Frau steht vor einer Litfasssäule

Der heimliche Sieg der Litfaßsäule

Die Litfaßsäule ist der Lackmustest der Gesellschaft. Sie ist im Stadtviertel Zeichen des kommunalen Zusammenhalts, zur Schau getragene Diversität und Liberalität. Nach Corona ist sie ein Who’s Who von Musikgrößen, die einen Aufschrei in die Masse kundtun: Das Leben geht weiter!

Hier erfahren Sie mehr über

  • 360-Grad-Marketing
  • Litfasssäulengeschichte
  • Analogen Charme

Text Gerd Giesler

Gerd Giesler

Gerd Giesler ist Kommunikationsprofi und Inhaber der Agentur Journal International The Home of Content. Er ist aber auch Hundebesitzer und Stadtspaziergänger.

Sie prägt das Straßenleben an zentralen Punkten und regt mit ihrer Öffentlichmachung im allgemein zugänglichen Raum zu spontanem Gespräch oder Diskussion mit anderen Passanten an. Die Litfaßsäule verbindet damit für Minuten Unbekannte allein durch die Message.
Nach Corona und Aufhebung des Versammlungsverbotes ist die Litfaßsäulen ein Who’s Who internationaler Musikgrößen und Konzerte, die in Anbetracht der Aufschiebung ihrer Veranstaltungen einen Aufschrei in die Masse kundtun: Wir sind wieder da, das Leben geht weiter!

Lietfasssäule mit einer Bierwerbung

Schicht um Schicht – Indikator der Gesellschaft

Ohne das bunte Patchworkkleid der Plakate ist die Litfaßsäule ein Nobody. Aber im Dienst der Wirtschaft, der Politik oder Kultur blüht sie auf. Was sie trägt, regelt kein Gremium, kein Rat der Weisen, sondern ausschließlich die freie Marktwirtschaft nach den Spielregeln der Außenwerbung. Es gehört nicht viel dazu: eine Leiter, einen Eimer Kleister und einen Besen und im Nu erwecken Plakatierer eine der rund 50.000 bundesweiten Aussenstellen – so heißt die Säule im Fachjargon – quasi mittels beschrifteter Tapetenbahnen zu neuem Leben. Auf etwa 3,60 Metern in der Höhe und 4 Metern Umfang ist Platz für rund 30 DIN-A1-Plakate.

Eine Bahn Kleister, zack, schon klebt das geviertelte Stück, wird virtuos aufgeklappt, blasenfrei festgestrichen und erneut mit einer dünnen Schicht Kleister überzogen: Flower-Power-Festival, Klassik unterm Sternenzelt, Dirty Dancing – „the time of your life“, „Madame le Commissaire“, der neue Bestseller aus der Provence, oder Depeche Mode in concert. Wahrlich ein Stück Stadtkultur, 360-Grad-Marketing wörtlich genommen. Der bunte Reigen wächst Schicht um Schicht, dem Zyklus der gesellschaftlichen Ereignisse folgend, zentimeterdick rund um die Säule.

Künstler an der Säule: Rozbeh Asmani

Künstler wie der aus dem Iran gebürtige Rozbeh Asmani nutzten die Litfaßsäule als Leinwand für ihre Street Art. Asmani ließ 2018 in Düsseldorf und Köln rund 60 Säulen mit seinen „Colourmarks“ bespielen. Dafür nutzte er Farbmarken, die sich Konzerne beim Deutschen Marken-und Patentamt schützen ließen. Der Künstler wollte mit seinen monochromen Farbtafeln den Einfluss von Farben, die Marken und Firmen für ihre Corporate Identity verwenden, im öffentlichen Raum sichtbar machen und dabei visualisieren, welchen Einfluss sie auf unser kollektives Gedächtnis haben.

Denn Blau ist für Asmani nicht gleich Blau. Das Blau von gewissen Cremedosen unterscheidet sich beispielsweise grundlegend vom Blau einer Tankstellenkette. Dabei überließ der Aktionskünstler dem Sortierwerk die Zuteilung der Poster und der Routine der Plakatierer, wie sie die Fläche füllten. Als Affront gegen unsere Sehgewohnheit schrieb Asmanis „Colourmarks“-Serie dank der dickbauchigen Trägersäule Kunstgeschichte.

Die Litfaßsäule als das perfekte Straßenmöbel

Die Litfaßsäule kann aber noch mehr. Sehr oft übt sie auch ihre Funktion als erhobener Zeigefinger aus und tritt für Werte in der Gesellschaft und das Thema Nachhaltigkeit ein. Beispielsweise sucht sie sich ermahnend für Müllvermeidung, Recycling, bessere Tierhaltung oder Kreislaufwirtschaft den Weg in unser Alltagsgedächtnis: „Ich war eine Dose!“– nirgendwo sonst als auf der klassischen Annonciersäule hämmert sich diese Form des Anschlags ins Bewusstsein von Passanten.
Und sie kann das erwiesenermaßen oft besser als andere Medien. Den Charme der öffentlich-lokalen Bekanntmachung hat das lieb gewonnene Stadtmöbel Litfaßsäule, das im Straßenbild einfach dazu gehört wie die das Schwarze Brett, die Parkbank oder der Kiosk, nicht verloren und als solches ist sie ein perfekter Hingucker.

Historisches Bild einer Litfasssäule

Die Litfaßsäule: eine Berliner Erfindung

Wir schreiben das Jahr 1848. Der Berliner Lithograph und Drucker Ernst Litfaß dokumentiert die März-Revolution mit der Herausgabe von Zeitungen wie dem „Berliner Krakehler“ und der „Berliner Schnellpost“. Seine Technologien wie Schnellpressen und dem Farbdruck sorge für Aufsehen. Mit seiner Idee, überall im Stadtbereich Säulen aufzustellen, an denen man Plakate kleben konnte, fand er nach jahrelangen Verhandlungen beim Berliner Polizeidirektor Karl Ludwig von Hinkeldey Gehör und bekam am 5. Dezember 1854 ein 10 Jahre gültiges Monopol für die Aufstellung seiner Annonciersäulen.

Die Genehmigung war mit der Auflage verbunden, auch die neuesten Nachrichten an den Säulen bekannt zu machen. Auf diese Weise wollte von Hinkeldey dem wilden Plakatieren, was stark um sich griff, Einhalt gebieten. Säulen als Werbeträger gab es zwar vereinzelt schon Jahre früher in Paris und London, doch erst der von Litfaß geschaffene Werbeträger trat den Siegeszug um die ganze Welt an.

Alte Fotografie von zwei Menschen die an einer Litfasssäule stehen

Säulen für die Propaganda

Als Werbeträger ließ sie sich für alle Zwecke nutzen. Manchmal kam es einfach darauf an, auf welcher Seite (im geteilten Land) sie stand. Doch schon vor der Machtergreifung durch Hitler wurde die Litfaßsäule für die Verbreitung politischer Ideologien benutzt. 1870 beispielsweise als Anschlagsinstrument für Kriegsdepeschen. Die Nazis schafften es jedoch, die Erfindung von Litfaß geschickt für ihre Propagandamaschinerie zu missbrauchen. Unter Joseph Goebbels verschwanden die Plakate von Operetten jüdischer Komponisten unter flammenden Parolen antisemitischer Hetzkampagnen.

Litfasssäule historisch - Erich Kästner

Die Litfaßsäule inspirierte Erich Kästner

Weder Nationalsozialismus noch Zweiter Weltkrieg machten den Litfaßsäulen Berlins etwas aus. Geduldig ertrugen jene, die den Bombenhagel überstanden, den Faschismus, um sich schon bald für Neues bereitzuhalten. Der Schriftsteller Erich Kästner ließ Emil und seine Detektive hinter einer Litfaßsäule in Deckung gehen, was auch als quietschgelbes Buchcover in die Herzen von Millionen jugendlicher Leseratten Einzug hielt.

In Wien gab es im Bereich des überdachten Wienflusses nach Kriegsende zahlreiche Säulen, um dort als Notausstieg Wendelsteintreppen zu überdachen. Im Kinoklassiker „Der dritte Mann“ mit Orson Welles von 1948 entkommt der Titelheld Harry Lime nach einer Odyssee in den Wiener Katakomben durch eine Litfaßsäule in die Freiheit.
Die Entwicklung der Litfaßsäule ist in Deutschland ohne den Aufschwung der Nachkriegszeit, ohne Wirtschaftswunder, ohne die wachsende Bedeutung der Werbewirtschaft und der Medien nicht denkbar. Doch hat die gute, alte Litfaßsäule im digitalen Zeitalter nicht längst ausgedient?
Ganz im Gegenteil. Denn Außenwerbung erlebt einen absoluten Boom in Deutschland. Das beweisen Studien und Analysen zum „Out of home“-Markt (OOH), wie das Werben mit Plakatwänden und digitalen City-Light-Boards genannt wird. OOH ist das einzige traditionelle Mediensegment, das ein kontinuierliches Wachstum von Werbebudgets verzeichnet. Neben Markenartiklern machen sich das auch die großen Technologiekonzerne von Amazon bis Netflix zunutze und zählen vielerorts zu den Topkunden der Außenwerbung.

Litfasssäule im modernen Stadtbild

Litfaßsäule contra Digitalzeitalter

Doch woher kommt der Trend? Die Art und Weise, wie wir Medien im Alltag nutzen, hat sich ganz einfach grundlegend verändert und davon profitieren die Litfaßsäulen. Die Verbraucher sind zunehmend mobil. 90 Prozent der Stadtbewohner, so Untersuchungen, sind immer öfter und immer länger draußen unterwegs. Man verbringt weniger Zeit vor dem Fernseher und vor Desktopgeräten. Stattdessen ist man mit Smartphone und Tablet auf der Straße.

Ein Samstagmorgen auf der Münchner Hiltenspergerstraße: Allein 9 Litfaßsäulen markieren diese typische Wohnstraße im Stadtteil Schwabing. Eine Radfahrerin, den Lenkradkorb mit dem Wochenendeinkauf voll bepackt, hält Minuten vor der Litfaßsäule am Bayernpark inne, lächelt über das Gelesene und kommt dann mit einer anderen Passantin, die ihren Hund ausführt, ins Gespräch. Der Litfaßsäulenplausch ist eine lieb gewonnene Stadtvierteltradition. Auch wenn ihn heute unweigerlich ein Hauch von Nostalgie und Wehmut begleitet.

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