Blick auf eine Straße von einer Rolltreppe

NICHTS IST, WIE ES SCHEINT

Meistens glauben wir, was wir sehen oder fühlen. Doch oft stellt sich heraus, dass das Gegenteil davon der Fall ist. Warum? Ein Bericht darüber, wie wir zu besseren Urteilen und Entscheidungen gelangen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Misstrauen und zu Misstrauendem
  • Geheimnisse und Phänomene
  • Wege zu mehr Klarheit

Text Van Nguyen Hoang

Schwarz-Weiß-Bild von Van Nguyen Hoang.

Van Nguyen Hoang wurde in Vietnam geboren. Dort und in London studierte sie Jura, bevor sie Dozentin für Inter­nationales Recht an der Hanoi National University und Gast­forscherin am Max-Planck-Institut in München wurde. Ihre buddhistischen Gedanken zeigen sich in ihren Arbeiten.

Zu Beginn dieses Beitrags möchte ich Ihnen eine Geschichte aus meiner Heimat erzählen. Sie heißt „Der gestohlene Reis“ und liest sich wie folgt:

Einmal hatte sich Konfuzius im Nirgendwo zwischen den Staaten Chen und Tsai verlaufen und hatte keine Nahrung. Sieben Tage lang konnte er somit nicht essen und war schon ziemlich erschöpft, als es sein Schüler Yan Hui überraschenderweise schaffte, etwas Reis zu finden und ihn für seinen Meister zuzubereiten.
Als der Reis fast fertiggekocht war, beobachtete Konfuzius, wie Yan Hui eine Handvoll davon aus dem Topf nahm und aß. Dieses Verhalten war jedoch gegen die Konvention, nach der Yan Hui seinen Platz kennen und akzeptieren sollte; stattdessen nahm er heimlich Essen, das für seinen Lehrer gedacht war.
Nun war das Gericht fertig und Yan Hui lud Konfuzius höflich ein, den Reis zu essen. Konfuzius tat so, als hätte er nicht gesehen, was geschehen war, stand auf und sagte: „Ich habe nur von den Vorfahren geträumt. Da der Reis sauber aussieht, möchte ich ihn den Ahnen opfern und ihn später essen“.

GLAUBEN UND WAHRHEIT

In der chinesischen Kultur ist es jedoch verboten, Nahrung als Opfer darzubringen, von welcher schon gegessen wurde, denn dies gilt als große Respektlosigkeit gegenüber den Vorfahren. Mit seiner Aussage wollte Konfuzius scheinbar testen, ob sein Schüler seinen Fehler vertuschen wollen würde.
Yan Hui antwortete jedoch ohne zu zögern: „Bitte nicht. Etwas Kohleasche ist in den Topf gefallen und verschmutzte Euren Reis. Es wäre Verschwendung gewesen, wenn ich den verunreinigten Teil weggeworfen hätte, also aß ich ihn.“

Konfuzius seufzte daraufhin und lehrte später all seinen Schülern Folgendes:
„Die Menschen vertrauen dem, was sie sehen. Aber selbst das, was die Augen tatsächlich sehen, ist nicht unbedingt die Wahrheit. Die Menschen vertrauen mit dem Herzen, aber selbst das Herz ist manchmal nicht zuverlässig. Sie sollten daran denken, dass es nie leicht ist, einen Menschen wirklich zu verstehen!“

Der Vorfall hätte Konfuzius beinahe dazu gebracht, seinen Lieblingsschüler misszuverstehen und zu verurteilen.
Doch er verstand, dass man nicht unbedingt immer die Wahrheit sieht und dass Sehen nicht unbedingt gleich Glauben bedeutet.

WIE STELLT MAN FEST, WAS „WAHR“ IST?

Es gibt ein Sprichwort, das besagt „Das Auge sieht die Wahrheit“. Die Menschen glauben oft nur, was sie mit ihren eigenen Augen sehen. Aber im Leben ist es nicht so einfach: Was wir mit unseren eigenen Augen sehen und mit unseren eigenen Ohren hören, ist nicht unbedingt wahr. Alles hat ein inneres Geheimnis.

Wenn wir nur mit den bloßen Augen sähen, ohne die verschiedenen Perspektiven der Dinge gründlich zu verstehen und richtig einzuschätzen, könnten wir immer noch Fehler machen – selbst wenn man ein weiser Meister wie Konfuzius ist. Deshalb fügte dieser seiner Lehre noch hinzu:

„Normalerweise ist Yan Hui die Person, der ich am meisten vertraue, aber wenn ich ihn heute Reis pflücken sehe, werde ich trotzdem an ihm zweifeln. Ihr müsst das im Hinterkopf behalten und dürft nicht eure eigene Meinung zum Maßstab für andere machen.“

WAHRNEHMUNG UND DIE ARBEIT DES VERSTANDES

Wissenschaftler bestätigten schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass das, was wir sehen, nur die Ebene widerspiegelt, auf der wir uns befinden. Egal, ob unser Niveau hoch oder niedrig ist, wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns.
Dank der Wissenschaft kennen wir Menschen die Natur vieler Phänomene. Wenn wir zum Beispiel ein Stäbchen in ein Glas Wasser legen, sehen wir, dass das Stäbchen zerbrochen ist; in Wirklichkeit ist es das aber nicht, denn es ist die Lichtbrechung, die uns das glauben macht.

Ohne die Hilfe der Wissenschaft könnten wir viele Phänomene der Natur und des Universums nicht verstehen und daher auch leicht zu einer falschen Auffassung gelangen.

Aber auch unsere Wahrnehmung von uns selbst und den Menschen um uns herum ist nicht immer korrekt. Wie die Schriftstellering Maya Reed einmal anmerkte:
„Der Verstand ist sonderbar bezüglich dessen, was er sich auswählt und was er sehen will. Die Art und Weise, wie Menschen ihre Perspektive von ihren Emotionen, Bedingungen und ihrem Geisteszustand leiten lassen, entscheidet letztlich darüber, wer sie als Person sind.“

Deshalb ist es die Aufgabe der Wahrnehmung und der Wissenschaft, die Natur der Dinge zu ergründen. In der Tat muss man vermeiden, sich bei der Bewertung auf das Phänomen zu verlassen.
Die Natur existiert unabhängig davon, wie unser Verstand sie wahrnimmt. Daher können wir das Wesen der Dinge nur in den Dingen selbst finden und sie nicht einfach von außen bewerten. Wenn wir Schlussfolgerungen über die Natur der Dinge ziehen, sollten subjektive Meinungen vermieden werden. Was wir fühlen, ist kein genauer Maßstab für die Realität.

Nur weil wir uns Sorgen machen, heißt das noch lange nicht, dass wir in Gefahr sind. Oder wenn wir das Gefühl haben, allein zu sein, heißt das nicht, dass uns niemand liebt. Und nur weil wir glauben, dass wir scheitern könnten, heißt das nicht, dass wir es auch tun. All dies sind nur Annahmen, bis das Leben etwas schafft, das dann zur Realität wird.

  • Betrachtung einer Brücke durch eine Glaskugel
  • Eine rote und eine blaue Pille

VORURTEILE UND VOREINGENOMMENHEIT

Allzu oft bleiben wir in falschen Wahrnehmungen und Bestätigungsfehlern stecken. Der Grund dafür ist, dass wir normalerweise Vorurteile und Voreingenommenheit in unser Denken einbauen, um alles zu berücksichtigen. Vorurteile bestehen aus angesammeltem Wissen und Voreingenommenheit ist angesammelte Erfahrung.
Vorurteile und Voreingenommenheit machen die Informationen, die wir über ein Objekt haben, subjektiv. Nur wenn wir diese beiden Dinge loswerden, können wir ein Objekt auch objektiv identifizieren und wahrnehmen, denn dann ist unser Geist klar genug, um die von dem Objekt ausgehenden Informationen zu empfangen, ohne dass wir uns auf der Grundlage unseres alten Wissens in die Irre führen lassen.

Wenn wir Vorurteile und Voreingenommenheit nicht aus unserem Denken verbannen, führt dies zu einem Phänomen, das als Bestätigungsvoreingenommenheit bezeichnet wird, d.h. dass wir dann die Tendenz haben, neue Beweise als Bestätigung der eigenen Überzeugungen oder Theorien zu interpretieren. Albert Einstein hat eine sehr gute Methode des kritischen Denkens entwickelt, um die so genannte Bestätigungsvoreingenommenheit zu bekämpfen; dabei äußert man etwas, das gegen die eigene Meinung ist, und macht sich dann Gedanken, Beweise für diesen Einwand zu finden.

Nichts ist wie es scheint - optische Täuschung

VIER WEGE ZUR KLARHEIT

Um die Natur der Dinge zu erkennen und ihr näher zu kommen, ist es notwendig, unseren Geist ruhig und klarzumachen und alles loszuwerden, was diese Klarheit behindert, wie z.B. Vorurteile, Stereotypen, Bestätigungsvoreingenommenheit, Annahmen, Eindrücke etc. In der Tat geschieht es in den unbelasteten, friedlichen Momenten, dass der Geist der Wahrheit näherkommen kann.
Ich habe von einem Mönch namens Minh Niem vier Wege gelernt, die uns helfen, dies zu praktizieren:

1.Erkennen: Um alles so zu sehen, wie es ist, müssen wir in der Gegenwart sein und uns selbst so sehen können, wie wir im Moment sind, und nicht durch ein Prisma, in dem alles durch die Vorstellungskraft und die Annahmen des Verstandes gebrochen wurde. Wenn wir zum Beispiel verliebt sind, ist alles schön, aber wenn wir unglücklich sind, ist alles hässlich.
Oder wenn wir einen Eindruck von einer Person aus der Vergangenheit haben, die heute vielleicht anders ist, werden wir sie immer noch mit den Augen der Vergangenheit sehen. Wir müssen also manchmal das so genannte „Dritte Auge“, das Auge der Einsicht, benutzen, um zu wissen, was in unserem Geist vor sich geht.
Erkunden Sie, ob in diesem Geist Eifersucht, Wut, Berechnung oder Vorurteile, Voreingenommenheit und Verletzung vorherrschen. Das nennt man Identifizierung, um zu erkennen, ob wir eine Sache oder ein Objekt mit einem klaren, ungebundenen Geist betrachten.

2. Akzeptieren/Zulassen: Erst erkennen, dann zulassen und akzeptieren, was passiert. Lassen Sie das Geschehen auf natürliche Weise von statten gehen, aber beobachten Sie es wie einen Film. Beobachten Sie mit der richtigen Einstellung ein Objekt, das in uns oder außerhalb von uns ist.
Die richtige Einstellung ist, nicht zu reagieren, nicht zu etikettieren, nicht zu kritisieren, nicht zu kontrollieren, sich nicht einzumischen, nicht zuzustimmen, überhaupt keine Einstellung dazu zu haben.

Wir müssen aufgeschlossen sein, um zu akzeptieren und nicht zu reagieren. Oft machen wir den Fehler, ein Objekt zu beurteilen, das heißt, wir verfallen in eine falsche Wahrnehmung – und das Objekt ist nicht das, was es zu sein scheint. Dasselbe trifft auf Personen zu: Wir fragen uns, ob wir diese eine Person so sehen, wie sie im Moment ist, oder wie der Geisteszustand ist, den wir gerade haben. Oder sehen wir diese Person voller Emotionen, mit Wahnvorstellungen versehen, durch andere manipuliert, mit Vorurteilen behaftet … oder mit klarem Verstand?
Wenn wir Weisheit und Einsicht haben, sollten wir uns überhaupt nicht einmischen, weil wir wissen, dass es nichts ist, wie es scheint. Dies ist das Prinzip von Himmel und Erde.

3. Untersuchen: Stellen Sie Fragen, um herauszufinden, ob es Ihnen gut geht, ob Ihr Geist aufgewühlt ist, und ob er Sie stört? Wenn wir bei der Bewertung anderer feststellen, dass wir verärgert, verletzt oder wütend sind, müssen wir dann nicht weitere Fragen stellen, um die Ursache herauszufinden und um zu sehen, woher der Ärger kommt? Kommt sie von innen oder von außen? Ist es, weil die äußeren Bedingungen zu viel sind oder weil wir zu verletzlich, schwach oder negativ sind?

4. Nicht-Identifizieren und den Geist beobachten: Wenn Sie ein Problem haben oder sich etwas Schlechtes für ein bestimmtes Objekt wünschen, lassen Sie sich nicht davon beeinflussen, sondern treten Sie sinnbildlich einen Schritt zurück und beobachten Ihren Geist.
Fügen Sie keine Geisteshaltungen wie Urteil, Schuldzuweisung, Hass usw. hinzu. Dann werden die schlechten Wünsche und Leiden allmählich schwächer werden, sich auflösen und verschwinden, um Platz für einen friedlichen, klaren Geist zu machen. Somit wird sich die Kapazität des Herzens automatisch öffnen. Nur wenn das Ego schrumpft, weitet sich das Herz.
„Hochmut kommt vor dem Fall“, das kennen wir alle. Leiden ist Realität, aber eine noch größere Realität ist, dass wir leiden, weil wir von Gier, Hass und Verblendung kontrolliert werden. Solange es Bewusstsein gibt, kann der Geist des Zorns nicht überleben. Die Bedingungen für Glück und Unglück sind überall um uns herum, aber wie wir sie annehmen und damit umgehen, ist unsere Entscheidung. Und ja, der Schmerz ist die Wahrheit, aber Leiden ist eine Wahl.

Optische Täuschung

WIE MAN ZUR „WAHRHEIT“ VORDRINGT

Selbst mit Hilfe der Wissenschaft ist der Weg, die Wahrheit und die Natur von allem zu finden, nicht unbedingt einfach, denn obwohl die Natur unabhängig und objektiv existiert, werden die Phänomene dieser Natur von uns oft sehr subjektiv gesehen, ganz zu schweigen von den Phänomenen, die sich in vielen verschiedenen Formen ausdrücken und sich immer unvorhersehbar verändern. Wir wissen nicht einmal vollständig über unser wahres Selbst Bescheid, geschweige denn über die Dinge außerhalb von uns.

Die gute Nachricht ist jedoch, dass wir uns nicht auf unser Vorwissen oder unsere Erfahrung verlassen müssen, um die Wahrheit zu erkennen, sondern dass wir nur einen friedlichen, ruhigen und klaren Geist brauchen.
Das hat auch der Buddhismus bewiesen, der sagt, dass wir Menschen eine besondere Fähigkeit haben, nämlich dass es Momente gibt, in denen wir ein Objekt betrachten und nicht auf unser Vorwissen, unser Verständnis oder unsere Vorurteile, unsere Voreingenommenheit zurückgreifen müssen, die uns daran hindern, uns dem Objekt auf eine reine, vollständige Weise zu nähern und es so zu sehen, wie es in diesem Moment ist. Wenn wir in vollem Kontakt mit einem Objekt sind und in tiefem Kontakt die Natur des Objekts sehen oder die Gesamtheit einer Person verstehen, werden wir „weise“ genannt.

Ein Mensch mit Weisheit bleibt nicht in Phänomenen stecken, das heißt, er verharrt nicht in einem Satz oder einer Handlung, ohne sich eines Objekts bewusst zu sein. Er muss stattdessen eine ganzheitliche Sicht auf dieses Objekt in vielen Aspekten haben. Mit anderen Worten: Es ist die Fähigkeit, mehrdimensional zu beobachten, zu analysieren und zusammenzufassen. Japans Wirtschaftskönig Kazuo Inamori sagte einmal, dass man immer nur oberflächlich denken wird, wenn man nur die Oberfläche der Wahrheit sehen kann, ohne die innere Natur zu verstehen. Wenn man aber tief denkt, kann man die Schichten abziehen, um direkt in das Wesen der Wahrheit zu blicken und den Kern des Problems zu finden und komplexe Probleme vereinfachen.

KRITISCH DENKEN

Eine weitere Kompetenz, die wir trainieren müssen, ist die Fähigkeit zu zweifeln und kritisch zu denken. Ich spreche hier nicht von einer sehr gefährlichen Art des Zweifels, die auf Eifersucht, Neid und Selbstsucht beruht. Im Gegenteil, wir müssen uns selbst sowie das, was wir hören und sehen, ständig bewerten und kritisch hinterfragen. Zweifel, mit dem Intellekt betrieben, um die Ursachen, die zur Wahrheit führen, tief zu ergründen und zu verstehen – das macht den Verstand klar, wie der Zweifel Einsteins beweist, der die Relativitätstheorie auf der Grundlage des Zweifels am Newtonschen Gravitationsgesetz hervorbrachte.

Zum Abschluss möchte ich Sie noch an einen Satz aus dem Film „Der Pate“ erinnern:
„Derjenige, der das Wesen der Dinge klar erkennt, und sei es auch nur für einige Sekunden, und derjenige, der das sein ganzes Leben lang nicht vermag, haben ein völlig unterschiedliches Schicksal.“

Fotos: Unsplash / Anirudh, Angela Bailey, Ivy Barn, Brendan Church

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