Kunst aus Algen

Kunst aus Algen

An der Schnittstelle von Design, Kunst und Wissenschaft kreiert Julia Lohmann Objekte, die immer eine Reflexion spiegeln und Ideen transportieren. Dabei verwendet sie Kombu-Algen als nachhaltiges, wirkungsmächtiges Lieblings-Material.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Kreative Prozesse
  • Fruchtbare Transdisziplinarität
  • Gezielten Einsatz von Algen

Text Antoinette Schmelter-Kaiser

Julia Lohmann

Julia Lohmann, 1977 geboren, studierte u.a. in London Kommunikations- und Produktdesign. Nach dem Master arbeitete sie im eigenen Studio, dann als Professorin an der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Derzeit lehrt sie an der Aalto-Universität in Helsinki.

Eine kleine finnische Insel, eine 50-köpfige Gruppe aus Studenten, Uni-Dozenten, Künstlern, Kuratoren, Wissenschaftlern wie Meeresbiologen, Algen- oder Heringsspezialisten, ein Wochenende gemeinsame Zeit: Dieses Setting im September 2023 war „genau nach dem Geschmack“ von Julia Lohmann.
Es ging darum, in ein maritimes Ökosystem einzutauchen, den Einfluss von Menschen darauf zu untersuchen, zu beobachten, zu schnorcheln, sich auszutauschen – und auch zu erkennen, wie wenig wir wissen“, so die Deutsche, die seit 2018 an der Aalto Universität in Helsinki Professorin für zeitgenössisches Design ist.

Dieses Faible für interdisziplinäres Forschen, (Hinter-)Fragen und intensives Einfühlen begleitet die 45-Jährige nicht nur auf Exkursionen.

Generell fungiert es als roter Faden ihrer Arbeit.

FREUDE AM ENTDECKEN

Mir macht es großen Spaß, mich in immer wieder neue Themen zu vertiefen und mit unterschiedlichsten Biomaterialien zu beschäftigen“, erklärt Julia Lohmann. Die Freude am Entdecken sowie die Verbindung zur Natur wurzelt in ihrer Kindheit: Mit dem Vater, der Lehrer für Kunst und Werken war, sammelte sie in Camping-Urlauben Schwemmgut an Stränden und Flussufern, deponierte die Fundstücke im heimischen Keller und verwendete sie als Geburtstags-Geschenke.
Bei ihrer Mutter beeindruckte sie die „Empathie für Dinge“, zum Beispiel ramponierte Kuscheltiere mit nur einem Auge, die „nicht weggeworfen, sondern wertgeschätzt und repariert wurden – typisch für die Nachkriegsgeneration meiner Eltern.“

  • Kunst aus Algen
  • Julia Lohmann und die Kunst mit Algen

VIEL FREIHEIT UND DIALOG

Ihre Fähigkeit zum Gestalten baute Julia Lohmann im Studium aus. Bis zum Bachelor belegte sie erst im heimischen Hildesheim, dann am Surrey Institute of Art and Design in England Kommunikationsdesign. Danach ging sie ans Royal College of Art und studierte im Master Produkt Design, um statt zwei- auch dreidimensional zu arbeiten. „Das war ein phantastischer Ort“, blickt sie zurück. „Einerseits hatten wir viel Freiheit, um uns zu entfalten. Andererseits waren wir Studenten im Dialog und offen für die Ansätze der anderen. Ron Arad, der den Master ‘Design Products’ leitete, unterstützte mich in meiner Arbeit mit unüblichen Tiermaterialien wie ‘Flock’ aus 50 konservierten Schafmägen, förderte Experimente und konzeptionelle Versuche, die die Grenzen des Designs erweiterten.

KUH-SOFA ALS MEMENTO MORI

Mit der Beziehung von Menschen und Tieren beschäftigte sich Julia Lohmann weiter, als sie Anfang der 2000er Ledersofas in Form liegender, kopfloser Kühe entwarf. Als „Memento mori“ sollten sie sichtbar machen, dass das Material seinen Ursprung im Tod eines Tieres hat. Um dieses „Statement“ auszudrücken, beschränkte sich Julia Lohmann auf eine limitierte Serie anstelle kommerzieller Herstellung im großen Stil; so landeten ihre „Cowbenches“ nicht in konventionellen Geschäften, sondern in Galerien und Museen.
Werbung für ihre eigenwilligen Arbeiten, die an der Schnittstelle von Design und Kunst immer eine Reflexion spiegeln und eine Idee transportieren, musste Julia Lohmann nicht machen. Sie waren so auffallend und anders, dass Interessenten auf sie zukamen, sie zu Ausstellungen eingeladen wurde, Preise gewann, Stipendien bekam.

MITEINANDER TANZENDE MATERIALIEN

Eines davon führte sie 2007 nach Japan – und bescherte ihr auf einem Fischmarkt die Entdeckung eines Materials, das sie „tief beeindruckte“ und nachhaltig beschäftigt: Kombu- oder Braun-Algen, die ein einem Jahr bis zu sechs Meter lang und 30 Zentimeter breit werden.
Zu ihrem Erstaunen fand Julia Lohmann heraus, dass sie in der asiatischen Küche zwar eine beliebte und weit verbreitete Zutat sind, sie aber „auf der Landkarte der Handwerker ein weißer Fleck waren“. Also entwickelte sie eine eigene Methode, mit der sie Kombu-Algen dehydriert, flexibel hält und auf stützende Holz- oder Bambusleisten aufspannt.
Resultat sind skulpturale und oft raumfüllende Objekte, bei denen laut Julia Lohmann „die Materialien miteinander tanzen“.

  • Algen als Rohstoff und Material
  • Atelier der Künstlerin

ALGEN KÖNNEN SCHADSTOFFE FILTERN

Ausschlaggebend ist für sie aber nicht vorrangig der ästhetische Aspekt. Weil sie sich konsequent fragt, ob ein Entwurf „Sinn macht“ und welchen ökologischen Fußabdruck er hinterlässt, steht die Verwendung von Algen in einem größeren Zusammenhang. „Man muss keine wilden Algenwälder ernten, sondern kann Algen gezielt dort wachsen lassen, wo sie dem Öko-System guttun“, erklärt Julia Lohmann. „Sie haben nämlich die wirkungsmächtige Fähigkeit, Schadstoffe wie Düngemittel aus dem Wasser heraus zu filtern.“
Ein weiterer Vorteil sei, dass sie sehr schnell sehr groß werden und eine ideale Umgebung für Jungfische sind.

ROHSTOFF MIT VIELEN LÖSUNGSMÖGLICHKEITEN

Insgesamt biete die Verwendung unterschiedlichster Mikro- und Makro-Algen als Rohstoff viele Lösungsmöglichkeiten – egal ob als Proteinquelle oder Düngemittel. Über die tauscht sich Julia Lohmann in dem von ihr gegründeten „Department of Seaweed“-Netzwerk regelmäßig mit anderen Experten aus; eine besonders fruchtbare Beziehung besteht zu der französischen Textildesignerin Violaine Buet, die mit Algen webt, näht, stickt, strickt und flechtet.
Außerdem ist Julia Lohmann als Botschafterin ihres Lieblings-Materials regelmäßig mit eigenen Arbeiten in Ausstellungen vertreten; bis 3. März 2024 sind sie aktuell als eine von fünf Positionen aus Kunst und Wissenschaft zum Thema „Bending the Curve – Wissen, Handeln und [Für]Sorge für Biodiversität“ im Frankfurter Kunstverein zu sehen.

FORSCHEN ALS WICHTIGES ANLIEGEN

Bei aller Begeisterung möchte sich Julia Lohmann nicht nur auf Algen fokussieren. Sie ist Teil des EU-Forschungsprojekts „CreaTures“ zum transformativen Potenzial kreativer Praktiken, einen positiven sozialen und Wandel zu bewirken. Kürzlich hat sie ein Buch über „BioColour“ – organische Alternativen zu synthetischen Farbstoffen – mit herausgegeben. Und einen Film für das Massachusetts Institute of Technology (MIT) gedreht, in dem es um die kleinsten, nicht menschlichen Teile im Körper geht. „Wenn man versteht, dass wir Teil eines größeren Ökosystems sind und dass der Mensch selbst ein Ökosystem ist, in dem verschiedene Spezies miteinander kooperieren, dann ist man mit einer anderen Haltung auf der Welt unterwegs“, fasst Julia Lohmann ihren Fokus zusammen.

Algen als organische Alternativen zu synthetischen Farbstoffen

AUSTAUSCH UND REIBUNG

Komplexe Zusammenhänge wie diese zu ergründen, ist ihr ein wichtiges Anliegen. Deshalb weiß sie die Aalto-Universität zu schätzen. „Sie ist der richtige Rahmen für Transdisziplinarität, das heißt den Austausch und die Reibung mitanderen Wissenschaften.
Zusätzlich gibt ihr das Lehren Gelegenheit, die eigene Position immer wieder aufs Neue zu überprüfen. „Wenn ich nur für mich alleine arbeite, muss ich nicht artikulieren, warum ich etwas tue“, so Julia Lohmann.
Die Begegnung mit Studenten sorge automatisch für „Multiperspektivität“ und das „Hinterfragen von Standpunkten“ statt Gewissheiten. Auf diese Weise bleibt sie wach und (selbst-)kritisch beim Designen als „Möglichkeit, eine Welt am Wendepunkt zu gestalten“ – egal ob mit Algen oder anderen natürlichen Materialien.

Fotos: Anna van der Lei, Petr Krejci, Mikko Raskinen, Shimroth Thomas

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