen Ära. Hyperion, Prometheus, Kronos, Rhea– die Namen sind klangvoll, mächtig, monströs und ja, „Kahn“ reiht sich perfekt darin ein.
FUßBALL-GOTTES BURNOUT
Was Kahn geschafft hat, mutet tatsächlich gewaltig an: Er hat die Weltspitze erreicht. War der Beste der Besten, dreimaliger Welttorhüter. Und doch ist seine vielleicht größte Leistung, dass er sich, einem wahren Gott gleich, auch klein machen, fehlbar zeigen kann. Er kann sich unter uns mischen, wenn er Dinge sagt wie: „Ich habe die Symptome des Ausgebranntseins gespürt.“ Er schildert die hohen Belastungen. Das Gefühl der Scham. Der Erniedrigung, wenn er im Stadion mit Affenlauten begrüßt wurde.
Er gibt zu: Wenn zwei Milliarden Menschen einen Fehler beobachten, ja beim „Versagen“ zuschauen, wie bei der WM-Niederlage 2002, so hinterlässt das Spuren auf der Seele.
VOM BERG INS TAL UND ZURÜCK
Es ist ein vertrautes Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Dr. hc. mult. Florian Holsboer, der ihn jahrelang während seiner Zeit als Profifußballer begleitet hat. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie weiß: Oliver Kahn ist nicht wehleidig, ertrinkt auch nicht in Selbstmitleid. „Mich hat die Persönlichkeit Oliver Kahns fasziniert“, sagt der Arzt. Ein Vorbild sei Kahn. Seine Willenskraft: enorm. Und in der Tat können wir von ihm viel lernen.
„Spitzensportler sind besonders ehrgeizig und setzen sich selbst stark unter Druck. Bei vielen kommt irgendwann ein Moment, wo sie glauben, es geht eben nicht weiter, immer weiter. Und Begeisterung und Enthusiasmus schlagen dann oft um in Niedergeschlagenheit, Burnout und Depression. Aus diesem dunklen Tal herauszukommen ist so schwer, wie den Gipfel des sportlichen Erfolgs zu erklimmen. Doch es ist machbar.“
EIN TIPP VON OLIVER KAHN
Oliver Kahn ist überzeugt: „Jeder sollte den Mut haben, sich in Zeiten psychischer Not professionell Hilfe zu holen.“ Dieser kleine Satz Oliver Kahns sollte Menschen weltweit inspirieren. Er sollte Menschen, die Symptome einer psychischen Erkrankung wahrnehmen, dazu ermutigen, zum Arzt zu gehen – je schneller, desto besser, sagt Holsboer. Eine frühe Intervention kann schwere Verläufe einer Depression verhindern. Die Hürde, Hilfe zu holen, ist dennoch enorm. Die Angst vor Stigmatisierung immer noch groß.
OLIVER KAHN ÜBER DEPRESSION
Oliver Kahn spricht darüber, wie wichtig es ihm ist, dass die Krankheit Depression endlich verstanden wird. Er kennt sich aus mit Gehirnchemie, spricht auch von einer Art „körperlichem Entzug“ nach dem Ende seiner Profikarriere. Er sei dann, wenn Zeit für Champions League war, unruhig geworden, habe nachts Waldläufe gemacht.
Trotzdem wollte er den Kick nie kompensieren, sondern hat sich neuen Herausforderungen gestellt: einem Studium. Einem neuen Job als Fußballexperte. Das Adrenalin, das ihm als Sportler geholfen hat, braucht er in seiner heutigen Rolle als Vorstandsvorsitzender des FC Bayern weniger – vielmehr einen kühlen Kopf, wenn es um das Fällen von Entscheidungen geht.
IMMER WEITER
Die Entscheidung, offen über psychische Erkrankungen und den hohen Druck im Spitzensport zu sprechen, kommt, so spürt man, dennoch von Herzen. Es ist eine Entscheidung, die vielen Menschen hilft. Die Tränen des Titanen fallen auf fruchtbaren Boden – möge viel Gutes daraus erwachsen. Auch die Florian Holsboer Foundation macht mit ihrem Ziel, die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen voranzutreiben, weiter. Oder, nach dem Motto Oliver Kahns, sogar „immer weiter.“ Es gibt gigantisch viel zu tun.
Fotos: Thomas Straub, ZUMA Press, Inc. / Alamy Stock Photo, Unsplash / Fernando Cferdophotography, Javier Garcia, Tangerine Newt, Shutterstock / Maxisport