
Online – aber nicht verbunden
Schauen Sie auch alle paar Minuten auf Ihr Handy? Dann könnte es sein, dass Sie wirklich etwas verpassen. Gedanken zur wachsenden Sehnsucht nach echtem Leben und wichtige Fragen an Sie.
Hier erfahren Sie mehr über
- Wachsende Bildschirmsucht
- Echte Lebensqualität
- Wege zu mehr Selbstbestimmung
Text Jacob Weizman

Jacob Weizman ist Digital Balance Coach nach langjähriger Führungserfahrung im Bereich Sales und HR, Meditation und Achtsamkeit. Er gründete und leitete eine Nachhaltigkeitsorganisation, die den Publikumspreises beim Smart Hero Award 2022 gewann und für den Deutschen Engagement Preis 2023 nominiert war.
In Deutschland nutzen 95 Prozent der unter 60-Jährigen ein Smartphone.
Was als praktisches Werkzeug begann, ist für viele längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Der Griff zum Handy erfolgt wie von selbst – oft, ohne dass wir es überhaupt bewusst wahrnehmen.
Durchschnittlich alle elf Minuten entsperren wir einer Studie zufolge unser Smartphone. Täglich verbringen wir rund vier Stunden damit, quer über alle Geräte summiert ergibt das einer anderen Studie zufolge über 70 Bildschirmstunden pro Woche.
Noch vor fünf Jahren waren es 50.

Von der Nutzung zur Abhängigkeit
Das Smartphone fordert unsere Aufmerksamkeit, pausenlos. Es bringt uns an unsere Grenzen und über diese hinaus. Obwohl es noch keine 20 Jahre in unserem Leben da ist, kann sich kaum noch jemand ein Leben ohne vorstellen.
Doch wer benutzt hier eigentlich wen? Algorithmen analysieren unser Verhalten in Echtzeit. Sie kennen unsere Vorlieben oft besser als wir selbst.
Die Smartphone-Nutzung kann genauso zur Sucht werden wie Alkohol, Essen oder Glücksspiel. Verlust der Kontrolle, Zwang, Abhängigkeit: Die Muster sind dieselben.
Ein ständiger Begleiter – überall
Das Smartphone ist nicht einfach nur da, es ist allgegenwärtig. Es ist das Erste, was wir morgens berühren, und oft das Letzte, das wir am Abend zur Seite legen. Im Auto, auf dem Weg zur Arbeit, auf der Toilette, in der Mittagspause, beim Spaziergang, im Fitnessstudio, bei Familienfeiern oder auf dem Spielplatz mit unseren Kindern – der Blick wandert immer wieder aufs Display.
Es gibt scheinbar immer etwas zu sehen, zu erledigen, zu checken, zu verpassen. Jeder Leerlauf wird gefüllt, jede Pause überbrückt. Es ist mittlerweile schwierig geworden, Zeiten zu finden, in denen das Gerät keine Rolle spielt. Egal, ob an der Ampel, in der Schlange im Supermarkt oder im Restaurant, es zählt immer jede Sekunde.
Wir hetzen von hier nach da, von da nach dort, um am Ende nur wieder vor unseren Bildschirmen zu landen.

Wo bleibt das echte Leben?
Das Digitale hat uns fest im Griff. Wir eilen von Push-Nachricht zu Push-Nachricht – doch wohin eigentlich? Und wofür? Das Smartphone sollte uns Zeit freimachen. Doch gelingt es uns auch, es in diesem Sinne zu nutzen?
Wir sind heute vernetzter denn je – und fühlen uns gleichzeitig zunehmend isoliert. Nähe, Intuition, Natur und tiefere Verbindung – sie alle müssen oft warten. Aber worauf eigentlich? Weniger digital wird die Welt nicht mehr.
Umso wichtiger ist es, sich selbst wieder näher zu kommen und sich bewusst mit dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen – und eine Balance zu finden. Denn, wenn wir nur anderen beim Leben zuschauen und ständig reaktiv sind, vergessen wir leicht unsere eigenen Wünsche und Träume.
Bewusster Umgang statt Verzicht
Jede App ist darauf ausgelegt, uns möglichst lange auf der jeweiligen Plattform zu halten. Doch was kein Algorithmus dieser Welt besitzt, ist unser freier Wille. Wenn wir das erkennen, können wir dem gegensteuern.
Es geht nicht darum, das Smartphone zu verteufeln, sondern darum, wieder bewusst zu entscheiden, wann wir es nutzen – und wann nicht. Ob wir unser Smartphone 88-mal am Tag aktivieren oder nur 44- oder 22-mal – das macht einen Unterschied. Nicht nur messbar in Minuten, sondern spürbar in unserer Lebensqualität.
Und mal Hand aufs Herz: Verpassen wir wirklich etwas, wenn wir nur alle zwei Stunden auf WhatsApp schauen, anstatt fünf Mal pro Stunde? Oder verpassen wir vielleicht unser Leben, wenn wir es ständig tun? Die gewohnheitsmäßige Nutzung ist antrainiert. Doch was wir uns angewöhnen, können wir uns auch wieder abgewöhnen.

Fragen, die alles verändern können
- Wie digital soll mein Leben wirklich sein?
- In welchen Dingen unterstützt mich mein Smartphone?
- Wo habe ich meine größten Schwierigkeiten damit?
- Warum wünsche ich mir weniger Bildschirmzeit – und wonach sehne ich mich stattdessen? – Welche Tageszeiten erkläre ich ab sofort für bildschirmfrei – morgens, abends, beim Kochen, beim Spielen mit meinen Kindern?
- Wie viel Zeit möchte ich am Tag am Handy sein, und wie oft am Tag möchte ich es maximal aktivieren?
- Was möchte ich mit der gewonnenen Zeit tun?
Achtsamkeit statt Automatismus
Stellen Sie sich diese Fragen und machen Sie sich bewusst, wie Sie im Alltag Ihr Handy nutzen. Wann greifen Sie automatisch danach – und wann ganz bewusst aus echtem Bedarf? Welche Situationen verlangen wirklich Ihre digitale Präsenz, und welche könnten Sie wieder analog erleben?
Setzen Sie sich klare Ziele! Beobachten Sie, wie es sich anfühlt, wenn Sie weniger Zeit am Handy verbringen.
Wie verändert sich ein Spaziergang, wenn Sie Ihr Handy zuhause lassen?
Wie fühlt sich eine Trainingseinheit an, wenn Sie sie nicht tracken, sondern einfach nur für sich selbst tun – weil Bewegung guttut, nicht weil sie messbar ist?
Und wie ist es, sich hin und wieder ganz bewusst von der ständigen Erreichbarkeit zu lösen?
Wie verändern sich Ihre Erlebnisse und Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn Sie sich wieder mehr auf Ihr Gegenüber und auf sich selbst einlassen?
Das, was zählt, liegt jenseits des Displays
Das Smartphone wird bleiben. Aber wir können neu bestimmen, welche Rolle es in unserem Leben spielt. Das Digitale bringt so viel mit sich und doch sind es die einfachen und ursprünglichen Dinge, die Sinnhaftigkeit und Erfüllung in unser Leben bringen.
Das, was uns wirklich erfüllt, steckt nicht in einem Update. Es liegt nicht in einem Feed. Es wartet draußen, in echten Begegnungen und in uns selbst. Setzen Sie sich wieder ans Steuer. Entscheiden Sie sich bewusst, mit welchen Dingen Sie Ihre Zeit füllen möchten und mit welchen nicht. Das entscheidet kein Algorithmus, das dürfen Sie selbst tun. Sie haben sich dieses Verhalten antrainiert – Sie können es auch verändern. Mit Bewusstsein. Mit Willen. Mit Disziplin.
Der Automatismus, jedem Impuls nachzugeben und ans Handy zu gehen, wird verblassen und Sie werden einen natürlicheren Umgang mit dem Digitalen finden.
Bis es soweit ist: Bleiben Sie dran. Seien Sie achtsam. Beobachten Sie, was Sie zum Handy greifen lässt – und was Sie dort hält. Unterbrechen Sie den Kreislauf. Sie sind stärker als der Impuls! Bleiben Sie an Ihren Zielen dran und genießen Sie es, endlich mal wieder echte Pausen zu haben und füllen Sie diese mit den Dingen, auf die Sie intuitiv Lust haben und die Ihnen guttun.
Dann bestimmen Sie über das Smartphone – und nicht umgekehrt …
Fotos: Unsplash / AC, Giulia Bertelli, Creative Christians, Nick Fancher, Larm Rmah, Getty Images