Lebendige Pilzkultur

„Pilze können helfen, die Welt zu bewahren“

Myzel ist ein multifunktionales Netzwerk, durch das Pilze eng mit ihrer Umgebung verbunden sind. Die italienische Firma „SQIM“ nutzt es als Bio-Material, um Akustikpaneele und eine Leder-Alternative herzustellen – Design im Einklang mit der Natur.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Pilze als Bio-Material
  • Das Potenzial von Myzelen
  • Naturnahe Herstellungsprozesse

Text Antoinette Schmelter-Kaiser

Maurizio Montalti

Maurizio Montalti hat Ingenieurswesen in Bologna und Conceptual Design in Eindhoven studiert. 2010 gründete er in Amsterdam die interdisziplinäre „Officina Corpuscoli“, mit der er zahlreiche Preise gewann. Mittlerweile ist er auch Chief Mycelium Officer der italienischen Firma „SQIM“.

Bei Spaziergängen durch den Wald nimmt man im Sommer und Herbst zuerst ihren erdig-aromatischen Geruch wahr. Dann entdeckt man sie zwischen Moos und Gras: Maronenröhrlinge, Parasol, Pfifferlinge, Rotkappen, Schopftintlinge, Spitzmorcheln, Fliegen- und Steinpilze.

Bei den Hüten, Knollen, Röhren oder Krusten all dieser Pilzarten handelt es sich aber nur um die sichtbaren Fruchtkörper.

Im Boden verbirgt sich ein weitreichendes Netzwerk aus mikroskopisch kleinen, fadenförmigen Zellen. Diese nennen sich Hyphen und bilden in ihrer Gesamtheit das Myzel. Im Extremfall mehrere Quadratmeterkilometer groß und Jahrtausende alt, dient es zur Nährstoffaufnahme in abgestorbenen Organismen, Verankerung und Ausbreitung – ein multifunktionales, fein austariertes System, durch das Pilze eng mit ihrem Umfeld verbunden sind.

Lederjacke mit einem Pilzgeflecht auf dem Rücken

Verantwortung für Auswirkungen der Arbeit

Dieser fortwährende Lebenszyklus von Wechsel Werden und Vergehen war es, der bei Maurizio Montalti die Faszination für Pilze weckte. Nach einem Abschluss im Ingenieurswesen machte er im holländischen Eindhoven an der Design Academy zusätzlich seinen Master und hinterfragte dabei die Rolle des Gestalters:
„Wir sollten nicht länger Produkte entwerfen, ohne uns Gedanken über deren negative Einflüsse durch umweltschädliche Materialen zu machen. Stattdessen müssen wir mehr Verantwortung für die Auswirkungen unserer Arbeit übernehmen.“
Auf der Suche nach Alternativen beschäftigte er sich in seiner Abschlussarbeit mit einer neuen Bestattungskultur und der Fähigkeit von Pilzen, organische und anorganische Materialien zu zersetzen.

„Ich war kein Experte in diesem Gebiet“, blickt der heute 43-Jährige zurück. Aber je länger er recherchierte, desto größer wurde sein Verständnis – bis zu einem Wendepunkt, an dem ihm klar wurde:
„Pilze verwerten nicht nur vermeintlichen Abfall. Sie schaffen daraus auch mit Pilzbiomasse etwas Neues, indem sie Restsubstrate als Nahrung nutzen.
Alles in allem ist das eine faszinierende Kreislauflösung.“

  • The Growing Lab
  • Maurizio Montalti Pilze

Transfer in die Praxis

Als Maurizio Montalti 2010 seine „Officina Corpuscoli“ in Amsterdam gründete, wurden daher das Studium und die Entwicklung Myzel-basierter Technologien zu einem Schwerpunkt des multidisziplinären Studios, das die Kombination von Designforschung und künstlerischem Ausdruck prägt.

Dafür sprachen drei Dinge:
Myzel besteht aus „Organismen, die schnell wachsen. Myzel kann organische Abfälle verwerten, indem diese verdaut werden. Und Myzel bildet ein strukturelles Geflecht, das während seines Wachstums gesteuert und später weiterverarbeitet werden kann“, erklärt Maurizio Montalti.

2015 folgte dann als nächster Schritt „der Transfer in die Praxis“. Sein Ziel: diese neue Art der Herstellung von umweltfreundlichen Materialien und Produkten in industriellem Maßstab möglichst vielen Menschen zugute kommen zu lassen. Unter dem Markennamen Mogu werden seither aus Myzel Akustikpaneele zur Schallabsorption und Fußbodenbeläge hergestellt.
„Mogu basiert auf dem Glauben, dass es möglich ist, die Intelligenz der Natur zu nutzen, um das Design alltäglicher Produkte radikal zu verändern und ein besseres Gleichgewicht zwischen dem vom Menschen Geschaffenen und den Rhythmen des natürlichen Ökosystems zu finden. Unser Ziel ist es, die Natur den Menschen näher zu bringen und die Bedürfnisse des täglichen Lebens sowohl in funktioneller, als auch in ästhetischer Hinsicht zu erfüllen“, so die Philosophie, die beiden Produkt-Linien zugrunde liegt.

Radical by Nature

Herstellung in mehreren Stufen

Ihr Herstellungs-Prozess umfasst mehrere Stufen: Pilzkulturen werden im Labor auf festen Nährböden in Petrischalen oder in flüssigen Schüttelkulturen gezüchtet. Mit diesen werden Substrate wie Stroh, Hanf oder andere Reststoffe aus der Landwirtschaft geimpft, woraufhin die Mischung zunächst in großen Beuteln als einem in sich geschlossenem System wächst. Wenn es reif ist, wird es gemahlen und in speziellen Formen verteilt, wo es sich auf die gewünschte Größe, Dichte und Volumen ausdehnt. Durch langsames Trocknen entsteht ein Komposit aus Substrat und Myzel, dessen Oberfläche anschließend veredelt wird.

Für ein weiteres Material namens EPHEA wird der Grundmischung aus Myzel und Substrat püriert und die dickflüssige Masse in Bioreaktoren ausgebreitet. Dort wächst sie als Schicht weiter, die dann ebenfalls getrocknet und mit einem Grüne Chemie-Prozess zu einem homogenen, langlebigen und hochwertigen Gewebe verarbeitet wird.
Aus ihm schneiderte zum Beispiel das französische Modelabel Balenciaga einen kommerziell vertriebenen Mantel für seine Winterkollektion 2022.

Anpassung wichtiger Parameter

„Wir haben mit zahlreichen Testläufen Verfahren entwickelt, um bei der Myzel-Herstellung Parameter wie Raumtemperatur, Nährstoffzufuhr, Luftfeuchtigkeit, Gasaustausch und pH-Wert optimal anzupassen. Die Haupt-Pilzstämme, mit denen wir arbeiten, haben sich aus unserer Sammlung von über 350 als besonders geeignet herauskristallisiert,“ erklärt Maurizio Montalti, der mittlerweile Chief Mycelium Officer der von ihm mitgegründeten Firma „SQIM“ und dort für den Bereich Forschung und Entwicklung neuer Produkte und Technologien zuständig ist.

„Wir wissen viel, aber noch nicht alles. Auch wenn wir den Prozess mit absoluter Genauigkeit kontrollieren möchten, gibt es immer wieder unvorhersehbare Überraschungen. Aber das ist Teil der Arbeit mit Biologie, bei der man Schritt für Schritt mehr über Pilze und ihr Verhalten lernt.“

Eine weitere Herausforderung sind die begrenzten Produktionskapazitäten und die Zeit, die für die Skalierung einer innovativen Technologie benötigt wird.
„Derzeit beliefern wir mit Mogu und EPHEA vor allem Kunden in gehobenen Marktsegmenten“, sagt Maurizio Montalti.
„Ziel ist es aber, unsere Produkte für jedermann erschwinglich zu machen, denn nur so kann man wirklich etwas verändern. Für größere Mengen und niedrigere Preise brauchen wir noch einige Jahre, viel engagierte Arbeit und mehr finanzielle Mittel.“

Bisher hat SQIM neben eigenen Einnahmen von finanziellen Beiträgen aus EU-geförderten Projekten sowie Venture Capital-Investoren profitiert. Anfang 2024 schloss das Unternehmen seine Serie-A-Finanzierungsrunde ab, in der es elf Millionen Euro Kapital erhielt.

Das Zukunftspotenzial der Myzele

Beim Blick in die Zukunft ist Maurizio Montalti zuversichtlich. Das Potenzial von Myzel-basierten Biomaterialien als Basis für umweltverträglichere Produkte hält er für sehr groß, die Chancen spannender Entdeckungen und Neuentwicklungen ebenso.

„Es gibt Millionen von Pilzarten, von denen nur ein Bruchteil bekannt ist,“ so Maurizio Montalti. „Unser Team möchte zur Erweiterung des Wissens über Pilze beitragen. Wir isolieren oft wilde Arten, um sie zu untersuchen und ihr Potenzial für die Anwendung im Materialbereich, aber auch in anderen wie dem Lebensmittelsektor zu verstehen.“

Die Neugier, weiter in das „faszinierende Königreich der Pilze“ einzudringen, treibt ihn nicht nur bei seiner Arbeit für „SQIM“ und „Officina Corpuscoli“ an, für die er zwischen dem italienischen Inarzo und Amsterdam pendelt. Zusätzlich spricht er oft in Vorträgen über Myzel als Möglichkeit, Produkte gemeinsam mit der Natur und nicht zu ihren Ungunsten herzustellen.

„Pilze können sicherlich dabei helfen, die Welt vor unseren schändlichen Auswirkungen zu bewahren. Doch auf dem Weg weiter ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir ihnen aufmerksam ‚zuhören‘, um schließlich wie sie zu denken und zu handeln – als Leben, mit dem Leben und für das Leben“, ist Maurizio Montaltis Überzeugung. Dass er seinen Teil dazu beitragen kann, macht ihn zufrieden und stolz.

Fotos: Officina Corpuscoli / Maurizio Montalti, Ephea, Mogu

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