PHILOSOPHIE IN KRISENZEITEN
Wie können wir uns für Herausforderungen und Krisen wappnen? Der Grundgedanke der Philosophenschule Stoa kann dabei helfen, ruhig zu bleiben und innere Stärke zu entwickeln.
Hier erfahren Sie mehr über
- Krisenbewältigung
- Entscheidende Freiheit
- Befreiung von Ressentiments
Text Ariane Gärtner
Ariane Gärtner studierte Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaften und Philosophie. Zudem ist sie als Start-Up Investorin, Business Angel und Unternehmensberaterin tätig.
Es scheint, als befänden wir uns mitten in einer neuen Epoche, in der eine Katastrophe auf die nächste folgt, die uns aus der Illusion friedlicher Krisenlosigkeit hinauskatapultiert und eine psychische Widerstandskraft abverlangt, von der zumindest der in der westlichen Hemisphäre lebende Mensch nicht dachte, sie je wieder aufbringen zu müssen. In Krisenzeiten äußerer Unwägbarkeiten, müssen wir uns das innere Rüstzeug zulegen, das uns dabei hilft, Ruhe zu bewahren. Sich nicht von Menschen oder Ereignissen, von Außendingen, beeinflussen zu lassen und sich dem Schicksal unerschrocken zu stellen, so der Grundgedanke der Stoa, macht resilient und innerlich frei.
Die Stoa – Eine Philosophenschule zur Krisenbewältigung und -prävention
Das Ziel der stoischen Lehre liegt genau hierin: in der Seelenruhe (Ataraxía), die aus einer unerschütterlichen Gelassenheit gegenüber äußeren Dingen, wie Lebensumständen und Schicksalsschlägen hervorgeht. Sie setzt voraus, dass man sich von Affekten frei macht (Apatheia), die diesen Zustand gefährden und unsere Urteilskraft verzerren. Wer jetzt bereits den Einwand bringen möchte, dass das Leben ohne Affekte doch eine ziemlich freudlose Veranstaltung sei, hat selbstredend recht.
Den Stoikern ging es jedoch nicht um die Beseitigung sämtlicher Affekte, sondern darum, sich aus einer Warte der Distanz zu den eigenen Emotionen von negativen Affekten zu lösen. Dieses Prinzip griff im letzten Jahrhundert unter anderem der Psychologe Albert Ellis, neben Aaron Beck der Begründer der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie, in der Entwicklung seines Therapieansatzes auf, welcher dabei helfen soll sich von Denkmustern und Überzeugungen zu befreien, die der psychischen Gesundheit schaden.
Stoa: Die praktische Lebensphilosophie
Heute gibt es über die klassische Therapie hinaus diverse Apps und Bücher, die den Nutzer unter anderem mit stoischen Gedanken und stoischen Lebensregeln zum gelassenen Leben anleiten wollen. Dem Stoizismus haben im letzten Jahrzehnt darüber hinaus spitzfindige ehemalige Marketingmanager wie Ryan Holiday zur Renaissance verholfen, der auf seinem Youtube Kanal Daily Stoic in regelmäßigen Abständen stoische Aphorismen zur Weisheit zum Besten gibt, Bücher über stoische Tugenden verfasst und Seminare für Selbstoptimierungswillige an der Wallstreet, für NBA Teams oder im Silikon Valley leitet, die sich vom Stoizismus höhere Leistungsfähigkeit durch psychische Widerstandskraft versprechen.
Dabei ist die stoische Lehre genau das nicht: sie versteht sich zwar als Anleitung zur Verbesserung des Selbst, aber nicht zum Zweck des Profitstrebens, sondern der Charakterfestigkeit, der Fähigkeit alltäglichen Aufgaben besser gewachsen zu sein, pflichtbewusst und gerecht zu handeln. Die Stoa verstand sich immer als praktische Lebensphilosophie, die den Fokus nicht auf Äußerlichkeiten, sondern die innere Haltung legt. Entscheidend ist die Praxis, die erfordert, sich in den vier Kardinaltugenden Mut, Gerechtigkeit, Mäßigung und Weisheit zu üben. In anderen Worten: Es geht nicht darum, wie man sich abhärten kann, um der Erfolgreichste zu werden, sondern darum, die Größe der Seele zu pflegen.
Das stoische Selbst ist kein ruhmsüchtiger Karrierist, sondern Minimalist, der das Gute und Schöne zwar zu schätzen und genießen weiß, aber auch damit zurechtkommt, wenn es plötzlich nicht mehr da sein sollte. Es handelt vernünftig und wohlüberlegt, stellt seine Zeit und Kraft in den Dienst der Allgemeinheit. Er ist gewissermaßen die Antithese zum infantilen, seine subjektiven Befindlichkeiten in die Weiten des Internets hinausposaunenden Konsumist, der auf der Suche nach Bestätigung und einem Ausweg aus der eigenen Bedeutungslosigkeit ist.
Lernen von der Stoa
Was kann man also von der Stoa lernen? Werfen wir einen Blick auf ihre wichtigsten Leitsätze:
1. Wir haben die Freiheit zu entscheiden, wie wir uns zu Situationen stellen wollen. Oder: Begreife die Krise als Chance.
„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Meinung, die wir von den Dingen haben.“(Epiktet)
Mit anderen Worten: Wir haben selbst in der Hand, wie wir das Geschehen um uns herum beurteilen wollen, über was wir uns aufregen und wovor wir Angst haben. Ich kann einen Vorfall als Anlass zur Krise nehmen, oder aber als Chance sehen. Ein Jobverlust mag den einen in eine tiefe Sinnkrise stürzen, von der er sich erst Monate später erholt, andere wieder begreifen Veränderung als Chance, sich weiterzuentwickeln und an der Herausforderung zu wachsen.
Ohne Herausforderungen würden wir doch eine völlig langweilige Existenz leben, keine Lebensklugheit entwickeln! Veränderung muss uns keine Angst machen, solange wir ihr nur mit der richtigen Einstellung begegnen und unsere Schritte mit Bedacht wählen. Leben ist Veränderung. Wer Veränderungen als unausweichlich akzeptiert, muss sie weniger fürchten. Wenn wir uns bewusst machen, dass Verluste und Abschied zum Leben gehören, werden sie vielleicht immer noch schmerzen, wenn sie eintreten, aber ich kann sie leichter akzeptieren. Wut oder Angst sind schlechte Ratgeber und ich habe die innere Freiheit selbst zu entscheiden, ob sie das Mittel der Wahl sein müssen, oder ob ich mich von meiner Angst distanzieren will und der Situation stattdessen lieber mit Neugier begegne. Versuchen Sie über jede Herausforderung dankbar zu sein!
2. Wichtig ist nur, was jetzt ist. Oder: Lebe jeden Tag als wäre er Dein letzter.
„All Dein Denken und Handeln sei so ausgerichtet, als könntest Du jederzeit aus dem Leben scheiden. […] Darum zeige zu jeder Zeit in deinen Handlungen einen festen Charakter, einen ungekünstelten, sich selbst nicht verleugnenden Ernst, ein Herz voll Freiheits- und Gerechtigkeitsliebe. Verscheuche jeden anderen Gedanken, und das wirst Du können, wenn Du jeden Moment als Deinen letzten betrachtest.“ (Marc Aurel)
„Wieviel Zeit bereits vorüber ist, ihr verschwendet sie, als wäre sie unerschöpflich.“ (Seneca)
Man sollte sich bewusst machen, dass jeder Tag der letzte sein könnte. Wenn wir uns im Klaren darüber sind, dass es keine Garantie auf ein „morgen“ gibt, hören wir auf, Wichtiges aufzuschieben und verrichten unsere Arbeit so, als wäre heute die letzte Gelegenheit dazu.
Wenn wir die Tendenz haben, uns unnötig zu verzetteln, fällt es irgendwann schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Wir müssen lernen zu priorisieren und Nein zu sagen. Sonst fangen unerledigte Aufgaben an sich zu stapeln, unsere To-Do Listen werden länger und wir belasten unsere Psyche mit Dingen, auf die man verzichten kann. Kommen dann unvorhergesehene Dinge auf uns zu, sind wir weniger widerstandsfähig. Also: beschränken Sie sich auf Wesentliches und erledigen Sie das Wenige so, als hätten Sie heute die letzte Chance dazu. Dann kann Ihnen auch Unvorhergesehenes weniger anhaben.
3. Amor Fati (die Schicksalsliebe). Oder: Versuche nicht die Dinge kontrollieren zu wollen, die du nicht beeinflussen kannst.
„Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei. […] Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du es wünscht, sondern wünsche, dass es so geschieht, wie es geschieht.“ (Epiktet).
„Nichts ist so schlimm, dass es ein gefasstes Herz nicht ertragen könnte.“ (Seneca)
Versuche nicht, unter Kontrolle zu bringen, was Du nicht ändern kannst! Das bedeutet keinesfalls, dass wir nicht verantwortlich sind für das, was geschieht! Im Gegenteil. Wir sollten auf alles vorbereitet sein und damit rechnen, dass wir jederzeit alles verlieren könnten. Seneca selbst, der einer der wohlhabendsten Männer Roms war, lebte deshalb in regelmäßigen Abständen in Abkehr von jeglichem Komfort, um sich immer wieder bewusst zu machen, dass er nicht abhängig von diesen Dingen war. Er wusste, dass es weise ist, sich emotional von Materiellem unabhängig zu machen. Zu viel davon belastet nur und schürt unnötig die Angst davor, Dinge zu verlieren, deren Verlust wir eigentlich nicht fürchten müssten, weil sie im Grunde weder gut noch übel sind.
Negative Visualisierung
Die Stoiker praktizierten außerdem, was man negative Visualisierung nennt. Das bedeutet, sich regelmäßig gedanklich in Situationen hineinzuversetzen, vor denen wir Angst haben, und mental zu simulieren, wie wir mit ihnen umgehen würden, würden sie tatsächlich eintreten. Stellen Sie sich also ruhig vor ihrem geistigen Auge vor, wie es wäre, würde Ihr Projekt scheitern. Wäre das tatsächlich das Ende der Welt? Wie könnte Plan B aussehen? Wenn Sie wissen, dass Sie auch das überstehen könnten, gehen Sie die Dinge weniger verbissen und mit der nötigen Gelassenheit an.
Negative Visualisierung hilft, sich Herausforderungen mit Mut zu stellen und macht stark, weil wir wissen, dass wir die Fähigkeiten haben, Katastrophen durchzustehen. Je schneller ich etwas akzeptieren kann, wie es ist, desto schneller kann ich mich fragen, was zu tun ist, anstatt wertvolle Zeit mit Jammern zu vergeuden. Proben Sie also den Ernstfall, am besten nicht nur mental! Suchen Sie die Herausforderung, statt sie zu vermeiden, um herauszufinden, was Sie besten können. Muskeln wachsen, wenn sie beansprucht werden. Stellen Sie sich ihre psychische Widerstandskraft also wie ein Krafttraining vor. Versuchen Sie jeden Tag, sich einer bestimmten Angst zu stellen, um die Kraft aufzubauen, sie zu überwinden – dann kann Ihnen das Schicksal nichts anhaben.
4. Wähle mit Bedacht, wie und mit wem du deine Zeit verbringst.
„Nicht das Leben ist zu kurz, wir machen es dazu. Wir sind nicht zu kurz gekommen: wir sind vielmehr verschwenderisch. […] Ihre Güter lassen sie von niemandem in Beschlag nehmen, was aber ihr eigenes Leben betrifft, so lassen sie andere in dasselbe eingreifen.“ (Seneca)
Das Leben ist viel zu kurz, so beklagen wir uns oft. Seneca bemerkt dazu, dass das Leben lang genug ist, wenn man es nur recht zu nutzen weiß. Es gibt verblüffenderweise nichts, womit wir so verschwenderisch umgehen wie mit unserer Zeit, dabei ist sie das Kostbarste, was wir haben und verschenken können. Wir langweilen uns, verschwenden unsere Zeit, indem wir uns Ablenkungen hingeben, die für Unterhaltung sorgen sollen, lassen uns plan- und ziellos treiben, anstatt uns auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt.
Wir sollten ein (der Gemeinschaft dienliches) Ziel haben, auf das sich unsere Gedanken und Wünsche richten können. Führen Sie einfach einmal einige Zeit lang Tagebuch und notieren Sie akribisch, wofür Sie eigentlich wieviel Zeit aufwenden. Was ist von den vielen Stunden, die sie im Netz surfen, wirklich an Wertvollem hängengeblieben, dass sich solche Ablenkungen gelohnt hätten? Müßiggang kann man auch sinnvoll gestalten: ein Spaziergang in der Natur hilft im Gegensatz zu Social Media dabei Lebensenergie aufzutanken, und ist daher keine Zeitverschwendung. Denn: Wer mehr Energie für Wesentliches übrig hat, ist resilienter!
Wenn Zeit so kostbar ist, sollten wir außerdem lernen, mit Bedacht zu wählen, mit dem wir sie teilen wollen. Seneca rät deshalb: „Vor allem meide man solche, die über alles und jeden jammern, denen jeder Anlass für Klagen recht kommt.“ Freundschaften sind wichtig, um krisenfest dazustehen, aber wer ständig von negativ gestimmten Menschen umgeben ist, lässt sich nur in seiner eigenen Ruhe stören. Verbringen Sie lieber Zeit mit denen, die Ihnen guttun und umgekehrt.
5. Die Gemeinschaft, das Gemeinwohl zählt und nicht Dein Ego.
„Das Wohl eines vernünftigen Wesens liegt in der menschlichen Gesellschaft. […]
Die Feindschaft der Menschen untereinander ist wider die Natur; Abscheu in sich zu fühlen, ist eine Feindseligkeit.“ (Marc Aurel)
Es geht im Leben nicht um den Ruhm des Einzelnen, seinen Geltungsdrang, der die Quelle von Neid und Übel ist, sondern darum zu fragen, wie wir das Leben in der Gemeinschaft verbessern können. Für die Stoiker ist jeder von uns Teil eines großen Ganzen, jeder und alles ist im Kosmos miteinander verbunden. Wer also seinen Mitmenschen absichtlich schadet, schadet sich am Ende selbst, weil er die Gemeinschaft als Ganze schwächt. Vergessen Sie nicht: jeder hat sein Päckchen zu tragen (siehe Punkt 3). Wir sollten aufhören, uns mit der Meinung der Menschen über uns zu beschäftigen und lieber fragen, was wir tun können, um die Gemeinschaft zu stärken.
Wir sollten, so Marc Aurel, stets streng mit uns selbst sein, um unseren Charakter zu schulen, aber milde zu unseren Nächsten. Andere zur Verantwortung zu ziehen ist durchaus wichtig, wenn es angemessen ist; dies dient der Gesellschaft und der Moral, aber anschließend sollte man auch bereit sein zu vergeben. Die meisten Fehler werden aus Unwissenheit begangen, nicht aus Böswilligkeit. Diese Weisheit ist übrigens auch bekannt als Hanlons‘ Razor.
Mehr vergeben! Auch uns selbst
Vergebung dient in erster Linie auch uns selbst, so Seneca, denn die Wut über (eingebildete) Verletzungen hält meist länger an, als der Schmerz, der uns zugefügt wurde, selbst je andauern würde, ließe man ihn vorübergehen.
Das Gegenteil bewies ausgerechnet Senecas berühmtester Schüler: Kaiser Nero. Nero, ein allseits gefürchteter Choleriker, verfolgte in seiner Rachsucht nicht nur Christen und ließ seine Mutter ermorden, sondern steckte einem sich hartnäckig haltenden Gerücht zufolge auch noch Rom in Brand. Ironischerweise verfasste Seneca ein Werk mit dem Titel: De Ira („über den Zorn“).
Also, seien Sie nicht wie Nero, sondern lieber wie der für seine Charakterstärke verehrte Marc Aurel: bemühen Sie sich ehrlich um Wohlwollen und um Frieden und befreien sich von kleinkarierten Ressentiments! Sind wir nachtragend, verlängern wir doch eigentlich nur die Dauer, die uns der Schmerz über ein Unrecht plagt, das in Wirklichkeit selten so groß ist, wie wir zunächst glauben (siehe Punkt 1!). Zusammenhalt ist am Ende das wichtigste Gut, das wir haben, um Krisen gemeinsam zu meistern.
Literaturempfehlungen: Marc Aurel, Meditationen; Epiktet, Handbuch der Moral; Seneca, Von der Kürze des Lebens.
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