VOM NEUEN PRIMAT DER POLITIK
„Das Private ist politisch“ kommt aus der Frauenbewegung, aber wir erleben jetzt wieder: Politik ist für jeden Bürger und jedes Unternehmen spürbar. Wir müssen wieder als „Citoyen“ denken.
Hier erfahren Sie mehr über
- Politische Beteiligung und Freiheitsrechte
- Die Re-Politisierung unserer Gesellschaft
- Sicherheits- und Energiepolitik
Text Julian Rautenberg
Julian Rautenberg ist Leiter Private Banking bei der Privatbank DONNER & REUSCHEL. Er hat Betriebswirtschaft, Politik und Philosophie an der LMU München studiert. Für Purpose schreibt er regelmäßig über wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen.
Der Satz „Das Private ist politisch“ wurde erstmals von der US-amerikanischen Feministin Carol Hanisch in der 1970 herausgegebenen Publikation „Notes for the Second Year: Women’s Liberation“ verwendet. Wie Hanisch betonte, geht der Slogan auf die beiden Herausgeberinnen der Publikation, Shulamith Firestone und Anne Koedt, zurück, die mit ihrer Veröffentlichung eine Sammlung feministischer Grundlagentexte vorlegten.
Hanisch schrieb über die Wichtigkeit sogenannter „consciousness-raising“-Gruppen, in denen Frauen über die verschiedenen Arten sprachen, auf die sie unterdrückt wurden. Im Fokus standen dabei persönliche Erfahrungen und Themen wie Sexualität und Mutterschaft. Ziel war es, diese Erfahrungen nicht als – im Zweifelsfall selbstverursachte – Einzelschicksale zu begreifen, sondern als Ausdruck eines gesellschaftlichen, patriarchalen Musters.
Das bekannteste politische Thema der zweiten Frauenbewegung, das weit ins Private vordringt, ist sicherlich der Streit um den „Abtreibungs-Paragraphen“ 218, der mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ seit 1971 prominent verhandelt wurde.
Politikverdrossenheit war ein Luxus-Symptom
Anhand des Slogans „Das Private ist politisch“ wird beispielhaft durch die Frauenrechtsbewegung deutlich, wie jahrhundertelang aus persönlichen Bedürfnissen heraus gesellschaftliche Entwicklungen voranschritten, politisiert wurden und schließlich zu politischen Veränderungen führten.
Dieser politische Grundgedanke gilt seit der französischen Revolution und der Aufklärung und findet sich auch im deutschen Grundgesetz prominent in Artikel 20, Absatz 2, wieder: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Der Grundsatz bezieht sich sodann darauf, dass die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (wird).“
Zu unser aller Glück hat sich hieran in den letzten Jahrzehnten nichts substantiell verändert.
Rund zwei Drittel (je nach Europa-, Bundestag- oder Landtagswahlen) der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland machte regelmäßig von dem heiligsten demokratischen Recht – der Stimmabgabe – Gebrauch, wählt Volksvertreter und delegierte damit in weiten Teilen auch die politische Teilhabe an die Parlamente. Das persönliche Leben war von politischen Entscheidungen, abgesehen von der ein oder anderen Steuererhöhung oder –senkung, nicht wirklich tangiert.
Wirtschaftlich ging es den allermeisten Deutschen sehr gut und die fortschreitende gesellschaftliche Liberalisierung (u.a. Homo-Ehe etc.) beseitigte weitere politische Kontroversen, sodass sich in der Ära Merkel der Begriff „Politikverdrossenheit“ etablierte. Hiermit wurde eine Entwicklung beschrieben, nach der die Gesellschaft immer unpolitischer wurde bzw. weniger politische Beteiligung stattfand. Dies steht im Zusammenhang mit dem Politikstil der langjährigen Kanzlerin und der immer geringeren Abgrenzbarkeit der Partei-Positionen, seitdem sich CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP mehr oder weniger um die sogenannte gesellschaftliche Mitte beworben haben und ihre Positionen einander immer mehr anglichen.
Ein fast zwanzigjähriger wirtschaftlicher Boom-Zyklus (mit einer kurzen Unterbrechung durch die „Lehman-Pleite“ 2008) trug zudem zu einem hohen Maß an ökonomischer Zufriedenheit und Sicherheit und damit politischer Schläfrigkeit bei.
Politische Beteiligung: Der „Bourgeois“ muss wieder als „Citoyen“ denken
Dazu passt, dass die politische Agenda der vergangenen 20 Jahre selten einen echten Einfluss auf das Leben der Menschen hatte. Der geistige Vater der französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, unterschied in seinen Überlegungen zu einem Gesellschaftsvertrag („Contrat social“) als Basis des Zusammenlebens zwischen dem Menschen als „Bourgeois“ einerseits und als „Citoyen“ andererseits. Während der Bürger als „Bourgeois“ an seinen eigenen Interessen orientiert ist und z.B. sein privates Eigentum schützt und mehrt, sind wir als Teil der Gesellschaft gemäß Rousseau „Citoyen“, die nicht ihr individuelles Interesse verfolgen, sondern das gemeinsame Interesse aller im Blick haben.
Zugespitzt formuliert, könnte man zusammenfassen, dass die Ära einer mindestens zwanzigjährigen „bourgeoisen Politikverdrossenheit“ von einer neuen politischen und gesellschaftlichen Phase abgelöst wird, in der wir wieder als „Citoyen“ denken müssen. Die Politik kommt wieder in unserem Alltag an, ob wir wollen oder nicht. Das Primat der Politik verändert unsere Gesellschaft.
Die Politik reicht ins Private: Merkels Migrationspolitik
Der Ausgangspunkt einer Re-Politisierung unserer Gesellschaft fand rückblickend ab dem Jahr 2015 statt, an dessen Ende rund 890.000 Migranten bzw. Schutzsuchende mehr oder weniger unkontrolliert, bzw. ohne einen expliziten demokratischen Entscheidungsfindungsprozess, in Deutschland registriert wurden. Die anfangs überwältigende Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der Deutschen wurden international anerkannt und waren Ausdruck des Gemeinsinns und des gemeinschaftlichen Verständnisses von Humanität in großen Teilen der deutschen Bevölkerung.
Das Engagement vieler Bürger und Organisationen in Deutschland hat gezeigt, wozu unsere Gesellschaft im positiven Sinne fähig ist. Nach einigen Monaten entspann sich eine mehrjährige, grundsätzliche Debatte um den Schutz unserer Außengrenzen und letztlich unserer Gesellschaft vor weiteren Kontrollverlusten seitens der staatlichen Institutionen. Um die zwischenzeitlich veränderte öffentliche Stimmung politisch zu beruhigen, hat man das Migrationsproblem dann relativ erfolgreich an den türkischen Despoten Erdogan outgesourced.
Am Ende haben sich weder der Alltag noch die Lebensumstände der wenigsten Deutschen durch den Migrationsstrom des Jahres 2015 wirklich nachhaltig verändert. Nach drei bis vier Jahren rückte die Migrationsthematik in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit immer mehr in den Hintergrund. Was blieb war die erstmalige Erfahrung seit Jahren, wie schnell politische Entscheidungen konkret in unser Privatleben, unser Leben als „Bourgeois“ hineinwirken können. Diese Erfahrung erreichte im Jahr 2020 eine bis dahin nie da gewesene Dimension.
Corona als politisches „Erweckungserlebnis“
Wir alle erinnern uns an die Maßnahmen der Regierung (in Deutschland wie auf der ganzen Welt) zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ab März 2020. Seit dem Untergang der DDR und der Wiedervereinigung gab es in Deutschland keine staatlichen Maßnahmen mehr, die so konkret in das Privatleben jeden einzelnen Bürgers hineingewirkt haben, wie die Ausgangssperren, Kontaktverbote und weiteren Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung.
Der heftige Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte der Bürger löste nicht nur in den Feuilletons verfassungsrechtliche Debatten aus. In jeder Familie, in jedem Freundeskreis wurde auf einmal über grundsätzliche demokratische Normen und die Abwägung öffentlicher Güter, wie Freiheit vs. Gesundheit bzw. Schutz des Lebens diskutiert. Abgesehen davon, dass in Deutschland Millionen von Bürgern über Virologie und später über die Sinnhaftigkeit von Impfungen diskutierten, fand eine breite gesellschaftliche und politische Debatte statt.
Dabei ging es um Wesentliches, auch im geschichtlichen Kontext. Wie stark darf ein Staat in das Leben der Bürger eingreifen? Ist das Regieren über Notverordnungen in diesem Maße verfassungskonform? Wird der Staat den Bürgern wieder alle Freiheitsrechte „zurück“ geben? Gipfelt der staatliche Paternalismus in einem Impfzwang? Die Corona-Politik war der Auftakt zu einer deutlichen intensiveren Auseinandersetzung der Bürger mit dem Handeln der Regierung. Es wurde klar, welche Dimension politische Entscheidungen selbst für einen „Bourgeois“ entfalten können. Dies führt zwangsläufig zu einer Re-Politisierung.
Die derzeitigen politischen Entwicklungen unterstreichen die Notwendigkeit, sich mit den Entscheidungen und dem Handeln der Regierung auseinander zu setzen.
Das Politische kehrt endgültig ins Private zurück
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und den darauffolgenden Westlichen Sanktionen und Gegenreaktionen Russlands, ist deutlich geworden, mit welche Naivität Deutschland in den letzten 30 Jahren Sicherheits- und Energiepolitik betrieben hat. In der Sicherheitspolitik müssen wir anerkennen, dass Deutschland und Europa ohne die USA nicht wirklich in der Lage sind, über militärische Optionen wirklich nachzudenken und sei es nur als Pfand in politischen Verhandlungen. Die Auswirkungen dessen werden in nächsten Jahren vor allem finanziell zu spüren sein.
Angesichts einer potentiell bedrohten Freiheit wurden Sonderschulden (kein Sondervermögen, wie es die Regierung nennt) über 100 Mrd. Euro für Rüstungsausgaben bewilligt. Ein Vorgang, der politisch und gesellschaftlich vor dem Februar 2022 unmöglich gewesen wäre. Unsere Gesellschaft hat innerhalb von Wochen die Notwendigkeit höherer Rüstungsausgaben anerkannt, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland im Übrigen seit Jahren vertraglich verpflichtet hatte. Zur Politik gehört auch die Anerkennung der Realität. Dies ist auf gesellschaftlicher Ebene erstaunlich schnell erfolgt.
Die Auswirkungen der Energiepolitik im Privaten
Deutlich gravierender für den persönlichen Alltag könnte in den nächsten Monaten die deutsche Energiepolitik einwirken. Es ist zu erwarten, dass Gas und ggf. auch Strom rationiert werden müssen, was eine gesellschaftliche und politische Zerreisprobe darstellen wird. Gibt man Privathaushalten den Vorzug vor der Industrie? Ist den Bürgern wirklich geholfen, wenn sie zwar in warmen Wohnungen sitzen, jedoch nicht mehr arbeiten können, da ihr Unternehmen die Produktion stilllegen muss? Sollen es ältere Menschen wärmer haben als Jüngere?
Diese wenigen Beispiel zeigen, was da auf uns wartet. Die Politik wird unter Umständen massiv in den Alltag der Bürger eingreifen. Genauso wird die Ökonomie politisch werden. Sollen industrielle Basisgüter produziert werden oder Konsumartikel? Soll die Energie eher zum Bierbrauen oder für die Herstellung von Süßigkeiten aufgewendet werden? Und reichen beim Bäcker nicht auch drei verschiedene Brotsorten als wie bislang 25? Dies sind sehr konkrete Fragestellungen, für deren Beantwortung wir nicht als „Bourgeois“, sondern als „Citoyen“ denken müssen.
Dies gilt nicht nur für die kurzfristige Energie-Allokation, sondern für die Energiepolitik der nächsten Jahre. Der politische und gesellschaftliche Wille zur energiepolitischen Unabhängigkeit und zur nachhaltigen Energieerzeugung wird weitere heftige gesellschaftliche Debatten und Entscheidungsfindungsprozesse erfordern. Ist Atomkraft für eine gewisse Zeit doch vertretbar? Stellen Windräder in meiner Heimatgemeinde wirklich in erster Linie eine Verschandelung der Landschaft dar? Ist Fracking evtl. auch in Deutschland doch eine Option? Wie transportieren wir die aus Windkraft gewonnene Energie aus dem Norden des Landes in den Süden?
All diese Fragen müssen in den nächsten Jahren nicht nur beantwortet, sondern auch als Lösungen umgesetzt werden. Wie diese Beispiele zeigen, werden dezentrale Energiekonzepte an vielen Stellen in die Lebenswirklichkeit der Bürger eingreifen. Es steht uns über Jahre und Jahrzehnte ein hochpolitischer Diskurs ins Haus, der direkt auf die Bürger einwirkt. Die Politik bestimmt die Agenda.
Wie das Primat der Politik die Wirtschaft verändert
Auch die deutsche Wirtschaft erlebt derzeit ein „new normal“ – einen Paradigmenwechsel hin zum Primat der Politik, so hat des BDI-Chef Russwurm in einem Interview für das Manager Magazin vor einigen Wochen selbst genannt. Nach 30 Jahren ökonomischer Globalisierung, internationaler Arbeitsteilung und Optimierung der Lieferketten über den gesamten Globus wurde die Fragilität des Systems durch die Corona-Pandemie, den anschließenden Ukraine-Krieg und die zunehmende Abschottung Chinas schmerzhaft deutlich.
Die Lieferketten sind aus dem Tritt, die Energieversorgung ist unsicher und die geopolitischen Risiken spielen eine zentrale Rolle bei strategischen Unternehmensentscheidungen. Siemens zieht sich nach über 130 Jahren Geschäftsaktivität aus Russland zurück, andere Unternehmen verlagern ihre Werke aus Asien wieder nach Europa. Dabei sind in erster Linie nicht ökonomische Optimierungen handlungsleitend, vielmehr gilt es, die Unternehmen resilienter, also widerstandsfähiger gegenüber politischen Risiken zu positionieren.
Hierfür müssen Unternehmenslenker viel stärker politisch denken, als dies bislang der Fall war. Eine Standortentscheidung für den Bau einer neuen Produktionsstätte wird nicht mehr im Wesentlichen danach getroffen, wo am billigsten produziert werden kann, sondern danach wo die Bedingungen ökonomisch akzeptabel und vor allem politisch so stabil wie möglich sind.
„Citoyen“ und „Corporate Citizen“- Unternehmen
Neben der Geopolitik werden vor allem die Sicherheits- und Rüstungspolitik, die Energiepolitik und die politischen Vorgaben zu Nachhaltigkeitsanforderungen die Leitplanken für unternehmerische Aktivitäten vorgeben. Wir werden in den nächsten Jahren ein Revival der Industriepolitik erleben, mit der die einzelnen Staaten bzw. verbundenen Wirtschaftsräume wie die EU ihre Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit gegenüber anderen Staaten und Wirtschaftsräumen sichern wollen.
Dies gilt neben der Energieversorgung und Rüstung für Schlüsseltechnologien wie Quantencomputing, Künstliche Intelligenz, Telekommunikation oder die kommerzielle Raumfahrt, in der sich ein neuer Wettlauf der Systeme abzeichnet. Unternehmen müssen sich damit auseinandersetzen, welche industriepolitischen Ziele ihr Heimatland verfolgt und ihr Handeln darauf ausrichten. Dies ist, zumindest für deutsche Unternehmen, eine weitestgehend neue Situation.
Das Primat der Politik erfordert auch von Unternehmenslenkern ein Denken als „Citoyen“. Die modernere Bezeichnung hierfür lautet „Corporate Citizen“ – Unternehmen werden als Bürger in die Pflicht genommen werden und müssen sich politisch positionieren bzw. unterordnen.
Wir werden in den nächsten Jahren einen fundamentalen Paradigmenwechsel erleben, in dem die Politik viel stärker in das Privatleben der Bürger und die Aktivitäten von Unternehmen hineinwirken wird.
Mit diesem „new normal“ müssen wir uns alle auseinandersetzen und wieder viel stärker politisch denken (lernen). Wir sind wieder als „Citoyen“ gefragt, nicht nur als „Bourgeois“. Trotz aller Risiken und Herausforderungen ist diese Entwicklung für eine lebendige Demokratie eigentlich keine schlechte Nachricht.
Fotos: iStock, Unsplash / Teemu Paananen, Khashayar Kouchpeydeh