Blick aus einer verschneiten Berglandschaft ins Tal

Die Güte länger werdender Nächte

Seit der Herbst-Tagundnachtgleiche Ende September nimmt die Dunkelheit stetig zu. Während uns im Sommer Vogelgezwitscher zeitig aus den Federn hebt, schenkt uns das abnehmende Licht mehr Ruhestunden. Welche Chance!

Hier erfahren Sie mehr über

  • Innehalten
  • Sich in Ruhe lassen
  • Bei sich sein

Text Brigitte Berger

Paartherapeutin Brigitte Berger

Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.

Die Natur macht es uns vor. Die Nährstoffaufnahme ist eingestellt. Es findet kein weiterer Austrieb mehr statt. Die Wasserversorgung ist in den Wurzelbereich zurückgezogen. Die Blätter verwelken und werden abgeworfen. Nachtschattengewächse, wie die Tomaten, reifen in der Dunkelheit nach.

Der Spätherbst wirkt auf uns wie ein Austragen im Inneren, vergleichbar mit dem Prozess der Kontemplation.

Wir blicken zurück und spüren nach: Was ist zu einem Abschluss gekommen oder verbraucht und darf losgelassen werden? Welche Ernte darf ich genießen? Welche Prozesse des sich neigenden Jahres bringen uns gut durch den bevorstehenden Winter, tragen ins neue Jahr?
Wir schauen zurück, um uns nach vorne neu auszurichten. Eine Zeit der Kontemplation, die den Sinn schöpft für die Aktion in der Zukunft – all dies ist auch mit Herbstbildern im Traum angesprochen.

Selbstoptimierung ade!

Überwiegend sind wir ja anders, aktiv unterwegs. Wir haben uns zu einer Generation der Zeit-und Selbstoptimierer entwickelt. Selbst Meditation dient der Selbstoptimierung. Was ein Widerspruch an sich ist. Nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft haben das Therapie- und Coachingangebot, die psychische und physische Fitness zu steigern, ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht.
Das Internet, kombiniert mit den technischen Möglichkeiten, macht es dem Menschen möglich, praktisch rund um die Uhr an sich zu arbeiten. Die Vermessung der Welt hat vor dem Menschen nicht Halt gemacht. Schlafstunden werden gezählt, die Schritte, die Kalorien, die Schläge des Herzens, die Zeit, wie lange wir gesessen sind und wann wir aufstehen müssen … Der Markt der Nahrungsergänzungsmittel boomt.

Blick in den Sternenhimmel

Innehalten, nicht festhalten

Wir trainieren unseren Körper, versuchen die Kontrolle über Gedanken und Gefühle zu halten. Wie Woody Allen bin auch ich gegen den Tod und tue Vieles, um möglichst lange jung und gesund zu bleiben. Abgesehen davon, dass wir uns im Zuge dessen manchmal Praktiken zumuten, die wir unserem ärgsten Feind nicht empfehlen würden, kann sich das zunächst gut, weil machtvoll anfühlen.  Bis wir uns eines Tages fragen, wo wir selbst eigentlich geblieben sind. Selbstoptimierung kann an uns vorbeiführen und zu einer grandiosen und manchmal auch gnadenlosen Selbstablenkung geraten.

Wie gut kann es dagegen tun, sich und den Anderen einfach mal in Ruhe zu lassen und sich in Akzeptanz zu üben. „Es geht nicht darum, was auch immer zu ändern, sondern an nichts festzuhalten und die Augen sowie das Herz zu öffnen.“ (Jack Kornfield)

Die ansteigende Dunkelheit lädt uns ein, innezuhalten und Bilanz zu ziehen: Sind das überhaupt noch meine Ziele? Finde ich mich darin wieder? Tut es mir gut, diesen Weg weiter zu verfolgen? Was trägt?

Bei sich sein

Vielleicht schlafen wir in dieser Zeit mehr als in den hellen kurzen Sommernächten. Das heißt mehr Träume, mehr Selbstbegegnung. Schenken Sie sich diese Zeit.  Der Traum bietet uns die Möglichkeit, uns in einer tieferen Seinsweise zu begegnen. Im Traum finden das Verletzliche und das Einzigartige unseres Lebens, die ungelebten Anteile unserer Persönlichkeit, all das Unbewusste, von dem wir annehmen, dass es das bedeutend größere Terrain unserer selbst ist, in Form von Bildern ins Bewusstsein.

Schreiben wir den Traum aus uns heraus, kann es zu einer Begegnung mit den dem Bewusstsein verloren gegangenen Seiten unseres Lebens kommen.  Von der französischen Schriftstellerin Simone Weil stammt das Wort „Jeder Mensch ist ein stiller Schrei, anders gelesen zu werden.“ Die Träume der Nacht bieten uns die Chance, uns neu und anders zu lesen.

Der Traum führt uns auch in den Kontakt mit positiven Erinnerungen (Ressourcen), deren Belebung uns in emotionalen Schieflage zurechtruckeln und uns wieder gut sein lassen mit uns – und dies ganz ohne Anstrengung!

Fußspuren im Schnell

Der Wellensittich

Dazu ein Traumbeispiel: Eine Frau, die sich in Auseinandersetzungen mit der Ursprungsfamilie im Trauma ihrer Kindheit verheddert hatte und dies massiv bedrohlich wahrnahm, träumte in der Nacht, sie hätte unter ihrer Bettdecke einen Wellensittich bei sich auf der linken Schulter sitzen. Der Wellensittich bewegt sich und sie wird davon wach.
Was bietet diese Traumsequenz der Träumerin an?
Die Träumerin erinnerte sich, dass sie einen Wellensittich in ihrer Kindheit hatte. Zutraulich saß er oft auf ihrer Schulter und rieb sein Köpfchen an ihrer Wange. Die Erinnerung an diesen zugewandten Gefährten ihrer Kindheit, ließ die gute, vergangene Zeit in der Träumerin auferstehen. Auch die traulichen Zeiten mit den Geschwistern wurden belebt. Der Traum generierte eine versöhnliche, getröstete Seite in der Träumerin. Dessen nicht genug erinnerte sich die Träumerin im Gespräch mit diesem Traumbild daran, dass ihr Wellensittich den Namen ihres ersten Freundes trug. Sie erinnerte sich an das erste Verliebtsein in ihrem Leben. Was für eine schöne Reanimierung glückender Beziehungnahme aus dem Leben der Träumerin!

Mensch schläft mit Decke und Kissen im Freien

Emotionale Freiheit

Der Wellensittich, objektiv betrachtet, ist ein Tier, das fliegen kann, eine Metapher der emotionalen Freiheit. Wellensittiche verbinden wir in unseren Breitengraden mit einem Käfig. Dieser Wellensittich sitzt außerhalb des Käfigs – ein Hinweis auf eine stattgefundene Befreiung.
Der Wellensittich sitzt auf der linken Schulter. Die linke Körperseite, die von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird, ist mehr für ganzheitliches Erfassen und Intuition, denn für analytisches Denken zuständig. Ein weiterer Hinweis, dass sich die Auseinandersetzung im emotionalen Bereich abspielt. Die linke Schulter lässt die Träumerin an die emotionale Last denken, die sie in dieser familiären Situation zu tragen hat.
Ihre Verletzlichkeit kommt ihr in den Sinn. An der Schulter ist die einzig verwundbare Stelle Siegfrieds in der Nibelungen Sage. In der Ruhe (Bett), in der Selbstgeborgenheit (unter der Decke), wird die Ressource, des liebevollen Selbstbezuges in ihr wach. Im Kontakt mit ihrer Verletzlichkeit entdeckt die Träumerin die Freiheit, sich in ihr Leben neu zu verlieben.

Straßenbahn bei Nacht

Rendezvous mit uns selbst

Nutzen Sie die Zeit der ansteigenden Dunkelheit für ein ergiebiges Rendezvous mit sich. Trinken Sie am nächsten Morgen eine Tasse Kaffee im Bett und lassen Sie den nächtlichen Traum in Ihre Feder fließen. Schreiben Sie nichts schön. So wie es ist, so ist es gut. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf. Welche Fragen tauchen auf? Was fühlt sich gut an? Was könnte das für Sie in Ihrer augenblicklichen Lebenssituation Gutes bedeuten?

Träume meinen es wirklich gut mit uns.

Fotos: Unsplash / Ameer Basheer, Filip Mroz, Michael Niessl, Anne Nygard, Egor Vikhrev

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