Holzfiguren in Umarmung.

MITGEFÜHL ALS ZEICHEN VON MENSCHLICHKEIT

In seinen „Zehn Regeln für das Leben” behandelt der vietnamesische Mönch und Weisheitslehrer Thich Nhat Hanh auch das Thema „Mitgefühl”, das im Buddhismus eine große Rolle spielt. Vor dem Hintergrund stellt sich die Frage: Was ist wichtig, um das zu heilen, was uns leiden lässt?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Nicht-Mitgefühle
  • Den Wert von Mitgefühl mit sich selbst
  • Die große Kraft des Mitgefühls

Text Van Nguyen Hoang

Schwarz-Weiß-Bild von Van Nguyen Hoang.

Van Nguyen Hoang wurde in Vietnam geboren. Dort und in London studierte sie Jura, bevor sie Dozentin für Inter­nationales Recht an der Hanoi National University und Gast­forscherin am Max-Planck-Institut in München wurde. Ihre buddhistischen Gedanken zeigen sich in ihren Arbeiten.

Die zunehmende Nutzung sozialer Netzwerke zur Kommunikation, die Covid-19-Pandemie und der Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen jedem von uns vor Augen, dass wir nicht scheinbar getrennte, voneinander völlig isolierte Individuen in unterschiedlichen Ländern und Kulturen dieser Welt sind, sondern dass wir alle von einander abhängig und miteinander verwoben existieren.

Ein Kriegsereignis, das sich in einem anderen Land, in einer anderen Kultur ereignet, stellt sich als so verflochten mit uns heraus, dass sich daraus Auswirkungen auf unser Leben ergeben. Wir müssen uns bewusst werden, wie klein die Welt ist und dass all unsere Handlungen und Taten große und unvorhergesehene Auswirkungen auf andere Menschen haben können, dass wir als Individuen nicht völlig losgelöst existieren, sondern immer miteinander und mit der Außenwelt verbunden sind.

Daher kann eine positive, verantwortungsbewusste Einstellung und ein ebensolches Verhalten zusammen mit Mitgefühl und Toleranz einen jeden von uns zu einem gelungenen Dasein führen, und die Welt, in der wir leben, zu einem besseren Ort machen.

Wenn immer mehr Menschen sich auf diese Reise begäben, würde das einen Dominoeffekt erzielen, der um die Welt geht, und seine Resonanz würde Wunder wirken, weil Mitgefühl generell ansteckend und inspirierend ist.

MITGEFÜHL UND DAS VERSTEHEN VON LEID

Viele Forscher und Autoren haben Mitgefühl als einen Wert beschrieben, der sich aus Teilen, Verständnis und Empathie zusammensetzt. Laut Zen-Meister Thich Nhat Hanh entsteht Mitgefühl zunächst einmal aus vielen Nicht-Mitgefühl-Elementen. Es ist, als ob die Lotusblume aus Nicht-Lotus-Elementen und unter diesen aus dem Element Schlamm besteht. Wenn es keinen Schlamm gibt, gibt es auch keine Lotusblume. Analog dazu existieren unter diesen Nicht-Mitgefühl-Elementen Wut, Leid, Verzweiflung. Diese stellten die Verbindung zum Mitgefühl her. Wenn man deshalb das Leiden nicht versteht, dann hat man auch nicht die Fähigkeit, Mitgefühl zu erzeugen.

Mitgefühl ist die Fähigkeit, die Welt durch die Augen anderer zu sehen, sich mit Sorgfalt, Empathie und Verständnis in ihre Lage zu versetzen, ohne zu urteilen. Darüber hinaus sollte das Mitgefühl mit der Achtsamkeit zusammenarbeiten, um das Leiden für uns selbst und andere zu lindern; ohne die Resonanz der Achtsamkeit kann Mitgefühl an der falschen Stelle platziert werden, auch, um Schlechtes oder Böses zu schützen. Wir müssen deshalb wissen, wann wir Mitgefühl geben, aber wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, wann wir kämpfen müssen, um Falschheit und Grausamkeit zu beseitigen, die manchmal durch Güte getarnt sind.

GLEICHES SCHAFFT GLEICHES

Ich möchte ein Beispiel aus den jüngsten Ereignissen nehmen, um Mitgefühl zu veranschaulichen: Es stammt aus einer Szene im Fernsehen, in der eine ukrainische Frau einem russischen Kriegsgefangenen heißen Tee zu trinken und etwas zu essen gibt und ihm dann noch ihr Handy reicht, damit er seine Mutter anrufen und ihr mitteilen kann, dass er trotz seiner Verhaftung in Sicherheit sei. Mitgefühl wirkt hier wie eine wundersame Kraft, um Menschen zu retten.

Manchmal ist die Grenze zwischen Gut und Böse in einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr brüchig. Wenn dann Mitgefühl erfahren wird, können wir das Böse davor bewahren, noch schlimmer zu werden. Denn nur Liebe schafft Liebe, und Mitgefühl lädt zu Mitgefühl ein. Analog dazu erzeugt Hass Hass und Rache Rache.

Bevor Sie jemanden verurteilen, versuchen Sie, sich in seine Lage zu versetzen, um zu erkennen, dass jeder von uns über viele Persönlichkeitsschichten verfügt, und hinter jeder Person ein Leben, ein Schicksal steht, mit eigenem Hintergrund und einer anderen Geschichte. Es gibt viele verborgene Fakten, die wir nicht kennen – wie können wir dann ohne ein vollständiges Bild über jemanden ein Urteil fällen?

  • Mann hält die Hand einer Frau.
  • Illustrierte Menschenkette.

VERSTÄNDNIS ODER INTERESSEN?

Darüber hinaus neigen wir bei unseren Urteilen dazu, subjektiv zu sein, indem wir anderen unsere eigenen Standards auferlegen – was unfair ist, ganz zu schweigen davon, dass es immer viel schwieriger ist, die richtigen Dinge zu tun als die nützlichen. Oft neigen wir dazu, das, was uns nützt, über alles andere zu stellen.

Der ehemalige britische Premierminister Lord Palmerston sagte einmal: „Wir haben keine ewigen Verbündeten, und wir haben keine ewigen Feinde. Unsere Interessen sind ewig und fortwährend, und es ist unsere Pflicht, diesen Interessen zu folgen”. Henry Kissinger, ein in Deutschland geborener amerikanischer Politiker (Außenminister unter Richard Nixon), bestätigte diese Haltung später erneut: „Amerika hat keine dauerhaften Freunde oder Feinde, nur Interessen”.

Ich wünschte, dass wir – und besonders diejenigen, die in mächtigen Positionen sind – erkennen, dass wir uns stärker bemühen sollten, unter allen Umständen die richtigen Dinge über die rein nützlichen zu stellen. Wenn ein Krieg ausbricht, verliert alles seine vertrauten Züge, es wird keine Gewinner oder Verlierer geben, sondern nur unschuldige Menschen, Opfer von Grausamkeit und Willkür.

DAS LEIDEN VERSTEHEN

Wir alle haben die Fähigkeit zum Mitgefühl in unsere Seele. Die Frage ist, wie wir dieses praktizieren und pflegen können, um es sowohl für uns selbst als auch für andere sinnvoll zu nutzen. Thich Nhat Hanh zeigt die Voraussetzung dafür: Mitgefühl entsteht aus dem Verständnis von Leiden. Wenn Sie die Zeit, die Energie und den Willen haben, sich das Leiden anderer anzusehen, dem Leiden anderer zuzuhören und das Leiden anderer anzunehmen, dann nennt man dies Achtsamkeit. Das Hören auf das Leiden, das Umarmen des Leidens, führt zum Verstehen des Leidens. Und wenn Verständnis für das Leiden da ist, dann wird Mitgefühl geboren. Dies ist der Mechanismus des Mitgefühls.

Wichtig ist, dass man das Mitgefühl zuerst auf sich selbst richtet, denn wenn man nicht weiß, wie man mit sich selbst mitfühlend sein kann, ist es sehr schwierig, mitfühlend mit einer anderen Person zu sein. Deshalb muss man sich zuerst mit seinem eigenen Leiden auseinandersetzen. Außerdem ist Mitgefühl nicht nur etwas Individuelles, sondern kann auch kollektiv sein; kollektive Mitgefühlsenergie wirkt sehr kraftvoll und hilft Menschen, noch schneller und effektiver zu heilen bzw. geheilt zu werden, wie wir dies z.B. immer wieder bei Solidaritätsaktionen sehen.

ALLE ETHIK WURZELT IM MITGEFÜHL

Erinnern Sie sich, wie viele große Helden in der Geschichte ihr Leben einer edlen Mission gewidmet haben, um Leid und Ungerechtigkeit für die Menschheit zu beseitigen? Vielleicht lag der Beginn ihrer Motivation in ihrem Unterbewusstsein, das eine Art von tiefem Mitgefühl beherbergt.

Als gewöhnliche Menschen im normalen Leben können wir dies meist nicht tun, aber dennoch können wir unser Mitgefühl als Brücke nutzen, um anderen näher zu kommen, um unsere Herzen für die Menschen um uns herum zu öffnen, um zu wissen, wie man einen Leidenden herzlich umarmt, wie man jemanden tröstet, der sich verletzt fühlt etc.. Wir können mit ganz einfachen Handlungen diese Welt friedlicher und diese Erde zu einem sichereren und glücklicheren Ort für alle machen.

Albert Schweitzer meinte einst: „Mitgefühl, in dem alle Ethik wurzeln muss, kann seine volle Breite und Tiefe nur erreichen, wenn es alle Lebewesen umfasst und sich nicht auf den Menschen alleine beschränkt”.

Der Dalai Lama bestätigte dies, als er sagte: „Die Kraft des Mitgefühls ist der Schlüssel zum Erreichen größerer Werte – für sich selbst und andere.”

Fotos: Alamy / Godong, iStock, Unsplash / Marco Bianchetti

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