
SINNterview mit Sabina Schutter: GLEICHE CHANCEN, GLEICHES GLÜCK?
Nach aktuellen Studien haben sich die Voraussetzungen für das Aufwachsen von Kindern extrem verschlechtert, vor allem auch in Deutschland. Warum finden Kinder in unserer Gesellschaft immer weniger statt? Ein Interview mit Sabina Schutter von SOS-Kinderdorf e.V..
Hier erfahren Sie mehr über
- Die Arbeit von SOS-Kinderdorf e.V.
- Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit
- Respekt, Toleranz und Neugier
Interview Hans Christian Meiser

Prof. Dr. Sabina Schutter ist seit 2021 Vorstandsvorsitzende des SOS-Kinderdorf e.V., hat den Kinder- und Betreuerschutz weiterentwickelt und die Aufarbeitung der Vergangenheit vorangetrieben. Die promovierte Soziologin und frühere Professorin für Pädagogik der Kindheit an der TU Rosenheim setzt sich in Forschung und Praxis für Mädchen und Frauen sowie Kinderrechte und Kinderschutz ein.
Frau Schutter, als Vorstandsvorsitzende von SOS Kinderdorf e.V. sind Sie tagtäglich mit dem Thema „Chancengleichheit“ befasst. Zu welchen Erkenntnissen hat die direkte oder indirekte Beschäftigung mit diesem Thema bei Ihnen geführt?
Kinder finden in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit viel zu wenig statt. Wir nehmen sie nicht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft wahr. Das führt dazu, dass Kindern kaum eigenständige Rechte zugesprochen werden, die sie verwirklichen können.
Kinder sind aber genau die, die unsere Gesellschaft tragen und zukünftig tragen werden. Es ist also nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, Kinder bestmöglich zu fördern, sondern es ist für uns alle, für den Erhalt unserer Gesellschaft, auch schlicht zwingend notwendig.

Wir brauchen die Teilhabe von jedem jungen Menschen. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, alles für gerechte Bildungschancen und die Förderung aller junger Menschen zu tun.
Wir brauchen echte Chancengerechtigkeit, die keinen einzigen jungen Menschen zurücklässt – egal wo er oder sie herkommt, welches Elternhaus oder welche Möglichkeiten dieses Kind hat. Jedem muss klar sein: Vor allem die Verwirklichung des Rechts auf Bildung muss jetzt im Fokus politischer Anstrengungen stehen.

Gleiche Bildungschancen für alle
Hermann Gmeiner (1919 – 1968), der Gründer von SOS-Kinderdorf, wollte schon früh Kindern und Jugendlichen, die in komplizierten Familienverhältnissen aufwuchsen, zur Seite stehen. Sein Wunsch war, dass ein jedes dieser Kinder durch die liebevolle Betreuung einer „Mutter“, der richtigen Umgebung und der Möglichkeit Bildung zu erwerben, jenen Kindern gleichgestellt wird, die all das „von Haus aus“ hatten. Findet sich hier schon das Thema „Chancengleichheit“ wieder, wenngleich nicht in der heutigen Ausprägung?
Hermann Gmeiner glaubte fest daran, dass jedes Kind, unabhängig von Herkunft und Lebensumständen, eine faire Chance im Leben verdient. Er erkannte, dass soziale Ungleichheit ein Hindernis für die Entwicklung von Kindern darstellt und setzte sich dafür ein, diese Ungleichheiten abzubauen. Diese Grundidee von Chancengerechtigkeit trägt unsere Arbeit bis heute.
Denn unser Anspruch ist es, Kindern, die nicht bei ihren Eltern leben können, ein stabiles und unterstützendes Umfeld zu bieten, in dem sie aufwachsen, lernen und sich bestmöglich entwickeln können. Und wir setzen uns dafür ein, die Lebensbedingungen von sozial benachteiligten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu verbessern – praktisch als Jugendhilfeträger und als ihre Interessenvertretung auf politischer Ebene.

Wenn wir von „Chancengleichheit“ sprechen, müssen wir auch das Thema „Gleichberechtigung“ bedenken. Wo sehen Sie hier Übereinstimmungen, wo Unterschiede?
Gleichberechtigung bezieht sich formal auf das Gesetz. Jeder Mensch hat in Deutschland die gleichen Rechte, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder der religiösen Gesinnung. Chancengleichheit bedeutet, dass alle von Geburt an die gleichen Möglichkeiten bekommen, ihre Ziele zu erreichen. Und hier wird es schon schwierig – ich spreche auch lieber von Chancengerechtigkeit. Denn die Kopftuch-tragende Tochter eines Geflüchteten hat zwar theoretisch vielleicht die gleiche Chance auf ein Stipendium wie der Sohn eines Investmentbankers, aber sicher nicht die gleichen Aussichten auf eine erfolgreiche Bewerbung.
Chancen für junge Menschen sollten aber möglichst unabhängig sein von ihrer sozialen oder wirtschaftlichen Herkunft. In diesem Sinn sind Gleichberechtigung und Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit miteinander verbunden, wenn es darum geht, eine fairere Welt zu gestalten. Nicht zuletzt muss es auch darum gehen, Barrieren für Gleichberechtigung abzubauen.

SOS-Kinderdorf: Zukunft und Entwicklung
Es ist ein sehr spannendes Unterfangen, sich nicht nur mit der Geschichte von SOS-Kinderdorf zu beschäftigen, sondern auch mit dem, was bis heute daraus erwachsen ist. Und dann natürlich mit der Frage: Wohin geht die Reise? Wie gestalten Sie die Zukunft von SOS-Kinderdorf e.V.?
Es ist unsere Verantwortung, die Kinder bei SOS-Kinderdorf zu schützen und zu stärken. Deshalb entwickeln wir den Kinderschutz ständig aktiv weiter. Ein wirksamer Kinderschutz basiert für uns auf einer Kultur des Hinhörens. Kinder brauchen verlässliche Ansprechpersonen und sie müssen in vollem Umfang über ihre Rechte informiert sein.
Bei SOS-Kinderdorf erweitern wir zudem unsere Angebotspalette stetig weiter und reagieren auf die aktuellen Herausforderungen, mit denen benachteiligte junge Menschen und Familien heute konfrontiert sind. Unser Anspruch ist es, passgenaue Angebote anzubieten und diese stetig an die Bedarfe anzupassen und weiterzuentwickeln.
Seit Jahren steigen zum Beispiel die Inobhutnahmen durch Jugendämter, der Bedarf an stationären Plätzen, gerade für junge Kinder, ist sehr hoch. Gleichzeitig mangelt es an Fachkräften. Daher setzen wir uns nicht nur dafür ein, unsere stationären Angebote bedarfsgerecht weiterzuentwickeln, sondern auch für eine Fachkräfte-Initiative und für neue Wege in der Ausbildung.
Mir ist dabei wichtig, dass wir bei SOS-Kinderdorf nah am Menschen sind. Das heißt, egal wie wir wachsen und wie wir unsere Angebote entwickeln, es sind die Menschen, die sich für uns entscheiden, die SOS ausmachen. Sei das als Ehrenamtlicher, als Spender oder als Mitarbeiterin oder als Mensch, der Hilfe sucht. Wenn SOS-Kinderdorf ein Ort ist, wo Gemeinschaft und Zugehörigkeit gelebt wird, dann haben wir unser Ziel erreicht.

Wie können die PURPOSE Leser Sie bei Ihrer so wichtigen Aufgabe am Gemeinwesen unterstützen? Die finanzielle Hilfe ist natürlich das eine, aber welche Möglichkeiten des Engagements gibt es zudem?
Man kann sich ehrenamtlich für ein SOS-Kinderdorf in seiner Stadt oder Gemeinde einsetzen, oder auch für andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder in Schulen. Man sollte sich aber darüber klar sein, dass es auch hier eine Zuverlässigkeit braucht und man eine Verpflichtung eingeht. Die Menschen, die zu uns kommen, haben oft keine einfache Geschichte. Vorlesen, Nachhilfe oder Gespräche laufen dann vielleicht anders ab, als man es erwartet. Wir sagen aber: Ich bin an Deiner Seite, auch und gerade dann, wenn es schwierig ist. Und so sollte man auch sein ehrenamtliches Engagement verstehen – es ist nicht immer einfach, aber es lohnt sich.
Man kann aber auch damit anfangen, anderen Menschen klarzumachen, welche Probleme und Hindernisse es für junge Menschen gibt. Ein kleiner Schritt kann zum Beispiel sein, die Debatte über Kinderrechte in den eigenen Familien- und Bekanntenkreis zu tragen.
Toll finde ich es auch, Petitionen zu unterstützen, die bessere Rahmenbedingungen für junge Menschen einfordern. Das ist ein einfacher Klick, der so viel bewegen kann. Unser Kinder- und Jugendrat hat zum Beispiel soeben eine Petition für ein Selbstbestimmungsrecht auf Psychotherapie eingebracht.
Vom libanesischen Dichter Khalil Gibran stammen die Worte: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und wenngleich sie bei euch sind, gehören sie euch nicht. Ihr dürft ihrem Körper eine Wohnstatt bieten, doch nicht ihren Seelen, denn diese wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht aufsuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.“
Was würden Sie diesen Worten hinzufügen wollen, wenn man bedenkt, dass Gibran dies vor über 100 Jahren schrieb?
Der Text ist aktueller denn je. Junge Menschen sind eigenständige Individuen mit eigenen Rechten. Erziehung muss mit Respekt, Geduld und Vertrauen in den Weg des Kindes geschehen. Dem hinzufügen würde ich, dass dies für alle Kinder gelten sollte, egal ob sie Zuhause aufwachsen können oder in der stationären Jugendhilfe.

Kinder stärken: Verantwortung für die Zukunft
Sie selbst und jeder, der bei SOS Kinderdorf e.V. oder in den Kinderdörfern arbeitet, hat eine besondere Verantwortung, die indirekt auf unser aller Zukunft verweist. Das haben aber auch Eltern, Lehrer, Pädagogen und alle, die mit der Erziehung und (Aus)Bildung von Kindern befasst sind. Blickt man auf die heutige Gesellschaft und die Formen des Umgangs miteinander, so findet man nicht sehr viele, die hier als Vorbild gelten können. Oder fallen Ihnen ad hoc welche ein, denen man nacheifern könnte?
Ich finde: Die jungen Menschen, die bei SOS-Kinderdorf aufwachsen, die ihren Weg gehen trotz aller Startschwierigkeiten, sind echte „Role models“. Es ist eine besondere Leistung, sich jeden Tag in einer Situation zurechtzufinden, die nicht „normal“ ist. Sie müssen tagtäglich damit kämpfen, dass sie nicht wie andere Kinder zu Hause aufwachsen, dass sie ihren Wohnraum mit anderen jungen Menschen teilen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Sie haben schwere Startbedingungen und müssen so viel mehr kämpfen als andere Kinder.
Und was mich dabei am meisten beeindruckt: Der Umgang der jungen Menschen untereinander, mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und auch mit mir. Ich höre und spüre da viel Respekt für das Gegenüber, Toleranz für alles was anders ist und Neugier auf andere Perspektiven und Erfahrungen. Wenn alle Erwachsenen diese Einstellung hätten, gäbe es keine Probleme im zwischenmenschlichen Umgang.

„Kinder sind unsere Zukunft“ heißt es immer wieder, und gerne wird dieser Satz von Politikern und Klimaaktivsten geäußert. Wenn Sie sich den Zustand der Welt ansehen, wäre es da nicht besser, es gäbe keine Kinder mehr? Oder soll man eher den Erwachsenen die Augen öffnen für das, was sie da anrichten? Und was würden Sie diesen „ins Stammbuch schreiben“ wollen?
Die Kinder für das Verhalten oder gar die Versäumnisse der Erwachsenen zu bestrafen, halte ich grundsätzlich für falsch. Man sollte eher den Erwachsenen die Chance auf Veränderung geben. Dieses Potential sehe ich gerade, wenn Themen wie Mentale Gesundheit, Ungleichheit und die Klimakrise in die Mitte der Gesellschaft getragen werden. Veränderung passiert nicht durch Zwang, sondern durch Bewusstsein für Probleme und den Willen zum Wandel.
Klar ist: Es gibt in Deutschland aktuell keine Generationengerechtigkeit – und das ist fatal und wird sich negativ auswirken, wenn wir daran nicht gemeinsam arbeiten. Und zwar nicht nur im Sinne der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch wirtschaftlich betrachtet.
Schauen Sie auf den demographischen Wandel: Schon 2030 werden drei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von zwei ersetzt werden müssen. Wir können es uns gar nicht leisten auch nur ein Kind zurückzulassen.
Die Kinder von heute werden unsere Gesellschaft zukünftig tragen. Wir müssen jedes Kind bestmöglich fördern, damit die Lichter bei uns nicht ausgehen.
Möchten Sie helfen?
Fotos: SOS-Kinderdorf e.V., Mareen Fischinger, Maximilian Geuter, Sebastian Pfütze, Andre Kirsch