Eine Hand wird vor einem blauen Hintergrund von einer anderen festgehalten

WOZU NÄCHSTENLIEBE? (TEIL 1)

In Zeiten von Selbstoptimierung und rücksichtslosem Egoismus scheint die Tugend der Nächstenliebe nur in Ausnahmefällen erstrebenswert zu sein. Warum?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Über den jungen Soldaten Martin
  • Quellen der Nächstenliebe
  • Gesetze und Maßstäbe

Text Barbara Strohschein

Schwarz-Weiß-Bild von Dr. Barbara Strohschein.

Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.

Es war einmal…

…ein junger Soldat aus einem reichen Hause, der in Frankreich stationiert war. An einem eisigen Tag im Winter ritt er zum Stadttor hinaus, als er einen alten, armen, dürftig bekleideten Mann am Straßenrand sah, der ihn um Hilfe anflehte. Der junge Soldat, sein Name war Martin, hatte nichts bei sich außer seinem Schwert und seinen schönen warmen Mantel. Martin sprang vom Pferd, zerteilte mit seinem Schwert den Mantel in zwei Teile und schenkte dem armen Mann die eine Hälfte. In der Nacht danach hatte Martin – so die Überlieferung – einen Traum: Er sah Jesus Christus mit der Hälfte seines Mantels, die er dem Bettler geschenkt hatte. Das war ihm der größte Lohn für seine Tat.
Diese Geschichte, sie stammt aus dem 4. Jahrhundert nach Christus, wurde zum Inbegriff für Nächstenliebe. St. Martin wird bis heute, immer am 11. November, zur Freude der Kinder, mit Laternenumzüge geehrt.

Im Christentum – und das war neu in der Geschichte der Menschheit – wurden ursprünglich keine Unterschiede zwischen den Menschen gemacht. Denn alle Menschen, gleich, ob arm oder reich, klug oder dumm, sind Kinder Gottes. Durch diese Gleichheit sind sich alle gleich nah, weil es kein Oben und Unten mehr gibt vor Gott.
Nächstenliebe ist das, was der Sohn Gottes, unbeachtet des Standes und Herkunft für alle Menschen tat:

Zu lieben, zu geben, sich zu opfern und zu vergeben. Das heißt Lieben im ursprünglich christlichen Sinn.

Es war verbunden mit einem zivilisatorischen Schritt in der Menschheitsgeschichte. Nächstenliebe bedeutet Toleranz in Bezug auf die Schwachen, mit selbstloser Liebe, ohne selbstsüchtige Motive, ohne Machtanspruch und ohne Erwartung auf Gegenleistung. Allenfalls mit der Hoffnung auf Pluspunkte fürs himmlische Konto.

Wer bestimmt, was Nächstenliebe ist?

Nicht nur durch die allbekannte Geschichte von Sankt Martin hat das Christentum seine vorrangige Deutung von Nächstenliebe für sich beansprucht. Im Neuen Testament (Matthäus,5) wird die Nächstenliebe sogar ausgeweitet zur „Feindesliebe“ – eine Universalisierung eines christlichen Liebesgebotes. Nicht nur die Hilfsbedürftigen seien zu lieben, sondern auch der Feind. Halten wir einmal den Atem an: Welch ein hohes Ziel! Stellen Sie sich in diesem Moment vor, Sie müssten einen verhassten Kollegen lieben oder einen jungen Terroristen, der das nächste Attentat plant. Ist das menschenmöglich?

Diese Liebesethik steht im krassen Gegensatz zu dem alttestamentarischen Motto: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Und mit diesem kritischen Hinweis auf das Alte Testament wird die christliche Vorrangstellung gerechtfertigt. Aber kann das Christentum, die Nächstenliebe betreffend, wirklich eine Alleinstellung für sich beanspruchen? Gewiss nicht. In allen Weltreligionen ist Nächstenliebe nicht nur ein Ideal, sondern wird als Hilfe für Menschen in Not von Gläubigen erwartet. Das vereint die Religionen: Das Gebot der Nächstenliebe erinnert daran, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist und deshalb die Nächstenliebe zwischen Menschen der Liebe zu Gott gleichwertig ist.

Die Gabe von Almosen ist im Judentum ein Ausdruck der Nächstenliebe und eine Verpflichtung. Im Buddhismus leben Bettelmönche von Almosen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und die Gläubigen sehen ihr Glück darin, Almosen für die Mönche zu spenden. Für einen Moslem ist es seine Glaubenspflicht, Almosen zu geben. Dies zu tun, gehört zu den den fünf Säulen eines gottgefälligen Lebens. Ähnlich wie die buddhistischen Bettelmönche leben manche Sufis, die Mystiker des Islam, von Almosen. Und im Sufismus generell bedeutet Nächstenliebe durch Almosen ein Sieg über die Selbstsucht und den Geiz.

Heiliger Martin teilt seinen Mantel
Der heilige Martin

Nächstenliebe nur mit Gott?

Bis jetzt mag es so klingen. Das scheint – trotz aller Unterschiede zwischen den Religionen – auch logisch. „Weil ich an Gott glaube, Gott mich liebt, liebe ich mich und andere.“ Wäre nun der Schluss daraus zu ziehen, dass Atheisten nicht fähig wären zur Nächstenliebe – weil sie ja nicht an Gott glauben?
Aufgrund vieler konkreter Beispiele würde ich sagen: Natürlich nicht. Nächstenliebe ohne Gott praktizieren die Menschen, die mit den Nöten anderer mitfühlen und den Wunsch haben, zu helfen. Wie es die nachfolgende und beispielhafte Geschichte zeigt: Eine deutsche Familie gibt Flüchtlingen eine Heimat.

Furchtbare Kriegsbilder in den Medien waren der Anlass. Auf Anna, eine junge, erfolgreiche, verheiratete Geschäftsfrau wirken sie nachhaltig. Sind es die Verwüstungen, die Verletzten in den Trümmern, die Ohnmacht der Frauen und Kinder, die herumirren und Schutz suchen, die Anna anrühren? Nachdem sie sich mit ihrem Mann Georg und ihren zwei Kindern geeinigt hat, ruft sie beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten an und bietet an, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen.
Es dauert nicht lange, bis ihr Angebot angenommen wird. Eine Mutter und ihre drei halbwüchsigen Kinder ziehen in Annas und Georgs Gartenhaus ein. Annas Kinder akzeptieren die Neuankömmlinge. Trotz Sprachproblemen nähert man sich an. Die Flüchtlingsfamilie steht noch unter Schock, der Vater wurde vor den Augen seiner Kinder ermordet. Nicht nur die Strapazen der Flucht sind den Flüchtlingen anzumerken, die traumatischen Erlebnisse wirken nach. Annas Familie tut viel, um diesen Menschen ein Gefühl von Geborgenheit zu geben.
Anna ist nicht religiös. Vielleicht gehört sie zu den Menschen, die in ihrer Kindheit geliebt wurden und die unvergängliche Erfahrung gemacht haben, etwas wert zu sein. Diese Liebe ist die Quelle, aus der die Nächstenliebe fließt.

Kann Nächstenliebe zum Gesetz werden?

Kein Mensch kann zur Liebe, geschweige denn zur Nächstenliebe gezwungen werden. Es hängt von vielen Faktoren ab, ob jemand zur Nächstenliebe fähig ist: Positive eigene Erfahrungen, früh erlebte Elternliebe, Aufmerksamkeit, eine gute Verfassung und die Fähigkeit, hinzuschauen, wer welche Hilfe braucht. Nächstenliebe ist weder angeboren noch selbstverständlich voraussetzbar.

In empirischen Untersuchungen über das soziale Verhalten von Menschen stellte sich heraus, dass Passanten achtlos und gefühllos an notleidenden, alten Menschen vorübergehen, ja sie nicht einmal bemerken. Jedoch – braucht man wirklich Untersuchungen, um den Mangel an Nächstenliebe bestätigt zu sehen? Selbst den Gläubigen – gleich welcher Religion – kann es passieren, dass sie keine Lust und keinen Willen haben, jemandem zu helfen. In diesem Fall ist jemand nicht aufmerksam, fühlt sich selbst hilfsbedürftig, weiß nicht, wie zu helfen wäre, zweifelt, ob Hilfe wirklich hilft. Oder, was ebenfalls passieren kann: jemand ist gar wütend darüber, dass einer in Not nicht für sich selbst sorgt!

Was also tun, wenn weltweit immer mehr Menschen notleidend und in Lebensgefahr sind – durch Kriege, Terror und Naturkatastrophen? Selbst in den reichen Industriestaaten nimmt die Armut zu. Auch wenn die Flüchtlingsdebatten abflauen, die weltweite Not wird bleiben und eher zunehmen. In einer aufgeklärten Demokratie wie Deutschland wird dieses Problem durch Gesetze gelöst. Allen voran mit Artikel 1 des Grundgesetzes, die Achtung der Würde des Menschen betreffend. Im Weiteren durch den Artikel 16a GG, der politisch Verfolgten ein individuelles Grundrecht auf Asyl sichert. Durch dieses Gesetz ist zumindest geregelt, dass niemandem, der politisch verfolgt wird und aus Kriegsgebieten stammt, die Aufnahme verweigert werden darf.

Ein Obdachloser zwischen Tauben

Soziale Realität

Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass Nächstenliebe praktiziert wird. Die formalen Vorgänge, denen sich Flüchtende unterziehen müssen, sind alles andere als angenehm. Sowohl für diejenigen, die die Aufnahme regeln, als auch für die, die sich diesen Reglements unterziehen müssen. Mit diesen Gesetzen werden Nächstenliebe und Mitgefühl nicht mitgeliefert. Kein Kritiker der Flüchtlingspolitik würde selbst gern die demütigende Erfahrung machen, tagelang vor den Ämtern Schlange zu stehen, in Massenunterkünften ohne eigene Privatsphäre tatenlos vor sich hinzuvegetieren mit wenig Aussicht auf neue Perspektiven.

Kein gutbetuchter Mensch, der die Willkommenskultur hochhält und in einem feinen Stadtviertel lebt, wo weit und breit keine Flüchtlingsunterkunft angesiedelt ist, kann sich vorstellen, was es für eine untere Mittelschichtsfamilie bedeutet, in Sichtweite einer Flüchtlingsunterkunft zu wohnen. Die Nächstenliebe könnte hier bedeuten, sich in die Lage der Betroffenen hineinzuversetzen und ein Gefühl für die damit verbundenen Belastungen aufzubringen. Doch das ist nicht gesetzlich verankerbar. Das Gesetz entspricht der Humanität. Die soziale Realität, die daraus entsteht, aber schafft Konflikte.

Nüchtern betrachtet stehen wir hier vor einem Ding der Unmöglichkeit: Massen von Menschen fliehen und Massen von Menschen müssen mit den Folgen irgendwie fertig werden. Aus dieser Feststellung lässt sich der Schluss ziehen, dass Nächstenliebe eben nicht durch Gesetze geregelt werden kann. Sie funktioniert offensichtlich nur in persönlichen Beziehungen, in überschaubaren Handlungsrahmen, wie bei Martin aus dem 4.Jahrhundert und Anna aus dem 21.Jahrhundert. Nächstenliebe – nur ein Ideal für private zwischenmenschliche Beziehungen in einer globalisierten Welt, in der es alles andere als menschenfreundlich zugeht?

Flüchtlinge haben Schlafplätze auf dem Boden

Wie Nächstenliebe zum Feigenblatt wird

Gerade weil Nächstenliebe, so gesehen, nicht zu „verstaatlichen“ ist, müssen die positiven, privat gelebten Beispiele dafür herhalten, sich damit zu begnügen. Vor allem zur Weihnachtszeit wird öffentlich davon berichtet, in welcher Lage die Ärmsten und Bedürftigsten sind und – wie ihnen geholfen wird:
Arnim, der halbseitig gelähmt ist und seit Jahren arbeitslos. Er bekommt Besuch vom Pfarrer und einen Geschenkkorb. Sigurd, der zum dritten Mal einen Selbstmordversuch begangen hat, weil er eine schwere Krankheit hat und nicht ausreichend krankenversichert ist. Ehrenamtliche Helfer lesen ihm Geschichten vor und bringen ihm immer ein Stück Kuchen mit.
Erika, die als siebzigjährige Rentnerin von 650 Euro im Monat leben muss, Größe 50 trägt und keinen passenden warmen Mantel aus der Altkleidersammlung findet. Aber sie hat ja eine gütige und wohlhabende Schwester, die ihr einen ausrangierten Kaschmirschal und 50 Euro schenkt.
Ludwig, der durch verantwortungslose Finanzberater seine Ersparnisse falsch angelegt und verloren hat und seit Jahren unter Verfolgungswahn leidet. Er erhält von einem reichen Unbekannten, wie in einer Fernsehsendung dokumentiert wird, einen Scheck von 1000 Euro.
Das sind Beispiele für schicksalsgeprüfte Menschen, über die das Unglück hereingebrochen ist und für die – wenigstens zur Weihnachtszeit – etwas getan wird.

Dass die Arbeitslosigkeit durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt zustande kommt; dass skrupellose Finanzberater es zu verantworten haben, dass das mühsam Ersparte eines Facharbeiters für die Katz war; dass die Armen die hohen Krankenversicherungen nicht mehr bezahlen können, fällt in diesen Berichten vollkommen unter den Tisch. Genauer gesagt, es wird öffentlich nicht mit kommuniziert, dass diese Vorfälle auch gesellschaftlich bedingt sind.
Der Wissenschaftsjournalist Holdger Platta spricht von einer „Entpolitisierungsschreibe“… mit einem schicksalshaften Gegebenheitston – ja, oft muss man sogar sagen, mit diesem schicksalshaften Ergebenheitston. Weil die ‘kleine Rente’ unkritisiert bleibt, „bekommt sie denselben Status zuerkannt wie die lange Krankheit: man kann halt nix dagegen machen.“
Der Autor kommentiert diese Tatsachen mit dem abgewandelten Satz aus Brechts Stück über Galileo Galilei: „Großartig das Land, das solche Hilfsbereitschaft kennt! Schande über ein Land, das solche Hilfsbereitschaft braucht!“

Ein Mensch schläft an einer Mauer mit Zeitungen als Kopfkissen

Das Ideal der Nächstenliebe und die liebe Not damit

Menschen sind widersprüchliche, keineswegs nur vernünftige Wesen. Sie sind auch keine Sozialautomaten, die das tun, was man von ihnen erwartet. Daraus folgt, dass kaum ein Mensch konsequent dem Ideal der Nächstenliebe entsprechen kann, unabhängig davon, ob dieses religiös motiviert ist oder nicht.
Das haben Ideale als Wertorientierung so an sich: sie sind als Maßstab wichtig, aber sie sind niemals vollständig und perfekt in die Wirklichkeit umzusetzen. Das ist menschlich. Und es hat keinen Sinn, darüber zu klagen und pessimistisch zu sein. Vielmehr finde ich es wichtig, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und sich bewusst darüber zu sein, dass Menschen an sich vollkommene Wesen sind, die jedoch „unvollkommen“ handeln.
Wie ich schon sagte: Es können viele Anlässe der Grund dafür sein, dass jemand sich nicht im Geringsten darum kümmert, dass ein anderer Hilfe braucht: Unachtsamkeit, eigene Bedürftigkeit, Wut, weil die Hilfsbedürftigkeit eines anderen an eine eigene Wunde rührt sowie pure Selbstbezogenheit.

Abgesehen davon sind die Maßstäbe, die heute gelten, der Nächstenliebe nicht gerade förderlich: Die Ich-Kultur, das Macht- und Gewinnstreben, die Isolierung durch Computer und Smartphones, die tabuisierten seelischen Nöte trotz Wohlstand und Erfolg. Insofern steht das Gebot der Nächstenliebe im Kontrast zu den verinnerlichten Maßstäben der Leistungsgesellschaft und zu den Mangelgefühlen, die das Leben vieler Menschen heute beherrscht. Wer gibt schon gern, der sich selbst bedürftig fühlt?
Wenn Martin sein kostbares Gewand zerschneidet, um einem frierenden Bettler zu helfen, dann verändert sich eine menschenfeindliche Gesellschaft dadurch nicht.

Jedoch: Wenn man das gesellschaftliche Ganze als „falsch“ ansieht, in dem man nicht „richtig“ leben kann, dann ist diese Zufälligkeit der Nächstenliebe ein Unrecht, das mit ihr geschieht. Das ist ein Aspekt, den die Philosophen Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ zur Sprache brachten. Der Adornosche Satz, den ich hier pointiert zusammenfasse: „In einem falschen System könne man nichts Richtiges tun“ , spitzt das Problem zu.

Fragen und Gegenfragen heute

Es war und ist eine „umkämpfte Frage“ zwischen Philosophen und Theologen, ob Religion im Kontext mit Moral wirklich gemeinschaftsfördernd ist. Nicht nur Theodor W. Adorno, sondern auch Hannah Arendt, die sich vehement für die Wahrheitssuche einsetzte, haben kritisch eingewendet, dass diese verlangte christliche Ethik weltfremd sei und den Menschen überfordere. Aber ist es wirklich so schlimm und so unmöglich, Nächstenliebe zu praktizieren? Wie halten es Menschen heute ganz konkret mit der Nächstenliebe – Gesetze und Religion hin oder her? Ich habe Menschen befragt, wie sie es mit der Nächstenliebe halten und aufschlussreiche Gegenfragen und Antworten erhalten.
Wie diese Befragung ausgefallen ist und welche Lösung es für die Titelfrage gibt, erfahren Sie im zweiten Teil dieser Untersuchung.

Fotos:

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