ECKSTEINE DES LEBENS: VOM SINN DER ERINNERUNGEN

Was bleibt bis zum Schluss? Unser Autor blickt zurück auf 97 Jahre voll existenzieller Grenzerfahrungen, aufregender Gefühle und den Zauber dieser Welt, der ihn bis heute berührt.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Eckstein als Kindersoldat
  • Gräuel in Gefangenschaft
  • Die Welt und die wahre Liebe

Text Wolfgang Eckstein

Schwarz-weiß-Porträt von Wolfgang Eckstein

Wolfgang Eckstein ist 97 Jahre jung. Der Jurist war u.a. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Bekleidungsindustrie. Er gründete den Verband deutscher Modedesigner, den Modekreis München und eine Stiftung für die Modeindustrie. Für PURPOSE schreibt er exklusiv.

Das Leben hat, wie wir alle wissen, Höhen und Tiefen. Da wie dort hinterlässt es Impressionen, die sich entweder zu einem buntfarbigen oder aber grauen und eintönigen Mosaik zusammenfügen. Erfahrungen, die uns toleranter und überlegener machen, Wünsche, die wir erfüllt sehen möchten, und Sehnsüchte, die uns hoffentlich immer erhalten bleiben.

Aus der Fülle der Empfindungen meines bisherigen, 95-jährigen Lebens stelle ich die wichtigsten hier dar.

Wenn ich mich also zurückversetze, dann bleiben als Blick zurück ohne Zorn:

  • der erste aufregende Ausflug mit den Eltern an einem strahlenden Sommertag
  • der erste Schultag mit pochendem Herzen und voll unklarer Erwartungen
  • die erste Nacht in einem Zelt mit einer wilden Bande von Freunden, erfüllt von Abenteuerlust
  • mit 16 Jahren im Bombenhagel liegen, wenn die Erde bebt und Todesangst die Kehle zuschnürt
  • die ersten toten Kameraden betrauern, mit denen man noch eine Stunde zuvor gelacht und gealbert hat
  • der erste Augenblick, in dem man erkennt, dass das Leben nicht nur ein Spiel ist
  • die erste schmerzliche Trennung von zu Hause in der Ungewissheit, ob man je wieder zurückkommt, und die Tränen der Mutter, die viele verzehrende Nächte zu durchleben hat
  • zum ersten Mal auf Menschen schießen zu müssen, um nicht selbst zu sterben
  • als Letzter atemlos über Brücken hasten, die Sekunden später gesprengt werden
  • erleben, wie im Artilleriefeuer ein unerschrockener Soldat in einer brennenden Kirche an der Orgel Bach spielt, was das Inferno vergessen lässt
  • erschüttert mit ansehen, wie Dresden in einer Nacht dem Erdboden gleich gemacht wird
  • sich als Gefangener in und von der Gewalt Anderer demütigen zu lassen
  • das erste Gefühl für einen Menschen, das einem den Verstand raubt und von allen Gedanken Besitz ergreift
  • Jahre der Entbehrungen, der Einsamkeit, der Trauer und der Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit durchleben
  • quälenden Hunger erdulden, wie man ihn noch nie gekannt hat
  • die Tage, an denen mein Vater, mein Bruder und ich aus dem Krieg zurückgekommen sind
  • die Erkenntnis, dass die Jugend nicht stattgefunden hat und man nachholen muss, was man glaubt versäumt zu haben
  • zur Einsicht kommen, dass Deutschland nicht der Nabel der Welt ist und deshalb Fernweh die Seele ergreift
  • sich zum ersten Mal einem Flugzeug anvertrauen
  • in 40 Tagen in einer Propellermaschine um die Welt fliegen
  • durch die nebligen Gassen von Toronto schlendern
  • in die abgrundtiefen Schluchten des Grand Canyon schaudernd blicken
  • die horizontlose Größe von Los Angeles aus der Luft bestaunen
  • mit einer klapprigen Straßenbahn durch San Francisco schaukeln
  • kopfschüttelnd die Einmaligkeit des nie schlafenden Spielerparadies Las Vegas in der Verlorenheit der Wüste bestaunen
  • in Hawaii auf haushohen Wellen reiten und in der glutroten Abenddämmerung durch die duftenden Ananasfelder wandern
  • sich in Tahiti von der Leichtigkeit des Lebens davontragen zu lassen, um dieses letzte Paradies in vollen Zügen zu genießen
  • tauchen in der bunten Zauberwelt der kristallklaren Südsee
  • eine lange Nacht durchwachen mit einem bezaubernden Inselengel, in der Gewissheit der Einmaligkeit
  • schneebedeckte Gipfel in der unendlichen Wüste Australiens überfliegen
  • mit lauernden Haien auf Du und Du sein, in den schroffen Korallenriffen des Pazifiks
  • im kontrastreichen Neuseeland Ski fahren und am gleichen Tag im Meer baden
  • beim tagelangen Reiten durch Costa Rica von einem schwarzen Panther, der ungerührt seinen Weg geht, nicht beachtet zu werden
  • staunen über die peinliche Sauberkeit und mustergültige Ordnung Singapurs
  • auf einem Ball der Nationen in Hongkong die malerische, in allen Farben und Formen leuchtende Festkleidung aus vielen Ländern bewundern
  • in Istanbul träumend über den lichterglänzenden, verzauberten Bosporus mit seinen vorbeiziehenden Schiffen blicken
  • in einer sternenüberzogenen Vollmondnacht auf den schwarzsamtenen Spiegel des Tegernsees schauen, während sich ein Klavierkonzert in die Dunkelheit verströmt
  • auf einem turbulenten, in allen Details nachempfundenen russischen Fest bei Gunther Sachs drei Nächte lang durchtanzen
  • irritiert sein von der Moscheen Pracht und dem grenzenlosen Elend Indiens
  • in Bangkok die Stadt der tausend Tempel bewundern
  • beeindruckt sein von der spanisch-malaysischen Eigenart Manilas und den abwechslungsreichen Vegetationsstufen auf dem Weg in die Höhen des Sierra Madre Gebirges
  • erstarren vor der unvergleichlichen Pracht der millionenfach glitzernden Edelsteine des einmaligen Taj Mahal, in denen ein strahlender Vollmond badet und es in einen leuchtenden Dom verwandelt
  • in die hohlen, angstvoll flehenden Augen von Tausenden ausgemergelter, dahinvegetierender Menschen in der Hölle von Kalkutta blicken
  • das vielzüngige Gangesdelta in seiner unüberschaubaren Breite überfliegen
  • den kochenden Schmelztiegel New York vor und hinter den Reichtum zeigenden und Armut verschweigenden Fassaden erleben
  • sich in die kalte, schäumende Gischt in Sylt stürzen und spüren, wie wohlige Wärme den Körper in der Sonne wieder durchströmt
  • im vorwitzigen Frühsommer die blumenbekränzte Côte d’Azur entlangfahren und ertrinken im Duft von Millionen Blüten
  • sich in der kahlen Schönheit Sardiniens und seinem kristallklaren Meer hingeben
  • beim bunten Treiben auf der Piazza Capris den Inselindividualismus auf sich wirken lassen
  • auf Elba den Spuren Napoleons folgen
  • die verträumte Verspieltheit Venedigs erfühlen und sich zurückversetzen in seine große, abwechslungsreiche Vergangenheit
  • das unnahbare Moskau versuchen zu entdecken
  • im strahlenden Blau eines kälteklirrenden Wintertages im stiebenden Pulverschnee in St. Moritz zu Tal schwingen
  • eine unvergessliche Skiabfahrt in einer Mondscheinnacht vom Diavolezza Gletscher wagen
  • New Delhi im Rauch von Tausenden qualmender Kochfeuer versinken zu sehen
  • im offenen Segelflugzeug den Atem des Fahrtwindes spüren und fast taub sein von seinem lauten Gesang
  • etwas essen können, auf das man gerade Heißhunger hat
  • von der künstlerischen Pracht einer prunkvollen Asamkirche umfangen werden
  • gedankenverloren in die Unendlichkeit eines sternenübersäten Nachthimmels entfliehen
  • die niederschmetternde und unfassbare Erkenntnis, dass man einen geliebten Menschen für alle Ewigkeit verloren hat und nur eine nie verlöschende Erinnerung bleibt
  • von einem echten Freund die echte Wahrheit erfahren
  • aus einem tiefen Schlaf erfrischt und überschäumend vor Lebensmut und Tatendrang erwachen
  • sich von der grenzenlosen Zärtlichkeit einer verliebten Frau berauschen lassen
  • unerwartet ein Geschenk erhalten, das man sich länger gewünscht hat
  • sich mitreißen lassen von der nie versiegenden Geschäftigkeit Hongkongs
  • gelähmt sein von der elementaren Gewalt einer zu Tal donnernden und alles mit sich reißenden Lawine
  • wenige Stunden unschuldig vor seiner Erschießung zu stehen und eine schicksalhafte Begnadigung erfahren
  • schreibend bewältigen, was die Seele und das Herz bewegen
  • mit einem Sessellift einem Berggipfel lautlos entgegenschweben, während ein Bergsee tief unten versinkt und der Blick sich für neue Horizonte weitet
  • allein sein, mit sich selbst reden können und zu sich finden
  • mit einem temperamentvollen Araberhengst über die weißen Strände Nordafrikas galoppieren
  • verirrt sein und sich verloren fühlen im verwirrenden Labyrinth der Kasbah von Algier
  • einen stillen, friedvollen Sonntagmorgen mit einem schmeichelnden Klavierkonzert einstimmen
  • im Englischen Garten ein köstliches Picknick genießen
  • bis zur Erschöpfung durch einen frühherbstlichen buntblättrigen Wald laufen
  • die lähmende Stille einer unendlichen Wüste auf sich wirken lassen und ihre Unnahbarkeit spüren
  • den unfasslichen Gigantismus der Pyramiden und ihrer jahrtausendealten Pharaonen bestaunen
  • die Feuer speienden, rotglühenden Vulkane Hawaiis im Anflug bei Nacht erspähen
  • auf Galapagos am Morgen auf der Terasse meterlange Leguane entdecken
  • eine flinke und scheue Forelle im reißenden, kristallklaren Wildwasser überlisten
  • in Alaskas Fijorden schwergewichtige Lachse angeln
  • bei eisiger Kälte völlig durchgefroren eine belebende Sauna aufsuchen
  • mit einer Nussschale von Boot, den Tod vor Augen, einen Orkan überstehen
  • ein großes Publikum mit interessanten, humorigen oder ernsten Worten begeistern
  • zu einer Frau kommen, bei der alles auf Erwartung eingestellt ist
  • gebannt sein von den unnachahmlichen Meisterwerken großer Maler
  • durch Selbstkritik seinen wahren Standort wiederfinden
  • wie erstarrt vor einer Steinlawine stehen, die vor den Augen auf die Straße stürzt und die weniger Sekunden später den sicheren Tod bedeutet hätte
  • die nie verzagende und immer verzeihende Mutterliebe spüren
  • in einem anonymen Hotelzimmer für niemanden erreichbar zu sein
  • einen fremden Menschen auf offene und aufrichtige Art für sich gewinnen
  • vom filigranen Eifelturm auf das viel geliebte und viel besungenen Paris schauen
  • im tristen Spätherbst am weißsandigen Salinenstrand von Ibiza den schwindenden Sommer verlängern
  • mit einem schwerelosen Ballon lautlos über Wälder und Wiesen gleiten und des dem Wind überlassen, wohin er ihn treibt
  • mit gischtendem Wasserski über das blaue Meer jagen
  • den würzigen Duft frisch gemähter Wiesen schnuppern
  • einen Firnhang schwerelos hinunterschwingen
  • einmal nicht verplant sein und Zeit fürs Nichtstun verschwenden
  • einen Menschen zu einem unerwarteten Zeitpunkt beschenken
  • den vielstimmigen Gesang und die fremdartigen Geräusche des undurchdringlichen Dschungels versuchen zu deuten
  • durch die kochende, dampfende, Magma speiende, von Urgewalten zerrissene Landschaft Island irren
  • in eine friedliche Stille und wohltuende Ruhe verbreitende, brennende Kerze zu blinzeln
  • Nächte in der nie untergehenden Mitternachtssonne durchwachen
  • die nicht endenden, menschenleeren Weiten der Mongolei durchstreifen und nächtens beim Heulen der Wölfe im dünnwandigen Zelt keinen Schlaf finden
  • wenn einfallsreiche Freunde als Willkommensgruße den Tafelberg in Kapstadt mit einem Scheinwerfermeer in einen Lichterdom verwandeln
  • einem Menschen ein grenzenloses, nie enttäuschendes Vertrauen schenken können
  • einen wertvollen Menschen in einer Lawine verlieren, mit dem man noch wenige Stunden vorher ahnungslos eine unbeschwerte Zeit verbracht hat
  • 40 Jahre lang beruflich alles in meiner Kraft Stehende für die vielseitigen Belange der Mode-Industrie geben
  • dafür das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen bekommen
  • mit 95 Jahren noch Autor des „Purpose-Magazins“ zu werden und mein Leben, mein Wissen und meine Erfahrungen mit den Lesern teilen zu können.

Fotos: iStock, Shutterstock, Unsplash / Nate Johnston, Matt Le, Cristofer Maximilian, Matteo Raw, Immo Wegmann

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