Illustration einer Menschenmenge

Mehr- oder Minderheit: Wer bestimmt, was die „richtige Sichtweise“ ist?

Was ist Zeitgeist? Wer prägt ihn, wer und was setzt sich durch? Antworten aus dem Buch „Weit weg – Nah dran.“ – und die drei Siebe des Sokrates für bessere Entscheidungen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Freiheit
  • Soziale Intelligenz
  • Sokrates

Text MoonHee Fischer

Schwarz-Weiss-Porträt von Dr. Moon Hee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.

Wenn man die wesentlichen Argumente auf der eigenen Seite hat, aber in der Minderheit ist, und dazu noch in der Mehrheit durchaus viele ernstzunehmende Menschen sind, … wie weit ist es dann richtig, deren Sichtweise zu übernehmen?

Der brasilianische Erzbischof Hélder Pessoa Câmara sagte:
„Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“
Die gleiche Aussage wird auch Yoko Ono zugesprochen. Hier lässt sich wunderbar erkennen, dass sich trotz Individualität und Vielfalt an unterschiedlichen Plätzen der Welt ähnliche Überlegungen und Strömungen entwickeln.

Illustration einer Menschenmenge

Individuelle Freiheit, Solidarität und der Zeitgeist

So individuell und unterschiedlich wir alle auch sein mögen, sind wir doch nie frei von gesellschaftlichen Einflüssen und Zwängen. Der vorherrschende Zeitgeist prägt uns und zugleich erschaffen wir ihn.

Individuelle und kollektive Gedanken, Ereignisse, Erfindungen, Theorien oder Ideologien beeinflussen sich gegenseitig. Die Welt ist pluralistisch – und doch ist sie ein Ganzes.

Jeder Mensch ist einzigartig. Aber er ist auch ein soziales Wesen, das bedürftig und von anderen abhängig ist. Mensch sein bedeutet soziale Interaktion. Sein bedeutet teilhaben. Auch wenn wir uns als Individuen wahrnehmen und auf individuelle Freiheit pochen, gehören wir uns nicht selbst allein. Wir tragen nicht nur Verantwortung für uns selbst, sondern auch für andere. Das betrifft alle Menschen und nicht nur ein paar wenige.

Die Grund- und Menschenrechte basieren auf der Gleichheit, Bedürftigkeit und Gemeinschaftlichkeit der Menschen. So heißt es im ersten Artikel der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“

Soziale Intelligenz und der Anspruch des Pluralismus

Mit Vernunft und Gewissen begabt zu sein, bedeutet, zur sozialen Intelligenz befähigt zu sein. Genau diese Intelligenz hat unser Überleben gesichert und wird es weiterhin tun. Nur gemeinsam ist ein gutes Leben bzw. ist Leben überhaupt möglich. Aus diesem Grund darf Pluralismus nicht nur ein schönes Ideal sein, sondern muss gelebter Alltag werden.

Der Pluralismus in seinem Anspruch an Gleichberechtigung und Chancengleichheit (keiner ist besser als der andere), Toleranz für verschiedene Lebensanschauungen und Lebensstile, Religions- und Meinungsfreiheit bildet die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu einem totalitären Regime wird im Pluralismus Dogmatismus abgelehnt.

Die Rechte und Meinungen des Einzelnen werden zu gesellschaftlichen Anliegen und Belangen, wie umgekehrt. Das Motto eines wahren Pluralismus ist: Einer für Alle und Alle für Einen. Die Minderheit schaut nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf das, was der Mehrheit guttut, so wie die Mehrheit Rücksicht auf die Wünsche der Minderheit nimmt.

Illustration einer Menschenmenge, die weiße Plakate in die Luft hält

Sich brauchen ist bereichernd!

Leider führen Pluralismus, Diversität und Unterschiedlichkeit auch zu Ängsten, Misstrauen, Konkurrenz und Machtansprüchen. Zwar wird man es nie allen recht machen können, doch wären die negativen Begleiterscheinungen des Pluralismus nicht so stark, wenn wir wahrhaftig verständen, dass wir uns alle gegenseitig brauchen.

Und das ist auch gut so! Denn Brauchen ist nicht etwas Schlechtes – es vereint uns. Es macht uns weich, sensibel und mitfühlend. Brauchen oder gegenseitige Abhängigkeit sind per se keine Schwächen, sondern etwas Bereicherndes. Stärke ist immer dort, wo wir zugunsten aller, das schließt mich mit ein, denken und handeln. Unter diesen Kriterien können wir unsere eigenen Ansichten, Meinungen und Argumente überprüfen und uns dann entscheiden, ob wir an ihnen festhalten wollen oder ob anderes Denken und Handeln vielleicht sinnvoller wären.

Die drei Siebe des Sokrates

Sicherlich sind die Argumente überzeugend, die einen Perspektivenwechsel zulassen. Hierzu die Geschichte der drei Siebe des Sokrates:

Eines Tages kam ein Mann zum weisen Sokrates gelaufen und sagte: „Sokrates, ich muss dir etwas erzählen!“

„Einen Moment“, unterbrach ihn der Weise. „Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“

„Drei Siebe?“, fragte der Mann voller Verwunderung.

„Ja, guter Freund! Lass uns sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du das, was du mir erzählen willst, geprüft? Bist du dir sicher, dass es wahr ist?“

„Nein, ich habe es erzählt bekommen…“

„Na gut. Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft. Das zweite Sieb ist das der Güte. Wenn es nicht sicher wahr ist, was du mir erzählen möchtest, ist es wenigstens gut?“

Zögernd sagte der andere Mann: „Nein, ganz im Gegenteil…“

„Dann,“ unterbrach ihn der Weise, „lass uns auch noch das dritte Sieb anwenden. Ist es wichtig und notwendig, es mir zu erzählen, was dich so aufregt?“

„Notwendig nun gerade nicht … und wichtig auch nicht.“

„Also, mein Freund“, lächelte der weise Sokrates, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig oder wichtig ist, so lass es lieber sein und belaste dich und mich nicht damit.“

Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.

Fotos: iStock  

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