Ein Paar sitzt bei abendlicher Stimmung auf einem Steg

ECKSTEINE DES LEBENS: NÄHE DURCH DISTANZ

Was ist in einer Beziehung besser: Nähe oder Distanz? Entfernung oder Abstand? Unser Autor hat sich über diese wichtige Frage Gedanken gemacht.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Grenzen zum Ich
  • Liebe und Abhängigkeit
  • Die richtige Mischung von Nähe und Distanz in der Liebe

Text Wolfgang Eckstein

Schwarz-weiß-Porträt von Wolfgang Eckstein

Wolfgang Eckstein ist 95 Jahre jung. Der Jurist war u.a. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Bekleidungsindustrie, gründete den Verband deut­scher Mo­de­desig­ner, den Mo­de­kreis München und eine Stif­tung für die Modeindustrie. Für PURPOSE schreibt er exklusiv.

Wenn man eine Galerie besucht und ein Bild wirklich erleben will, muss man einen bestimmten Abstand einhalten. Nur dann bekommt der Betrachter einen wirklichen Eindruck und eine innerliche Nähe zum Bild. Das Kunstwerk zeigt erst jetzt sein „wahres Gesicht.“ Beim Betrachter lösen die Schönheit des Bildes und die künstlerische Leistung des Malers oft Freude und Begeisterung aus.

DIE VIELEN FACETTEN DER LIEBE

Nicht anders ist es bei menschlichen Beziehungen, ganz gleich, welcher Art sie sind. Nur geht es dann nicht nur um eine räumliche Distanz, sondern auch um die Frage der
geistig/seelischen Nähe. Liebe kann viele Facetten haben, tiefe Zuneigung, ein kribbelndes Glücksgefühl, eine verzehrende Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, den innigen Wunsch nach größtmöglicher Übereinstimmung auf allen Gebieten und die Hoffnung auf ein lebenslanges Bestehen dieses Liebesglücks.

Verliebt man sich, existiert man wie in einer neuen, anderen Gefühlswelt. Das Leben bewegt sich dann in einem engen Rahmen zweier Menschen, die voneinander nicht loslassen wollen oder wahrscheinlich, in dieser Lebensphase, es auch nicht können. Denn: Man fühlt sich wie eins und spürt nicht, dass man auf diesem Weg sein eigenes Ich bereits freiwillig aufgegeben hat.

Dieser Verlust des Egos kann zunächst ein sehr schöner Zustand sein, da man ganz im anderen, im Gegenüber aufgeht. Doch: Die grenzenlose Hingabe an einen anderen trägt auch die Gefahr in sich, das Ende einer scheinbar zeitlosen Liebe in sich zu tragen.
Warum?

OHNE ROSA BRILLE SIEHT MAN BESSER

Leidenschaftliche Liebe kann, wie das Wort schon sagt, Leiden beinhalten. Alle gutgemeinten Ratschläge von Freunden, eine belastende Beziehung zu beenden, finden dann bei Vielen kein Gehör, da man immer noch klammert und hofft, der Anfangszustand des unendlichen Glücks würde sich bald wieder einstellen.

Will man in einer Beziehung die Schattenseiten vermeiden, muss man aus der Verliebtheit aufwachen und sich der Realität stellen.

Denn wenn die Grenzen zum eigenen Ich verschwimmen und man sich nur im Anderen wiederfindet, ist der Verlust von sich selbst schon vorprogrammiert.

Aber der andere hat sich doch gerade deshalb in einen verliebt, weil man so ist, wie man ist. Warum sollte man das jetzt aufgeben?

LIEBE UND DISTANZ

Wir alle wollen in der Liebe unbewusst die elterliche Fürsorge (egal ob wir ihrer teilhaftig werden konnten oder nicht) erneut genießen. Wir wollen in den anderen hineinkriechen, damit er uns alle Sorgen abnimmt. Wir möchten eins sein mit ihm, denn dann drohen keine Gefahren von außen mehr. Doch gerade dadurch verlieren wir eben das, was uns ausmacht, und muten dem geliebten Menschen zu viel zu, nämlich dass er über uns wache, uns beschütze, für immer für uns da ist. Tag und Nacht. Dabei weicht die Distanz zu ihm, und wir können ihn nicht mehr als den wahrnehmen, der er ist. Wir haben dadurch sowohl uns selbst verloren als auch den anderen.

Natürlich verwandelt die Liebe, das ist ja auch eine ihrer vielen schönen Eigenschaften. Aber sie sollte uns dahingehend prägen, dass wir das geliebte Wesen als das wahrnehmen, was es ist, nicht als besseres Selbst, welches man vereinnahmen kann.

  • Zwei Hände die einander loslassen
  • Zwei Menschen umarmen sich in einer roten Staubwolke

NÄHE DURCH DISTANZ

Gerade deshalb ist der Bildvergleich so passend: Je näher wir an das Bild heranrücken, umso weniger können wir es wahr-nehmen. Liebe zwischen Menschen kann es ermöglichen, dass man den jeweils anderen beglücken, achten und motivieren kann; sie schafft es, an und in ihm immer wieder Neues, Unerwartetes zu entdecken. Diese Nähe kann aber nicht durch Nähe erzeugt werden, sondern nur durch Distanz. Gerade sie fördert die ersehnte Nähe.

Nähe durch Distanz ist kein einfaches Unterfangen und beide Partner sollten daran arbeiten. Dann klappt es auch mit der dauerhaften Liebe. Und gibt es etwas Schöneres als sie?

LIVING APART TOGETHER

Alle unverzichtbaren Möglichkeiten für ein langes, harmonisches Miteinander verlaufen im Sand, wenn nicht eine Distanz, ganz gleich welcher Art sie auch sein mag, eine falsche, nicht erkannte Nähe verhindert.

Oft ist es erst die reife Beziehung, die versteht, dass man dem anderen seinen Freiraum lassen muss. Aber es gibt auch bei vielen jüngeren Paaren mittlerweile die Einsicht, dass ein pausenloses Aufeinanderhocken zum Tod der Liebe führt – die Pandemie hat gerade dies ungewollt in vielen Beziehungen veranlasst. Und so sind – natürlich auch schon vor Corona – diverse Modelle entstanden, welche „Nähe durch Distanz“ zum Inhalt haben.

„Living apart together“ zum Beispiel. Hier hat jeder der Partner sein eigenes Reich, sprich seine eigene Wohnung und man verabredet sich mal in der einen, mal in der anderen. Zwei Schlafzimmer und zwei Badezimmer helfen ebenfalls, den Tod der Liebe zu vermeiden. Nur: Hierfür braucht man natürlich die geeigneten Räumlichkeiten, und die hat eben nicht jeder.

Zwei Frauen stehen Rücken an Rücken in der Wüste

ERFÜLLTE LIEBE

Die Kunst einer erfüllten Liebe besteht darin, zu erkennen, was der andere braucht und wessen man selbst bedarf. Wie viel Nähe ist nötig? Wie viel Distanz wichtig? Jedes Paar kann das nur für sich selbst beantworten – und je nach Möglichkeiten damit experimentieren, bis die richtige Mischung gefunden ist. Denn es verhält sich hier wie bei der Medizin: die Menge macht’s. Zuviel führt zu Abhängigkeit, zu wenig zu geringen Heilungschancen.

Aber: Wenn ein Paar beginnt, die Kunst der richtigen Dosierung zu erforschen, dann kann es davon ausgehen, dass allein dadurch eine tiefe und dauerhafte Bindung entsteht, die zu dem führt, was man sich von der Liebe erwartet bzw. zu dem, weshalb man überhaupt eine Beziehung eingeht. Und dann entsteht jene Balance, die uns auf Wolke 7 schweben lässt…

Fotos: Unsplash / Zarina Iskarova, Devin Kleu, Hanna Morris, Anastasiia Mukhina

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