Highway mit Blick auf den Ozean

Warum wir eine Zeitenwende erleben

Beseelt vom „Ende der Geschichte“ Anfang der 1990er Jahre haben Deutschland und Europa an einen „Wandel durch Handel“ geglaubt. Der jetzt nötige Kurswechsel erfordert eine Zeitenwende und bietet große Chancen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Den Rückzug des Postmaterialismus
  • Die Fehleinschätzung von China und Russland
  • Europäische Lösungen

Text Julian Rautenberg

Schwarz-Weiß-Bild von Julian Rautenberg.

Julian Rautenberg ist Leiter Private Banking bei der Privat­bank DONNER & REUSCHEL. Er hat Betriebs­wirtschaft, Politik und Philosophie an der LMU München studiert. Für Purpose schreibt er regelmäßig über wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen.

Vor rund einem Jahr habe ich an gleicher Stelle einige Gedanken zum Thema Postmaterialismus und seinen Grenzen veröffentlicht: Das Revival des Postmaterialismus. Bereits im Lichte der Corona-Pandemie stellte sich die Frage, wieviel Postmaterialismus wir uns als Gesellschaft und Staat leisten können. Die Überlegungen endeten mit der Schlussfolgerung: „Wir müssen daher als Staat und Volkswirtschaft mit einem gewissen Maß an materialistischen Eigeninteressen agieren, wenn wir uns dauerhaft den Spielraum für postmaterielle gesellschaftliche Werte erhalten wollen.“

In den letzten Monaten hat diese Grundlogik eine neue Dimension erreicht. Für uns alle war es unvorstellbar, dass wir in Europa über 75 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wieder einen territorialen Angriffskrieg erleben, denn nichts anderes ist Russlands Überfall auf die Ukraine.

Umso mehr lohnt sich der Blick darauf, wie es zu dieser historischen Zäsur kommen konnte, die zwangsläufig zu einer Zeitenwende führt, wie wir sie seit 30 Jahren nicht erlebt haben.

Die vermeintliche Gewissheit der eigenen Überlegenheit seit 1990

Der Ursprung ist im Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Pakts in den späten 1980er Jahren zu finden. Kein Buch steht so sinnbildlich für den Geist der 1990er Jahre wie die sehr populären Ausführungen von Francis Fukuyama mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ (engl.: End of History), die mit der Veröffentlichung 1992 zu einem breiten Diskurs und zu Kontroversen in den Leitartikeln etlicher westlicher Zeitungen führte.

Fukuyama vertrat – vereinfacht gesagt – die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen würden. Demnach hat sich die Demokratie als Ordnungsmodell behauptet, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, z.B. in Form von Wohlstand, Entwicklungsmöglichkeiten, etc. relativ gesehen besser befriedige als alle anderen Systeme. Damit sei ein historischer Kampf überwunden und das bessere System habe sich durchgesetzt.

In einer Mischung aus Übermut und Naivität ging der Westen von der dauerhaften Überlegenheit bzw. dem Sieg der eigenen Errungenschaften aus: Kapitalismus über Sozialismus, Demokratie über Ein-Parteien-Diktatur und freier Handel über Plan- bzw. Staatswirtschaft.

Wie man China falsch einschätzte

Wie einen Gral hat der Westen die Devise vom Wandel durch Handel vor sich hergetragen. Die Regeln der Ökonomie, so die Idee, beförderten weltweit Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ein Märchen und eine Lebenslüge, wie der Blick auf China zeigt, wo man vor allem von einem Zusammenhang von wirtschaftlichem und politischem Liberalismus ausgegangen ist.

Sinngemäß: durch die ökonomische Freiheit entsteht auch eine politische Freiheit, u.a. da auch Diktaturen irgendwann geistiges und materielles Eigentum ihrer Bürger und Marktteilnehmer schützen müssen. Gleichzeitig würden Unternehmertum und Wohlstand eine selbstbewusste Mittelklasse entstehen lassen, die politische Teilhabe und Rechte einfordern.

Es ist schon lange klar, dass die Volksrepublik sich nicht zur Marktwirtschaft entwickelt und keine politische Öffnung hin zu einer Demokratisierung durchläuft. Trotzdem musste Peking bis in die jüngere Vergangenheit kaum Konsequenzen fürchten.

Dabei ist eine andere Form von Wandel durch Handel längst Realität geworden: China führt mit seiner Wirtschaftsmacht die Demokratien vor. Es fordert politische Fügsamkeit, lockt mit Krediten, Investitionen oder Infrastrukturprojekten, bestraft Handelspartner und belegt europäische Parlamentarier und Forschungseinrichtungen mit Sanktionen. (vgl. Gerlinde Groitl, „Das Märchen vom Wandel durch Handel“, NZZ vom 15.06.2021).

Noch dramatischer: die Fehleinschätzung Russlands

Wozu Naivität und wirtschaftlich kurzsichtige Entscheidungen führen können, zeigt auf drastische Weise das Beispiel Russland. Als zentrales Ereignis der deutsch-russischen Beziehungen gilt die Rede Wladimir Putins im Deutschen Bundestag am 25.09.2001, also 2 Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September. Die Rede ist im Wortlaut nachlesbar: Deutscher Bundestag – Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins im Deutschen Bundestag am 25.09.2001.

Putin war im Übrigen der erste russische Präsident, der vor einem Deutschen Parlament sprach und tat dies noch dazu auf Deutsch, „der Sprache von Goethe, Schiller und Kant“, wie er selbst sagte. Selbstverständlich ist es rückwirkend immer einfacher, Sachverhalte anders zu bewerten und ex-post neue Rückschlüsse zu ziehen.

Putin hatte den USA als einer der ersten Staatschefs Solidarität im Kampf gegen den Terror zugesichert und u.a. folgenden Satz ausgeführt: „Die Welt befindet sich auf einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet zu sagen, dass wir unsere Stereotypen und Ambitionen loswerden, um der Bevölkerung Europas und der ganzen Welt Sicherheit zusammen gewährleisten.“

Generell und vereinfacht dargestellt, hat Putin in dieser Rede einen Bogen geschlagen, in dem er Russland als östlichsten Teil Europas darstellt, das für einen marktwirtschaftlichen, freiheitlichen, demokratischen und friedlichen Grundkonsens steht. Gerhard Schröders Bezeichnung Putins als „lupenreinen Demokraten“ bringt die Grundhaltung der damaligen Zeit zum Ausdruck.

  • Aufkleber mit der Aufschrift "Change ist coming".
  • Modell zweier Figuren mit roten Flaggen auf fahrendem Truck.

Putin, laut Gerhard Schröder der „lupenreine Demokrat“

Aus heutiger Perspektive muss sehr selbstkritisch bewertet werden, wie Deutschland und der Westen mit der russischen Außen- und Militärpolitik in den letzten 20 Jahren umgegangen sind. Zum Zeitpunkt der Rede im Bundestag führte Putin bereits seit zwei Jahren einen brutalen Krieg gegen die abtrünnig gewordene nordkaukasische Teilrepublik Tschetschenien, womit Putin seine Popularität in Russland stärkte.

Deutschland hat seine „strategische Partnerschaft“ mit Russland derweil vor allem auf den Bereich der Energieversorgung beschränkt und in Kauf genommen, dass sich Moskau auch nur die Ansprache von massiven Demokratie- und Menschrechtsdefiziten verbitten konnte.

Dramatischer, weil relevant für unsere eigene Sicherheit, war die fortwährende Naivität gegenüber der russischen Außen- und Militärpolitik – allerspätestens seit 2014, als Russland prorussische Kräfte in der Ostukraine massiv militärisch unterstütze, was schlussendlich zur Annexion der Krim und in der weiteren Konsequenz zum heutigen Krieg in der Ukraine führte.

Europäische Lösungen sind gefragt

Unsere aktuelle Ohnmacht bzgl. Russland – und ein Stück weiter auch gegenüber China – basiert im Wesentlichen darauf, dass Europa und allen voran Deutschland, drei Jahrzehnte eine postmaterialistische und naive Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine ebensolche Energie- und Handelspolitik verfolgt haben. Beseelt vom „Ende der Geschichte“ ist man zu stark von der Zwangsläufigkeit hin zu den eigenen Werten, Normen und Regeln ausgegangen. Demgegenüber steht nun die Erkenntnis, dass der Weltenlauf nicht zwangsläufig zu Frieden und Freiheit, zu Demokratie und freiem Handel führt.

Einige Perspektiven hierzu liegen auf der Hand. Der Gedanke einer europäischen Armee war bereits im Rahmen der Verhandlungen zu den römischen Verträgen zum Greifen nah und scheiterte 1954 (!) an der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung.
Zur neuen sicherheitspolitischen Realität gehört neben der militärischen Bedrohung durch Russland weiterhin auch die Notwendigkeit der Sicherung der EU-Außengrenzen als Schutz vor unkontrollierter Zuwanderung, bei der wir nach wie vor auf die Hilfe des ebenfalls nicht als Demokraten bekannten türkischen Staatspräsidenten Erdogan angewiesen sind. Es braucht europäische Lösungen in der Sicherheitspolitik, die nicht im Nationalstaaten-Kleinklein scheitern.

Eine europäische Armee muss die logische Konsequenz auf die aktuellen Entwicklungen sein. In diesem Kontext muss leider angemerkt werden, dass uns eine große Anzahl an Klimaflüchtlingen in Europa in wenigen Jahren nicht überraschen sollte. Im Augenblick spricht wenig dafür, dass Maßnahmen zur CO-Reduktion ausreichend schnell umgesetzt werden, um eine dramatische Entwicklung zu verhindern.

Mauer, aus der ein Stück herausgebrochen ist.

Realismus ist das Gebot der Stunde

Realismus ist angesagt auf allen Ebenen. Hierzu gehört mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die temporäre Inkaufnahme eines Rückgangs unseres Wohlstands, sei es durch Energieknappheit (als Notwendigkeit zur glaubhaften Sanktionierung Russland) oder durch wirtschaftliche Einbußen aufgrund eines notwendigerweise härteren Kurses gegenüber China.

Weitere erhebliche finanzielle Ressourcen sind für eine schnelle CO2-Reduktion genauso erforderlich wie für die Erhöhung unserer militärischen Optionen, die immer auch Verhandlungsmacht bedeuten, über die wir aktuell nicht verfügen.

Die derzeitige Phase der internationalen Beziehungen stellt eine Belastungsprobe für unseren Liberalismus dar. Die Politik und wir als Gesellschaft müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass der langfristige Erhalt unserer freiheitlichen, liberalen Grundordnung und -haltung, unserer Demokratie und letztlich unseres Wohlstands immer wieder neu behauptet werden muss, ggf. auch mit kurzfristig unpopulären Entscheidungen.

Der bedeutende Philosoph Karl Popper hat für diese Logik den Begriff des „Toleranz-Paradoxons“ geprägt. Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Im Umkehrschluss: eine tolerante Gesellschaftsordnung muss gegen die Angriffe der Intoleranz verteidigt werden, um sich nicht selbst abzuschaffen.

Die Zeitenwende findet gerade statt – und bietet große Chancen

Wer derzeit die politische und gesellschaftliche Debatte in Deutschland beobachtet, kann in eindrucksvoller Weise das beobachten, was man als normative Kraft des Faktischen bezeichnet. Im Lichte der russischen Aggression in der Ukraine sowie der Abkapselung und Unberechenbarkeit Chinas werden derzeit in Deutschland Debatten geführt, die so vor einigen Monaten unvorstellbar waren. Den politischen Verantwortlichen scheint klar zu werden, dass kurzfristig kontroverse Entscheidungen zu treffen sind, zum Beispiel im Rüstungsbereich oder in Fragen der Energieversorgung, die zu grundsätzlichen Weichenstellungen in der Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik führen werden.

Für uns als demokratische Gesellschaft bedeuten diese Veränderungen und Notwendigkeiten auch die Chance auf ein neues Selbstverständnis. Wenn es gelingt, unsere liberale Grundordnung nicht mehr als zwangsläufig und selbstverständlich, sondern als erhaltens- und verteidigungswürdig zu begreifen, könnte sich ein neues westliches Selbstbewusstsein etablieren, dass die nötigen Kräfte freisetzt, um weitere Herausforderungen endlich entschlossen anzugehen.

Der Zusammenhalt Europas gegenüber Russland könnte auch der Beginn einer realitätsbezogenen, kraftvollen europäischen Außen-, Sicherheits-, Klima-/Energie- und Handelspolitik sein. Nur durch einen selbstbewussten, liberalen Materialismus können wir unsere postmateriellen gesellschaftliche Werte erhalten.

Unser Liberalismus, unsere Demokratie, unsere Wirtschaft und wir alle als Gesellschaft haben uns stets verändert, weiterentwickelt und teilweise neu definiert. Im Gegensatz zu Autokratien ist es genau unsere Stärke, Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu erkennen, zu benennen und einen gesellschaftlichen Diskurs über die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Bei allen Anstrengungen, Bedrohungen und Herausforderungen sollten wir stets in unsere Selbsterhaltungskräfte vertrauen. Bleiben wir zuversichtlich.

Fotos: iStock, Unsplash / Ronan Furuta, Ant Rozetsky, Argemarkus Spiske

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