Das Revival des Postmaterialismus und seine Grenzen
Seit etwa 50 Jahren können wir uns einen gewissen Postmaterialismus leisten. Wenn wir ihn erhalten wollen, müssen wir zuerst materialistisch handeln.
Text Julian Rautenberg
Julian Rautenberg ist Leiter Private Banking bei der Privat-
bank DONNER & REUSCHEL. Er hat Betriebswirtschaft, Politik und Philosophie an der LMU München studiert. Für Purpose schreibt er regelmäßig über wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen.
Infolge der sogenannten 68er Bewegung entwickelte der Soziologe Ronald Inglehart von der Universität Michigan in den 1970er Jahren eine Postmaterialismusthese. Vereinfacht besagt sie, dass mit steigendem Reichtum einer Gesellschaft sich diese langsam von materiellen Zielen abwendet und postmaterielle Werte zunehmend wichtiger werden. Mit dem Wohlstand kommt demnach das Interesse an nichtmateriellen Ideen, Werten und Lebensweisen auf.
Eine zentrale Kritik zu dieser Ansicht besteht darin, dass Inglehart die Faszination der Konsummöglichkeiten übersehen zu haben scheint. Man kann bei steigendem Einkommen zwar nicht doppelt so viel essen, aber doppelt so groß wohnen, sich mehrere Fernseher in die Wohnung stellen, zwei Autos besitzen und jährlich rund um die Welt fliegen.
Dies zu verkennen bleibt ein struktureller Fehler der Theorie und erklärt zu einem gewissen Teil, warum der Gegensatz zwischen Postmaterialismus und Materialismus bis heute bestehen geblieben ist. Doch um welche Gegensätze handelt es sich hierbei konkret?
PostMaterialistische Werte
Postmaterialistische Werte umfassen zum Beispiel: Selbstverwirklichung, freie Meinungsäußerung, Verbesserung der Umwelt, soziale Solidarität und Anerkennung jenseits materieller Güter, mehr Einfluss der Bürger und Mitbestimmung, Gleichheit aller, Konsensorientierung, eine freundliche, offene und tolerante Gesellschaft.
Typische Werte, die dem Materialismus zugeordnet werden, sind demgegenüber etwa: das Bedürfnis nach Sicherheit, Landesverteidigung, Katastrophenschutz, Verbrechensbekämpfung, Ruhe und Ordnung im gesellschaftlichen Umfeld, Risikovorsorge, eine gute Versorgungslage, Stabilität und Wachstum der Wirtschaft sowie der Einkommen und geringe Preissteigerungen.
Je nach persönlicher Situation und Definition können manche Aspekte der jeweiligen Seite stärker oder schwächer gewichtet werden oder auch gar keine Rolle spielen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es sich nur um eine grobe Kategorisierung von Werten handeln kann, wobei stets die Gefahr einer Ideologisierung besteht. So wird der Postmaterialismus auch häufig mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik gleichgesetzt, während der Materialismus in einer stereotypen Beschreibung mit einer mehr oder weniger blinden Marktgläubigkeit gleichgesetzt wird.
(Post-)Materialismus in Deutschland
Geprägt von den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit konzentrierten sich die Deutschen, ermöglicht durch den Marshallplan und die Währungsreform 1948, auf den persönlichen wirtschaftlichen Aufstieg. Der Satz „unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir“ verkörpert das Narrativ der 1950er und 1960er Jahre wie kein anderer. Es ging darum, etwas aufzubauen.
Heute, ca. 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, blicken wir auf ein wohlhabendes Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung glücklicherweise nicht mit unmittelbaren existentiellen wirtschaftlichen Ängsten zu kämpfen hat. Fachkräftemangel, gute Einkommen, Altersvorsorge und zu erwartende Erbschaften geben einer relativ breiten Bevölkerungsschicht Raum für neue Prioritätensetzungen, jenseits der unmittelbaren ökonomischen Ängste um die Existenzsicherung. Damit wurden hierzulande innerhalb einer relativ kurzen Zeit erst die materiellen Voraussetzungen für einen Postmaterialismus geschaffen.
Seit den 1970er Jahren veränderten sich parallel zu der Entwicklung in den USA die gesellschaftlichen Werte und Debatten auch in Deutschland. Beispielhaft seien hierfür nur einige davon herausgegriffen, wie das Entstehen der Anti-Atomkraft-Bewegung und der daraus folgenden Gründung der Partei Die Grünen, die Abschaffung des § 218 sowie die sexuelle Befreiung, die Akzeptanz neuer Lebensmodelle jenseits der klassischen Rollenbilder von „Vater-Mutter-Kind“ sowie etliche weitere gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse in den verschiedensten Bereichen.
Werte und Einstellungen sind nur bedingt Vermögensabhängig
In den letzten Jahrzehnten wurde deutlich, dass es bei der Einteilung der Gesellschaft in Materialisten und Postmaterialisten nicht ausschließlich um ökonomische Differenzierung geht, sondern vielmehr um die Einstellung zu den entsprechenden Werten.
Hierbei spielt die eigene ökonomische Lage zwar eine Rolle, oberhalb einer gewissen ökonomischen Grundversorgung gibt es jedoch kein klares Einteilungsmuster mehr, wer materiell oder postmateriell eingestellt ist. Dies hatte Ingelhart in seiner Theorie des Wertewandels mit „the silent revolution“ bereits beschrieben.
Die Datenlage und Definitionen zu sozioökonomischen Milieus unterscheiden sich je nach Betrachtung. Verschiedene Studien gehen von einem Anteil von bis zu 40 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, die tendenziell dem Lager der Postmaterialisten zuzuordnen sind. Eine ebenso große Gruppe tendiere eher zu materialistischen Werten.
Veränderung geschieht im Licht der Ereignisse
Jegliche Zuordnung von Personen in die beiden Kategorien wird zudem durch zwei entscheidende Faktoren erschwert.
Erstens: Menschen stimmen nicht zwangläufig allen Wertezuordnungen einer Seite zu. Sie können in der einen Thematik materialistisch eingestellt sein und in einer anderen postmaterialistisch.
Zweitens: die gesamtgesellschaftlichen Werte verändern sich im Laufe der Zeit über mehr oder weniger alle Mitglieder der Gesellschaft hinweg. Das beste Beispiel hierfür ist gleichzeitig das erfolgreichste postmaterialistische Thema Deutschlands – der Umweltschutz: Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, wie kontrovers in den 1970er und 1980er Jahren über Umweltschutzthemen diskutiert wurde, die heute „common sense“ sind. Standpunkte, für die früher Aktivisten demonstriert haben, sind heute in jedem Parteiprogramm des demokratischen Spektrums zu finden.
Ein Beispiel für eine gegenläufige Bewegung zeigen die Bereiche Sicherheitsbedürfnis und Landesverteidigung im weiteren Sinne. Im Lichte islamistischen Terrors und einer veränderten internationalen Verantwortung des vereinigten Deutschlands wurden zum Beispiel Auslandseinsätze der Bundeswehr zu akzeptierten Gegebenheiten, gegen die niemand mehr demonstriert. Werte und Einstellungen einer Gesellschaft verändern sich stets im Lichte der Ereignisse, seien sie politisch, wirtschaftlich oder – wie jüngst – in Form einer Epidemie.
Corona als Beschleuniger des PostMaterialismus?
Die Corona-Pandemie hat für einen relativ langen Zeitraum weite Teile des öffentlichen Lebens lahmgelegt. Der Zwangsverzicht zeigte vielen, dass die Größe des eigenen Autos oder Hauses, der Bestitz einer besonderen Uhr etc. nicht relevant ist, wenn es keiner mehr anschauen kann. Bewegungs- und Reisefreiheit wird wieder als echte Freiheit wahrgenommen und nicht als Selbstverständlichkeit, nachdem wir die Erfahrung geschlossener Grenzen in Europa gemacht haben.
Wir schätzen den Wert persönlicher Begegnungen, eines Restaurantbesuchs oder einer Theatervorstellung anders, nachdem wir ein Jahr mehr oder weniger zuhause saßen. Und ganz fundamental: wir schätzen den Wert der Gesundheit höher ein, nachdem wir genesen oder geimpft sind.
Und erst recht, wenn wir uns nahestehende Menschen verloren haben. Die Corona-Pandemie hat so viele Aspekte unseres Zusammenlebens nachhaltig verändert, dass damit auch eine Veränderung der Werteeinstellungen einhergeht.
Was wird sich für die Zukunft verändern?
Die Konsumgewohnheiten einer Gesellschaft drücken in vielen Facetten ihre Bedürfnisse und Werteeinstellungen aus. So ist es wenig verwunderlich, dass in den Phasen der harten Lockdowns viele Menschen ihr Geld für Einrichtungsgegenstände ausgaben. Der seit Jahren bestehende Trend des „Cocooning“, als Einrichtens des Zuhauses wie einen schützenden Kokon, hat damit seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Bei anderen Konsumtrends ist noch nicht erkennbar, wie lange und nachhaltig sie sein werden.
Eine besondere Aufmerksamkeit werden die Themen Gesundheit, Sport, Ernährung und Ästhetik behalten, die ebenfalls eher postmaterialistischen Werten zugeordnet werden können und durch Corona eine neue Bedeutung erfahren haben. In vielen Bereichen ist noch offen, ob wir wieder komplett zu den alten Gewohnheiten zurückkehren werden oder neue Prioritäten setzen.
Werden wieder viele Bundesbürger mehrfach im Jahr in den Urlaub fliegen oder sich bewusst für eine ausgedehnte Reise entscheiden oder ein Haus auf dem Land kaufen? Dies hängt ganz wesentlich an der Frage, wie sehr sich die Arbeitswelten in den nächsten Jahren verändern. (Am Ende dieses Beitrags können Sie meinen Artikel hierzu anklicken.)
Entsteht nach dem Postmaterialismus nun der Post-Corona-Materialismus?
wieviel Postmaterialsmus können wir uns ökonomisch leisten?
Die aktuelle politische und gesellschaftliche Stimmung lässt durchaus eine neue Lagerbildung in tendenziell postmaterialistische und tendenziell materialistische Fraktionen erkennen, sodass eine Gefahr der beiderseitigen Ideologisierung besteht.
Dies wird beim Thema Umweltschutz und Klimawandel deutlich. Wir haben in Deutschland einerseits einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Existenz des Klimawandels und der Dringlichkeit und Notwendigkeit seiner Bekämpfung. Über deren Art und Weise werden jedoch häufig ideologische Debatten geführt und gravierende energiepolitische Entscheidungen wie der Atomausstieg infolge des Reaktorunfalls von Fukushima und einer Landtagswahl in Baden-Württemberg quasi über Nacht gefällt.
Die Energiepolitik steht somit sinnbildlich für den Postmaterialismus-Konflikt und die Frage, wieviel Postmaterialismus wir uns ökonomisch leisten können?
Materialismus der 1950er im heutigen China
In einem globalen Wettbewerb mit Ländern wie China, wo die wertemäßige Bedeutung des Materialismus am ehesten mit dem Deutschland der 1950er Jahre vergleichbar ist, wird die Ignoranz ökonomischer Gegebenheiten über kurz oder lang zu gravierenden Problemen führen. China stellt aufgrund seiner Historie, seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl schon immer den Zusammenhalt des ganzen Reiches sowie die innere Ordnung über das Individuum.
Das Konzept einer individuellen Freiheit, wie sich in Europa seit der Französischen Revolution und der Aufklärung durchgesetzt hat, ist weitestgehend unbekannt. Für Chinesen bedeutet individuelle Entfaltung seit ungefähr 30 Jahren ausschließlich materieller Aufstieg und Konsum, individuelle Freiheitsrechte spielen hingegen in der Breite keine Rolle. Dies hat unter anderem der Umgang mit der Pandemie unterstrichen. Während in Deutschland über Datenschutz diskutiert wird, anstatt eine funktionale, digitale Nachverfolgung der Infektionsketten zu installieren, riegelt China für Monate ganze Stadtbezirke ab.
wieviel Postmaterialsmus können wir uns politisch leisten?
Man muss in keiner Weise mit dem chinesischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsmodell einverstanden sein, doch man muss anerkennen, dass unsere stark postmaterialistisch geprägten Prinzipien im direkten Vergleich disfunktional wirken. Neben dem Pandemiemanagement gäbe es zig andere Beispiele, wo in Deutschland Entscheidungen (zu) lange diskutiert und abgewogen werden. Daneben ist es nahezu naiv, einem materialistischen China mit einer postmaterialistischen Agenda entgegen zu treten.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beschreibt die Situation im militärischen Bereich treffend mit den Worten: „China wird bald die größte Wirtschaft der Welt haben. Sie haben bereits das zweitgrößte Verteidigungsbudget, die größte Marine. Sie investieren stark in fortgeschrittene militärische Ressourcen und sie teilen unsere Werte nicht.“
Angesichts solcher Analysen müssen wir uns die Frage stellen, wieviel Postmaterialismus wir uns politisch leisten können?
wie können wir postmaterialistische Werte erhalten?
Unsere, im internationalen Vergleich, relative Saturiertheit ist eine logische Konsequenz des wirtschaftlichen Erfolgs der letzten 70 Jahre. Wir werden schon allein aufgrund der demographischen Entwicklung weniger volkswirtschaftliches Wachstum erzielen als viele Länder Asiens. Dabei bleiben auch hierzulande die Herausforderungen enorm und deren Finanzierbarkeit wird sich nicht mit ideologischen Antworten erklären, sondern mit ökonomischen.
In der Außen- und Handelspolitik stehen wir als Deutsche und Europäer zwischen China und den auch unter Joe Biden eher materialistischen USA. Wir müssen daher als Staat und Volkswirtschaft mit einem gewissen Maß an materialistischen Eigeninteressen agieren, wenn wir uns dauerhaft den Spielraum für postmaterielle gesellschaftliche Werte erhalten wollen.
Als Einzelne können wir mehr oder weniger postmateriell eingestellt sein und dies mit einer entsprechenden Lebensführung verbinden. Als Gesellschaft und Staat können wir es nicht.
Nur ein gelungener Materialismus ermöglicht einen Postmaterialismus. Dies muss die Politik in ihrer Logik auch heute noch verstehen, anerkennen und anwenden.
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