ROMANTIK IST GUT, AUFKLÄRUNG BESSER

Unser Verständnis von psychischen Erkrankungen muss aus dem Dornröschenschlaf erwachen! Ein Plädoyer für mehr wissenschaftliche Ratio bei der Behandlung von Depressionen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Drei Prinzen
  • Antidepressiva
  • Überholten Glauben

Text Daniela Otto

Schwarz-Weiß-Portrait von Dr. Daniela Otto.

Dr. Daniela Otto ist Literaturwissenschaftlerin, Expertin für Digital Detox und Buchautorin zum Thema. Als Vorstand der Florian Holsboer Foundation setzt sie sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Mehr über mentale Gesundheit im Podcast „Alles nur im Kopf“.

Was haben Märchen mit Medizin zu tun? Jede Menge. Nicht nur, dass Schneewittchen vergiftet und Dornröschen eingeschläfert wird, sondern auch, dass in den alten Grimmschen Geschichten so manche abenteuerliche Operation geschildert wird, vorzüglich bei den Bösewichten (denken Sie nur an den bösen Wolf oder die blutenden Zehen der bösen Stiefschwestern).

Wild her geht es aber nicht nur bei den uns vertrauten Prinzessinnen, sondern auch in weit entfernten Ländern, darum lassen Sie mich Ihnen ein Märchen namens „Die drei Prinzen von Serendip“ vorstellen:

GLÜCKLICHER ZUFALL

Das Wort „Serendip“ ist die persische Bezeichnung für Sri Lanka, dort wurde in einem orientalischen Märchenband aus dem Jahre 1302 eine Erzählung von besagten drei Prinzen gefunden. Diese erlebten märchenhafte Abenteuer und kombinierten ihre Beobachtungen fast so scharf wie Sherlock Holmes, dass sie sogar ein Kamel, das sie nie gesehen hatten, treffsicher beschreiben konnten.

Dank ihrer Klugheit, Weltläufigkeit und ihrer Auffassungsgabe fanden sie für jede Lage immer wieder überraschende Lösungen, entgingen so dem Unheil und ihre Abenteuer endeten jeweils glücklich. Dieser clevere Lösungshabitus, bei dem man etwas Unerwartetes beobachtet und dadurch etwas Neues entdeckt, wurde als „Serendipity“, oft mit „glücklicher Zufall“ übersetzt, bekannt.

Serendipity ist ein in der Medizin enorm wichtiges Entdeckungsprinzip, das auch für das Aufspüren des ersten Antidepressivums, Imipramin, verantwortlich war.
Denn nur rein zufällig bekam in den 1950er Jahren eine schwer depressive Patientin ein Medikament, das eigentlich gegen Schizophrenie vorgesehen war – und ihr Zustand besserte sich. Es hat kenntnisreiche klinische Forscher gebraucht, die bereit waren, der unerwarteten Beobachtung weiter nachzugehen und die dem Zufall eine Chance geben wollten, wodurch sie eine fundamentale Innovation ermöglichten: das erste Heilmittel gegen die Depression.

SCHICKSAL ALS CHANCE?

Heute hat es der Zufall in der Psychopharmakologie schwerer: Die Untersuchungen zur Wirksamkeit von Medikamentenkandidaten müssen nach strengen klinischen Studienprotokollen unter Einbeziehung von Vergleichsgruppen, die statt der Prüfsubstanz Placebo oder ein etabliertes Standardantidepressivum erhalten, durchgeführt werden. Die versuchsweise Anwendung eines Medikaments bei einer anderen als der geplanten Indikation ist rechtlich nicht mehr möglich – und somit könnte auch der Zufallsbefund des oben erwähnten Imipramin nicht mehr passieren.

Das formale Korsett, in dem sich die psychiatrische Medikamentenforschung heute bewegen muss, ist so eng geschnürt, dass der Zufall eben doch keine Chance mehr hat – dennoch ist Depression kein auswegloses Schicksal.

Denn auch wenn die heutigen Antidepressiva noch nicht perfekt sind – immer noch haben sie zu viele Nebenwirkungen, immer noch dauert es zu lange, bis sie wirken und sie wirken bei zu wenigen Patienten – so sind sie doch ein Segen für jene Patienten, die ernsthaft an einer Depression erkrankt sind. Seit der Einführung der Antidepressiva hat sich die Suizidrate in allen Industrieländern halbiert. Und es gibt profunde wissenschaftliche Studien, die ihre Wirksamkeit und Überlegenheit gegenüber Placebo beweisen.

„GUT“ GEGEN „BÖSE“

Dennoch glauben viele, dass diese Mittel „böse“ sind, weil – ja warum eigentlich? Weil sie nicht natürlich, sondern chemisch sind? Weil Tabletten im kollektiven Bewusstsein schlecht, Globuli, Feng Shui und Kräuter aber gut sind? Dass diese Trennung natürlich = gut – chemisch = schlecht nicht standhält, weiß übrigens jeder, der schon mal an einem Knollenblätterpilz genascht hat. Und wer jetzt sagt, die Dosis mache das Gift: Beim Pfeilgiftfrosch reichen bereits 0,8 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht. Kaum eine Substanz ist giftiger. Vielleicht also doch keinen Frosch küssen?
Denn da sind wir wieder bei den Märchen, bei der Romantik und ja, beim verklärten Weltbild, das weit weg von der wissenschaftlichen Ratio entsteht. Gewiss, die Deutschen waren seit jeher ein romantisches Volk: Der Wald hat stets eine große Rolle gespielt, vor allem die German Angst davor, dieser könne sterben; die Romantik, also jene Epoche von 1795-1830 war die schönste aller deutschen Affären und sie hängt uns noch nach. Auch der von Freud in die Welt gesetzte Glaube, dass noch das kleinste seelische Problem seinen Ursprung in der Kindheit hat, ist genauso überholt wie unausrottbar. Manchmal hat man keine tyrannische Mutter, sondern einfach nur Pech. Und wenn wir jenen, die das Pech einer psychischen Erkrankung haben, helfen wollen, so sollten wir vor allem eines tun: Endlich aus dem Dornröschenschlaf erwachen und erkennen, dass sich niemand seine Krankheiten aussuchen kann und keine Krankheit jemals stigmatisiert werden darf.

Fotos: Unsplash / Noah Buscher, Nathan Dumlao, Altin Ferreira, Jannik Selz, Jackson Simmer

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