Die Weisheit der Träume: Schönheit macht Sinn
Ist dies die richtige Zeit, um über Schönheit nachzudenken? Unbedingt. Jedenfalls über Schönheit, die nichts mit Oberfläche zu tun hat, im Traum auftritt und sinnvolle Erfahrungen schenkt. Und über Jan Vermeer.
Hier erfahren Sie mehr über
- Anmut und Würde
- Schönheit im Traum
- Schönheit als Sinnbild der Freiheit
Text Brigitte Berger
Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.
Jan Vermeers Bild „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ entspricht noch am ehestens einer an der Oberfläche sich verfangenden Schönheitsvorstellung. Die meisten anderen von Vermeer gemalten Personen, meist sind es Frauen, haben wenig mit heute gängigen Schönheitsidealen gemein. Die Schönheit in Vermeers Bilder kommt aus einem anderen Grund. Ob die Frauen nun einen Brief lesen, schreiben, Klavier spielen oder Milch in eine Schüssel gießen, sie tun es mit gesammelten Wesen.
Das muss nicht heißen, dass die Personen immer ausgeglichen wirken. Im Blick des Mädchens mit dem Perlenohrring ließe sich auch ein Ausdruck des Bangens oder des Verlangens ablesen. So verletzlich, so neugierig, so hingegeben, so überrascht auch immer sie wirken, sie strahlen vollkommene Präsenz aus. Trifft uns ein Blick aus dieser Mitte, geht er uns unter die Haut, trifft uns in unserem Zentrum und es ist für einen ewigen Moment, als würden wir diesem Menschen begegnen.
Anmut und Würde
Friedrich Schiller meinte in seinen „Schriften zur Ästhetik“ über Anmut und Würde, dass der Grund dafür, dass wir eine Schönheit als anmutig und daher anziehend empfinden, in der Übereinstimmung der sinnlichen Erscheinung mit den Beweggründen der Seele liege. Nicht jede Schönheit sei anmutig, Anmut sei aber immer schön. „Wo also Anmut stattfindet, da ist die Seele das bewegende Prinzip … Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluss der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinung, die die Person bestimmt.“
Schiller meint die Freiheit, mit allem, was wir sind und haben, mit unseren Höhen und Tiefen, unseren Stärken und unserer Verletzlichkeit in Erscheinung zu treten, mit unserem ganzen gebrochenen Herzen da zu sein.
Schönheit im Traum
Um diese Gegenwärtigkeit geht es dem Traum. Der Traum reagiert auf eine Störung des Einsseins mit uns. Widerstreitende Gefühle oder Gedanken können uns innerlich entzweien. Oft sind es Konflikte mit anderen Menschen, die uns aus dem Gleichgewicht bringen.
Eine Angst, die sich unser bemächtigt, aber auch ein Glück, das wir noch nicht einzuordnen wissen – kurz alles, was uns aus unserer inneren Mitte bringt, darauf reagiert der Traum. Hier setzt die Suchbewegung des Traumes ein nach dem, was uns wieder in Balance bringen könnte.
Die Eingangsphase im Traum schildert den Beginn der Abweichung aus der eigenen Mitte. Etwas fängt, in uns in Unordnung zu geraten. Diese Dysbalance spitzt sich in der nächsten Phase des Traumes zu. „Plötzlich“ ist ein Wort, das hier oft in Traumschilderungen zum Ausdruck kommt. Die Schieflage drängt zu einer Erkenntnis des uns Angemessenen, um wieder in Balance zu gelangen.
„Ich sehe, denke, weiß“ sind im dritten Bild häufig genannte Worte im Traumbericht. Das uns Angemessene ist oft etwas anderes, als wir uns als die beste Version unserer selbst erdacht haben. Der Traum zielt auf Weiterentwicklung.
Wenn wir wissen, wie wir wieder in Übereinstimmung mit uns selbst kommen, macht der Traum ein viertes Bild auf – ein Bild der Schönheit.
Schön ist, was bei sich angekommen ist
Kehren wir noch einmal zu den Bildern Vermeers zurück. Der Künstler ordnet alle Gegenstände im Raum, alles Interieur auf diese personale Mitte hin. Alles ist an seinem Platz, in Farbe, Form und Helligkeit ein Hinweis, eine Unterstreichung dieser Mitte. Selbst der Perlenohrring spiegelt das Licht auf dem Gesicht des Mädchens.
Genauso ist es an dieser Stelle im Traum. Alles ist an seinem Platz. Es gibt nichts, was hereinplatzt, zieht oder zerrt, zu groß oder zu klein wäre. Alles ist wichtig und trägt bei zur Ausgewogenheit des Gesamtbildes. Das vierte Bild im Traum ist der Ausdruck der neu gefundenen inneren Ordnung.
Oft werden Landschaften und Plätze aufgemacht, die ein Gefühl der Weite, der neu gewonnenen Freiheit vermitteln. Gelingt uns das noch nicht so recht, ist die Freiheit noch klein geblieben, stellt der Traum die derzeitige Lebensgestalt entsprechend vor. Es kann Engpässe, Schluchten, Abhänge, Schieflagen beinhalten.
Ein Traum mit einer Aufforderung
Aus einem Traum ein Beispiel für ein viertes Bild mit Aufforderungscharakter: Der Träumerin war klar geworden, was Freiheit in Beziehung für sie bedeutete und auch von ihr verlangte. Der Traum stellte die neue Lebensgestalt in Form eines blauen Lackturnschuhs vor, in dem ein Liebesbrief steckte. Alles im Traum spiegelt eine Selbstbegegnung. Ein Liebesbrief ist eine Liebeserklärung der Träumerin an sie selbst.
Dies ist ein feierlicher Moment, das unterstreicht der Lackschuh. Das richtige Schuhwerk ermöglicht, sicheren Schritts auf diese Liebe zuzugehen. Es ist ein Turnschuh. Turnen heißt nicht, dass wir etwas ein einziges Mal tun, es lebt von der Wiederholung. Der Turnschuh ist blau. Die Farbe Blau wird assoziiert mit der Weite des Himmels, mit der geistigen Freiheit, die uns umspannt. Blau hat eine ziehende Wirkung auf das Gemüt, meinte Goethe. Das sahen auch die Romantiker so und kreierten die Symbolgestalt der „Blauen Blume“ als Sehnsuchtsort.
Blau schickt uns in die Weite der Freiheit. Die Träumerin erschloss das Bild für sich: Die Sehnsucht nach Freiheit, die ihr die Liebe zu sich selbst bedeutete, will geübt werden, Schritt für Schritt.
Das Bild der neuen Lebensgestalt ist ein statisches Bild. So, wie wir in Momenten, in denen alles stimmig ist, den Atem anhalten und die Zeit stillzustehen scheint. Schauen wir nochmals auf ein Bild Vermeers, auch hier scheint die Zeit still zu stehen. Das Schöne fühlt sich so an, als sei etwas ganz bei sich und in sich erfüllt. Es gibt nichts, was dem noch hinzuzufügen oder abzuziehen wäre. Die französische Philosophin Simone Weil (1909 -1943) beschreibt in der Betrachtung des Schönen: „Das Schöne ist das, was man nicht ändern wollen kann.“
Schönheit als Sinnbild der Freiheit
Vielleicht ist es diese Wahrnehmung des Bei-sich-Angekommen-seins, des nun mehr Ruhens-in-sich, warum Schönheit von vielen Menschen als beruhigend empfunden und gesucht wird. Für Schiller lag das auf der Hand: „Weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“
Er erklärte das so: „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wieder gegeben.“ Schönheit vermittelt die Balance zwischen Fühlen und Denken und bildet ein Drittes, das Ästhetische. Die Betrachtung des Schönen beruhigt und regt zu diesem Gleichgewicht an. Die Schönheit der Natur beruhigt uns zuverlässig.
„Natur ist glücklich.“, beschreibt es Rilke so trefflich. „Doch in uns begegnen sich zu viele Kräfte, die sich wirr bestreiten.“ Das Glück der Natur liegt in der zweifelsfreien Selbstentfaltung. Aus einem Apfelkern kann kein Birnbaum werden. Uns obliegt die Qual der Wahl. Wir sind die Wesen, die nach dem Sinn fragen. Die anmutige Schönheit eines Menschen ist der sinnliche Ausdruck der Freiheit, dass wir als fühlendes Wesen, das denkt und als denkendes Wesen, das fühlt, in diesem Kräftespiel unser Schicksal harmonisch gestalten können.
Die italienische Schriftstellerin Cristina Campo (1923 -1977) umschrieb diese innere Schönheit mit dem Begriff der Sprezzatura: „Ein seelischer Rhythmus, die Melodie einer inneren Anmut, die Zeitspanne, in der ein Schicksal sich die Freiheit erringt…“ und zitiert dazu den Rosenkavalier: „Mit leichten Herz und leichten Händen / halten und nehmen, halten und lassen.“
Das ist nicht einfach. Der Atem ist uns eine Hilfe. Die Natur kann uns ein Beispiel sein. Die Selbstbegegnung im Traum leitet uns an, in uns hinein und über uns hinaus zu wachsen. Im Angesicht des Schönen wissen wir, dass es möglich ist.
Die polnische Dichterin Wislawa Syzmborska (1923-2012) schreibt über Vermeers Bild „Dienstmagd mit Krug“: „Solange diese Frau im Rijksmuseum in der gemalten Stille und Andacht Tag für Tag Milch aus dem Krug in die Schüssel gießt, verdient die Welt keinen Weltuntergang.“
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