„Die Natur greifen, um begreifen zu können.“
Der Internationale Tag der Berge wird jährlich am 11. Dezember gefeiert, um das Bewusstsein für die Bedeutung der Berge für das Leben zu schärfen. Im Interview: Ausnahmemensch Reinhold Messner über Selbstmächtigkeit und sein jüngstes Projekt zur Rettung der alpinen Kulturlandschaft.
Hier erfahren Sie mehr über
- Das Leben von Reinhold Messner
- Die alpine Kulturlandschaft
- Den Umgang mit dem Altern
Text Gerd Giesler
Gerd Giesler ist Kommunikationsprofi und Inhaber der Agentur Journal International The Home of Content sowie leidenschaftlicher Reporter und Autor, z.B. monatlich für PURPOSE.
Wenn man sich mit dem Lebenswerk von Reinhold Messner beschäftigt, landet man immer wieder am Nanga Parbat. Nicht am Mount Everest, den er ohne zusätzlichen Sauerstoff bestieg. Nein, der Nanga Parbat, der neunthöchste Berg der Welt, der als schwieriger gilt als der Everest, wurde zu Messners persönlichem Schicksalsberg. Er war Ausgangspunkt eines Familiendramas, das zwischen Rupalwand und Diamirflanke seinen schicksalhaften Verlauf nahm, ihn ein Leben lang nicht losließ, aber auch seine Passion in ganz neue Bahnen lenkte. Ohne die Schuldfrage um Günther, den Bruder, den er am Berg verlor, wäre sein Leben anders verlaufen.
Es kracht. Der dumpfe Aufprall katapultiert mich gedanklich vom Nanga Parbat ins Hier und Jetzt. Ein Kastenwagen hat mein Auto gerammt. Nur Blechschaden, aber er bringt meinen Terminkalender völlig durcheinander. Mit zittriger Hand rufe ich Reinhold Messner an. Ob wir das Interview um zwei Stunden verschieben könnten, auf ein Telefonat, wegen der Karambolage. Der einst so Getriebene reagiert bestürzt und sehr empathisch. Ob mir etwas passiert sei?
80 Jahre alt ist Messner kürzlich geworden und es ist etwas stiller geworden um den großen Pionier des internationalen Bergsteigertums. „Lassen Sie sich Zeit“, höre ich seine sonore Stimme sagen. Und als Begründung schiebt er nach: „Diane ist in Nepal. Kunst kaufen.“
Reinhold Messner
Als Kletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger und ›Philosoph in Aktion‹ hat Reinhold Messner (geb. am 17. September 1944 in Brixen) immer wieder neue Maßstäbe gesetzt. In zahlreichen Büchern hat er Zeugnis abgelegt von seiner Suche nach Selbstverwirklichung in extremer Existenz und kämpft als Autor für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Natur. Messner bestieg als erster Mensch alle vierzehn Achttausender, darunter erstmals den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. 1989/90 gelang ihm zusammen mit Arved Fuchs die Durchquerung der Antarktis zu Fuß. Messner hat vier erwachsene Kinder und ist seit 2021 in dritter Ehe mit Diane Schumacher verheiratet.
Mehr über sein Leben, die Messner Mountain Heritage und Messner Mountain Foundation lesen Sie hier: www.reinhold-messner.de
Reinhold Messner, das authentische Aushängeschild
Das erste Mal erlebte ich Reinhold Messner persönlich bei den von mir und Hans Christian Meiser veranstalteten Diners Club Magazin Awards im Münchner GOP-Theater, als er von den Lesern zum Botschafter der Berge gekürt wurde. Er kam in Begleitung des damaligen Südtiroler Tourismusmanagers, und der wiederum brachte mehrere Säcke Südtiroler Äpfel mit. Auf einen Schlag war mir die Intention klar: Messner war zum Aushängeschild des Südtirol-Tourismus geworden. Aber das störte niemanden der anwesenden Gäste. Messner war einfach authentisch. Und er zeigte wieder einmal, dass er seine Kernbotschaft und sein Sendebewusstsein mit verschiedenen Themen, die ihm am Herzen liegen, gekonnt verknüpft.
Das zweite Mal erlebe ich den Grenzgänger Messner im Dezember 2023 als philosophierenden Coach, wieder auf einer Bühne. Diesmal im Rahmen eines Ärztekongresses, zu 300 Gynäkologen sprechend. 14 Jahre sind seit meiner ersten Begegnung mit „ihm“ vergangen. Messner dozierte vor einer Panorama-Leinwand wechselnder Fotos der Achttausender zu einem seiner Lieblingsthemen: gelingendes Leben. Im Saal ist es mucksmäuschenstill. Man spürt den Respekt der Ärzte vor diesem Ausnahme-Mensch.
Auch wenn Messners Stimme leiser, seine Bewegungen nicht mehr so kernig sind, und er später beim Bühnenabgang dankbar die Hand der Assistentin greifen wird, so ist seine Strahlkraft ungebrochen. Und doch, schwingt da nicht schon ein Hauch Wehmut mit, angesichts der Zeit, die ihm noch bleibt? In mir wächst der Wunsch, Reinhold Messner noch einmal persönlich zu sprechen. Ich will mit ihm über diese geheime Kraft reden, die ihn ein Leben lang zu immer größeren physischen und mentalen Leistungen angetrieben hat, für die andere ihn als wahnsinnig, als lebensuntreu vorverurteilt haben. Über Anerkennung und Ablehnung. Über späte Liebe. Über das was bleibt. Über das Nachlassen der Kräfte im Alter und ja, auch über den Tod.
Reinhold Messner ist jetzt 80 – was bleibt?
Nach knapp zwei Stunden habe ich mich sortiert und freue mich auf das Gespräch. Reinhold Messner ist sofort am Telefon. Sein 80er Geburtstag ist erst fünf Wochen her. Der erste Anknüpfungspunkt?
Sie blicken auf ein erfolgreiches Leben zurück. Gibt es irgendetwas, das Sie heute anders machen würden? Kaum ausgesprochen denke ich mir: das erste Fettnäpfchen, prima. Und tatsächlich poltert Messner in seiner unnachahmlich trockenen Art los:
Ich blicke nicht zurück, sondern nur nach vorne. Ich habe mir schon lange abgewöhnt, auf ein erfolgreiches Leben zurückzublicken. Das bringt nichts mehr. Daher versuche ich, meinem Alter entsprechend, meine Projekte und Ideen umzusetzen. Das ist gelingendes Leben. Schauen Sie, wir Menschen haben nicht die Fähigkeit, in unserer Biografie zurückzugehen und sie umzuschreiben. Wir können nicht mehr korrigieren. Was passiert ist, ist passiert. Wir können nur daraus lernen. Im Grunde ist es immer Versuch und Irrtum, und wenn es gut geht, ist etwas erledigt. Man kann darauf bauen und vielleicht Erfolg haben.
Es entsteht eine kleine Pause.
Sie glauben gar nicht, wie oft ich in meinem Leben gescheitert bin. Aber ich habe immer wieder neu angesetzt, mit dem Wissen darüber, was ich vorher falsch gemacht hatte.
Was hat Sie angetrieben, im Leben immer größere geistige und mentale Leistungen zu erbringen?
Wir Menschen sind so gemacht. Wenn du dich von Begeisterung tragen lässt, bei dem was du tust, dann entwickelst du Selbstmächtigkeit und die wächst in dir. Automatisch wirst du größere und schwierigere Aufgaben angehen.
Welche Aufgabe haben Sie zuerst angepackt?
Ich war zu Beginn ein ganz fanatischer Felskletterer und bin in jungen Jahren zum Glück nicht heruntergefallen. Mein Bruder Günther und ich waren 1970 von Expeditionsleiter Karl Maria Herligkoffer eingeladen, den Nanga Parbat über die Rupalwand, die mit 4.500 Höhenmetern höchste Steilwand der Welt, zu besteigen. Dabei habe ich mir die Füße erfroren.
Das war natürlich nichts im Vergleich damit, dass ich den Bruder verloren hatte, aber am Ende war ich allein. Mein Kletterpartner war tot und ich konnte nicht mehr klettern wie vorher, weil man für anspruchsvolle Touren die Zehen braucht. Also habe ich mich entschlossen, auf Höhenbergsteiger umzusatteln. Da spiele die Zehen eine sekundäre Rolle. Ich habe ein völlig neues Leben angefangen.
Wenn wir an einem bestimmten Punkt nicht weiterkommen und auf null schalten, um neue Fähigkeiten zu entwickeln, dann wachsen wir am schnellsten. Wenn ich nicht mehr aufgeregt und neugierig bis in die letzte Faser war, dann habe ich wieder umgesattelt und ein anderes Leben geführt. Letztlich erfolgreich hat mich gemacht, dass ich in mehreren Disziplinen unterwegs war und meine Vorgänger kannte. Ich habe sie hinterfragt und geschaut, was sie falsch gemacht hatten.
Ich habe damals sehr viel aus dem Narrativ der großen Pioniere übernommen, aber vieles dann auch völlig anders gemacht.
Wie wichtig ist Ihnen Anerkennung?
Ich gelte als sehr ehrgeizig. Aber im Grunde bin ich ein ganz normaler Mensch, der Liebe und Anerkennung braucht, wie jeder andere. Zum Glück kann man Ehrgeiz nicht messen, damit kann ich auch anderen nichts unterstellen. Kritiker kommen, weil sie ihren Ehrgeiz nicht befriedigen können. Das ist dann der pure Neid.
In meiner neuesten Biografie „Gegenwind“ erzähle ich mein Leben aus dieser Gegenwind-Konstellation. In den 1970er Jahren begann ich mit dem Höhenbergsteigen. 1978, als ich den Mount Everest ohne Maske in Angriff nahm, da war ich der erste, der bereits alle Achttausender bestiegen hatte.
Die gesamte Bergwelt und die Wissenschaft ist über mich hergefallen und hat gesagt, der Messner ist verrückt geworden, etwas zu versuchen, was wissenschaftlich nachweisbar nicht möglich erschien. Damals war man der Meinung, bei 8.500 Höhenmetern ist Schluss. Dann ist der Sauerstoffpartialdruck so gering, dass der Körper keine Leistung mehr bringt und man ergo auch nicht mehr weiter aufsteigen kann.
Der frühere TV-Moderator Joachim Fuchsberger hat einmal gesagt: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“. Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um?
Mit relativer Gelassenheit. Ich kann mit dem Gedanken an Projekte, die ich noch habe, gut leben. Allerdings wäre ich sehr begrenzt und vielleicht nicht lebensfroh, wenn ich diese nicht mehr umsetzten dürfte, oder könnte. Ich brauche da schon die Unterstützung meiner Frau. Das Altern meistern zu müssen ist schneller gegangen, als ich dachte, das gebe ich zu. Mit 75 konnte ich fast noch alles, vielleicht keinen Überhang mehr hochklettern, aber ich hatte die Kraft. Jetzt spüre ich, dass nicht nur die Kraft schwindet, auch die Geschicklichkeit und vor allem die Konzentration. Ich fahre nicht mehr gerne bei Dunkelheit Auto. Aber ich verdränge nichts und bin mit Leben und Tod einverstanden.
Es tritt kurz Stille ein. Ich spüre, dass auch „Er“ keine Wunder bewirken und Berge versetzen kann. Und diese Einsicht schmerzt letztlich doch. Noch eine Frage:
Welche Kernbotschaft möchten Sie an die nachfolgende Generation weitergeben?
Ich habe eine Message. Und ich habe sie bereits in meiner ersten Biografie schon genannt: die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will. Das stammt von Hölderlin aus dem Gedicht Lebenslauf, einem der schönsten Gedichte, die ich kenne. Ich habe es nur in die Ich-Form gesetzt. Die heutige Jugend hat es schwer, mit 18 Jahren zu entscheiden, was sie im Leben tun soll.
Ich habe ein Freelancer-Leben erfunden, das es vorher nicht gab. Aus dem Kokon des Wohlstands heraus zu sagen, die Alten haben die Welt kaputt gemacht, halte ich für falsch. Diese Freiheit aufzubrechen, wohin man will, gibt es noch immer. Und ich hoffe, dass die junge Generation dorthin aufbricht, wo sie Verbesserung herbeiführen kann, in sozialpolitischer und ökologischer Art.
Das ist der letzte Vers des Gedichts:
Lebenslauf
Von Friedrich Hölderlin
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern‘,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.
Haben Sie denn mit 80 noch Träume?
Diese Frage trifft den Nerv. Messner wird gesprächiger, schwärmerischer:
Ja, ich lebe jetzt einen neuen Tagtraum, zusammen mit meiner Frau – sie ist gerade in Nepal Kunst holen, die wir letztes Jahr in Auftrag gegeben haben – baue ich ein Institut auf. Da wollen wir das Verhältnis Mensch und Berg in die Zukunft hineindenken und erzählen. Kein Museum mehr. Die Museen funktionieren jetzt. Nicht jedes zu meiner reinen Freude, aber es ist rund. Das Institut wird nicht museal, nicht gestrig. Die Frage ist nicht „was wird erhalten?“, sondern was wird neu hinterfragt, was wird neu diskutiert und da sind wir dran.
Ich merke, Reinhold Messner lebt komplett in seiner Welt, in seinen Ideen. Ich frage nach:
Sind das die neuen Pläne für das nachhaltige Projekt am Helm im Hochpustertal, das jetzt anstelle des 6. Museums realisiert werden soll?
Ja. Im Sinne der Nachhaltigkeit habe ich vor drei, vier Jahren durch Zufall eine alte Seilbahnstation gesehen. Ich wusste noch nicht einmal, dass es die Seilbahn einmal am Helm gab, sie war schon abgebaut. Aber die Betonstruktur der Station war unversehrt und sie steht an einem der schönsten Plätze der Alpen. Ich habe dann erreicht, dass die Geschäftsführer der 3 Zinnen AG mir zuhörten und dem Upcyceling ihrer bereits zum Abbruch freigegebenen Station zugestimmt haben.
Und was soll am Helm künftig gelehrt werden?
Wir haben in den Alpen ein Riesenproblem durch den Wolf. Es muss gelingen, die Wölfe in ein Gleichgewicht zu bringen, dass sie die Schafherden nicht mehr angreifen, denn die kann man auf den Almen weder durch Elektrozäune, noch durch Hunde schützen. Dadurch droht die gesamte Berglandwirtschaft kaputt zu gehen. Die Bauern werden aufgeben und verkarstete Flächen werden zurückbleiben, da wo früher Gras und Leben war. In Villnöß, wo ich groß geworden bin, werden schon einige Almen nicht mehr beschickt.
Die einfachste Lösung wäre es, einige Wölfe abzuschießen, bis wieder ein Gleichgewicht herrscht. Aber dagegen stemmen sich die Tierschützer. Die sind in der Überzahl, und als Wähler geben sie der Politik ihre Stimmen. Da springen wir mit unserem Institut dazwischen.
Wir wollen der Diskussion eine Plattform bieten. Wir müssen schauen, dass diese einzigartige Kulturlandschaft erhalten bleibt. Für Südtirol ist sie das größte Kapital, das wir haben. Oben das Schroffe, der Fels, das Eis. Und darunter das satte, liebliche Grün. Wegen dieses Landschaftsbildes kommen Gäste aus aller Welt zu uns. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dann haben wir in 100 Jahren keins mehr, aber dann ist alles kaputt.
Was wollen Sie in Ihrem Institut zeigen?
Kunst. Meine Frau und ich haben ein eigenes Start-up gegründet und bringen die Exponate jetzt in den richtigen Erzähl-Rhythmus. Ich habe große Freude damit. Kunst kann eine enorme Erzählhilfe sein, um das Ganze für den Laien begreifbar zu machen. Auf der Nordart, eine der größten zeitgenössischen Kunstausstellungen Europas, haben wir zwei Kunstwerke gesehen, die das ausdrücken, was wir erzählen wollen. Einmal ein 200 Kilo schwerer Wolf, aus Stahl gegossen, von einem Künstler aus der Mongolei, und dann 400 Schafe von einem chinesischen Künstler.
Im Institut wollen wir die beiden Kunstwerke in Interaktion bringen: der Wolf, der die 400 Schafe auseinander treibt, die Felswände hoch. Wir wollen in diesem neuen Projekt mit Kindern arbeiten. Sie haben nur Handy und Computer im Sinn, aber kein Auge mehr für einen Baum, eine Wiese, eine Kuh. Kinder sind heute gefordert in der Schule und in den sozialen Medien. Die Natur greifen können, um zu begreifen, diese Fähigkeit ist ihnen leider verloren gegangen. Wir wollen Kinder einladen, ins Institut und dann nach draußen ins Gebirge.
Am Berg waren Sie oft im Alleingang unterwegs. Im privaten Bereich haben Sie eigentlich immer auf die Beziehung gesetzt. Ihre Frau ist 35 Jahre jünger als Sie. Was schätzen Sie an ihr besonders?
Sie besitzt viel alpinistisches Wissen, war im Gebirge aber nur als Wanderin unterwegs. Wir wägen gemeinsam ab, welches Projekt wir anpacken. Für sie ist es nicht immer einfach, weil sie weiß, dass ich früher oder später das Zeitliche segnen werde und sie dann allein dastehen wird. Aber sie ist eine starke Frau, die das Leben auch alleine meistern kann.
Fotos: Ronny Kiaulehn, Unsplash / Kabita Darlami, Alamy / Keystone Press, Lebrecht Music & Arts, Nature Picture Library, TCD/Prod.DB