„WEH DEM, DER KEINE HEIMAT HAT“ (TEIL 1)
Wenn Krieg herrscht, rückt das Thema „Heimat“ wieder in den Vordergrund. Was verstehen wir als „Heimat“? Den Ort, an dem wir geboren wurden, an dem wir leben oder von dem wir vertrieben werden?
Hier erfahren Sie mehr über
- Friedrich Nietzsche
- Zugehörigkeit
- Heimatverlust und Flucht
Text Barbara Strohschein
Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.
Vereinsamt
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n —
Wohl dem‚ der jetzt noch — Heimat hat!
Nun stehst du starr‚
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt — entflohn?
Die Welt — ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor‚
Was du verlorst‚ macht nirgends Halt…
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n‚
Weh dem‚ der keine Heimat hat!
Nicht etwa ein Dichter verfasste diese melancholischen Verse. Es war der heimatlose Philosoph Friedrich Nietzsche. Geboren in Röcken, einem Dorf in Sachsen-Anhalt, das er schon als Schuljunge verließ, war er sein Leben lang auf der Suche nach einer Heimat. So sollte der Ort seiner Wahl sein: Warm, sonnig, mit klarem Himmel, mit freundlichen Menschen, die ihn in Ruhe ließen.
Der rastlose Nietzsche
Nietzsche war ein Reisender – sein Leben lang. Nicht etwa, weil er vertrieben wurde. Der Aufbruch wurde ihm zu einer seelischen Notwendigkeit. Vom Internat in Schulpforta ging er zum Studium nach Bonn. Von dort siedelte um er an die Universität in Leipzig. Von Leipzig aus wurde er als blutjunger Professor nach Basel berufen. Von Basel floh er, nach Beendigung seiner Professur aus gesundheitlichen Gründen, ins Engadin. Dann suchte er in Frankreich nach einem geeigneten Ort, hielt sich in Italien, vor allem in Turin auf – immer auf der Flucht vor als ungünstig empfundenen Bedingungen. Bis er schließlich – nach langen Jahren der geistigen Umnachtung – in Weimar starb.
Nietzsche kehrte auf seiner Suche nach einer Heimat nicht etwa an den Ort seiner Kindheit zurück.
Hier war jemand am Werk, der Heimat mit diesem Ort nicht gleichsetzte. Dabei wird Heimat oft genau damit identifiziert. Die Familie als ein Aspekt von Heimat spielte jedoch für den vaterlosen Nietzsche keine Rolle. Mutter und Schwester waren mehr eine seelische Bedrohung für ihn als ein Hort der Geborgenheit.
Der Preis der Freiheit
Freiheit war das Wort, das Nietzsche mit Heimat verband. Das hieß für ihn, frei entscheiden zu können, wann er einen Ort verlassen wollte. Doch diese Freiheit hatte einen großen Preis: Einsamkeit und die Not der Anpassung. Immer wieder neu anfangen. Sich immer wieder neu eingewöhnen. Immer wieder die Frage: Bin ich hier richtig? Kann und soll ich hierbleiben? Dem Freiheitswunsch steht die Sehnsucht nach Heimat gegenüber. Von dieser Sehnsucht spricht eben dieses Gedicht. Und in diesen existenztrauernden Zeilen spiegelt sich das wider, was fehlt, um sich in der Welt aufgehoben zu erleben: Das Gefühl der Zugehörigkeit.
Es geht bei der Frage nach Heimat um weit mehr, als nur um einen geographischen Ort. Es geht um den tiefen Wunsch nach Vertrautheit. Vertrautheit schafft innere Sicherheit, Orientierung und Stabilität. Vertrautheit und Unvertrautheit vermitteln sich nicht nur seelisch, sondern auch sinnlich: An einem neuen Ort wird der Fremde mit ungewohnten Gerüchen, Regeln, Lebensweisen, Eindrücken, fremden Menschen, unbekannten Straßen und Wegen, kurzum – einer fremden Kultur konfrontiert. Heimat ist nicht überall. Oder etwa doch? Für das Wort „Heimat“ gibt es zumindest keinen Plural.
Warum ist die Heimat wichtig?
Heimat hat – wie an Nietzsches Lebensgeschichte zu sehen ist – vier Facetten.
• Heimat als Ort der Familie
• Heimat als verlorener Ort
• Heimat als Fluchtort
• Heimat als selbstbestimmter Gestaltungsort.
Ich denke, jeder Mensch kennt diese Aspekte und die widersprüchlichen Gefühle, die Heimat auslösen.
Und so werde ich bei meinen weiteren Überlegungen diesen vier Facetten von Heimat nachgehen:
Heimat als Ort der Familie
Vielleicht kennen Sie das seltsame Gefühl, wenn Sie nach Jahren an den Ort Ihrer Kindheit zurückkehren. Obgleich – im besten Fall – alles so geblieben ist, wie es einst war, hat sich der Blick verändert. Ich weiß es nur zu gut von mir selbst. Als meine Großeltern längst aus ihrem Haus ausgezogen waren, lief ich einmal wieder durch die Straße zu dem Haus, in dem ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. So groß und prächtig es mir als Kind vorgekommen war, so überschaubar erschien es mir nun als Erwachsene.
Die sinnlichen Eindrücke und die damit verbundenen Gefühle schufen in diesem Moment der Wiederbegegnung die Brücke zwischen dem Heute und dem Einstmals: Die Erinnerung an den Duft des dezenten Rosenwassers, das mein Großvater benutzte. An seine angenehme Stimme, mit der er mir Geschichten erzählte. An die durchdringenden Augen meiner Großmutter, die Herrenkostüme trug, lebhaft erzählen konnte und die Literatur liebte. An ihre Bibliothek, in der es nach geheimnisvollen Büchern roch und in der ich herumstöbern durfte. An die japanischen Kirschbäume im Garten, deren Blüten wie rosafarbene Ballettröckchen aussahen. An die knarrenden Treppen, die im Flur aufwärts zu den vier Schlafzimmern führten.
Heimweh nach vergangenen Orten
Ein süßes Gefühl war mit diesen Erinnerungen an die Kindertage verknüpft. Hier war der Ort, an dem ich mich als Kind geborgen und glücklich fühlte – und der unwiederbringlich verloren war. Dieses Wiedersehen war so kostbar wie nutzlos zugleich. Kostbar, weil diese Kindheitserfahrung einen Grundstein gelegt hatte für das Empfinden, was Heimat ist; nutzlos, weil ich den Verlust durch die Erinnerung allein nicht aufheben konnte.
Dieses Eintauchen in die vergangenen heiteren Tage stehen im krassen Gegensatz zu den leidvollen Erfahrungen, die die vielen Umzüge meiner Eltern für uns Kinder mit sich brachten. Denn da geschah genau das Gegenteil: ich fühlte mich an den neuen Orten fremd. Ich wurde kritisch beäugt als die „Neue“, die anders war. Ich hatte keinerlei spontane Neigung, mich auf unbekannten Menschen einzulassen. Ich hatte Heimweh nach einem Ort, den es nicht gab: Ein festes, unverrückbares Elternhaus. Denn das ist zweifellos noch etwas anderes als „Familie“.
Merkwürdig ist, dass das Gefühl von Heimatlichkeit selbst dann aufkommen kann, wenn Kinder den Heimatort der Eltern nur sehr kurz oder gar nicht erlebt haben, oder wenn er sogar zerstört wurde. Dies haben die Kinder erlebt, die mit ihren Müttern aus den Ostgebieten vertrieben wurden, während die Väter im Krieg waren. Wenn diese kurz vor Kriegsende Geborenen die Heimatorte ihrer Eltern aufsuchen, überkommt sie Heimweh und ein Heimatgefühl, das gar nicht unbedingt immer an eine faktische Erinnerung anknüpft. Die Begegnung mit der verlorenen, sprich: nie gehabten Heimat, ist sehr oft mit Verlust-Schmerzen verbunden, mit aufgewühlten Gefühlen und starker Berührung. Diese Erfahrungen werden in gut geführten Familienaufstellungen oft heilsam reaktualisiert.
Was macht Heimat aus?
Die Sehnsucht nach Verankerung scheint so grundlegend menschlich, dass vermutlich niemand davon nicht betroffen ist. Aus einem erklärlichen Grund: Damit wir uns in der Welt zurechtfinden und orientieren können, brauchen wir – vor allem in der Kindheit – eine stabile Umgebung, die uns nicht dauernd mit Veränderungen, Brüchen und Zensuren überfordert. Das Fremde schlechthin hat zunächst immer etwas Bedrohliches, weil nicht übersichtlich und klar ist, worum es geht und wie was und wer „tickt“ und läuft. Dieses Gefühl der Unsicherheit beeinträchtigt gravierend das Selbstwertgefühl, das sich dann so anhört:
„Ich habe keine Ahnung, was hier los ist und weiß nicht, was ich hier tun soll und wer ich eigentlich bin.“
Die Nomaden und die herumziehenden Jäger und Sammler aus der Urzeit können wir nicht befragen, wie sie mit dem notwendigen Ortswechsel zurechtkommen. War und wurde die Natur dann Heimat oder die Welt an sich?
Standort finden ohne Standpunkt?
Weder Nietzsche noch die Elite der Global Player wurden und werden zu häufigen Ortswechseln gezwungen. Sie haben sich selbst entschieden. Das macht die Eingewöhnung in die Fremde zwar einerseits nicht unbedingt leichter. Aber andererseits beeinträchtigt diese Selbstentscheidung das Selbstwertgefühl nicht so gravierend. Es gibt Studien über die Desorientierung, die diejenigen erleben, die umziehen – in eine andere Stadt, in ein anderes Land, in einen anderen Kontinent. Diese Desorientierung kann sogar zu Depressionen führen.
All diese unleugbaren Tatsachen werden aber übersehen und überhört im Ruf nach der „flexiblen Gesellschaft“, in der Mobilität alles gilt. Davon spricht sehr feinfühlig der amerikanische Soziologe Richard Sennet in seinem Buch „Der flexible Mensch“. Wie gehen Diplomaten mit den häufigen Ortswechseln um? Was bedeutet Heimat für sie? Die Manager-Elite und die Super-Reichen, die von weltweit von City zu City jetten: Haben sie irgendwann einmal das Bedürfnis nach einem festen Standort?
Und das wäre eine interessante Frage – mit politischer und ökonomischer Relevanz: Wie finden Menschen ohne Standort einen Standpunkt?
Flucht folgt Identitätsverlust
Wer dazu gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen, hat es weit schwerer, sich mit Ortswechseln abzufinden. Das war und ist der Fall bei den vielen Menschen, die heute und früher, z. B. im 20. Jahrhundert, aus ihrer Heimat wegen politischer und ökonomischer Gründe fliehen mussten. Das 20. Jahrhundert war ein Fluchtjahrhundert per se, durch zwei Weltkriege und durch die Diktaturen unter Hitler und Stalin. Dabei verloren Männer und Frauen nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren Beruf, ihr Ansehen, ihr Geld, ihre Häuser, Hab und Gut, ihre Freunde – kurzum: bis auf ihr Leben – alles.
Flucht bedeutet Identitätsverlust. In Europa angesehene Intellektuelle, Künstler, Geschäftsleute, Politiker waren im Ausland plötzlich niemand mehr. Männer und Frauen aus der geistigen und kulturellen Elite, fungierten in den USA als untergeordnete Hilfskräfte, gingen als Versicherungsvertreter von Tür zu Tür, arbeiteten als Taxifahrer.
Heute, wo ebenfalls viele Millionen von Menschen aus den Kriegsgebieten in die, vor allem über die digitalen Systeme so angepriesenen, westlichen Länder fliehen, wird dies leicht vergessen.
Heimatlos zu sein, bedeutet, ein „Niemand“ zu werden. So hat es im Übrigen der jüdische, in die USA emigrierte Philosoph Ernst Bloch für sich selbst ironisch bezeichnet: „I am Mister Nobody“. Warum sollten sich ein syrischer Intellektueller oder eine afghanische Familie vom Land hier und heute eigentlich anders fühlen – als Nobodies? Da halfen und helfen Flüchtlingsorganisationen nur sehr bedingt. Denn mit der Erstversorgung und den Notunterkünften ist es in der Regel nicht getan.
Sinnsuche in der Fremde
Um in der Fremde anerkannt zu werden, benötigen die Geflüchteten nicht nur eine Aufenthaltserlaubnis, ein Visum oder einen Pass, eine Unterkunft und etwas zu essen. Sie brauchen sinnvolle Arbeit, eine menschenwürdige Wohnstätte, das Interesse der Bevölkerung des Landes, in dem sie untergekommen sind. Anerkennung heißt hier nicht etwa, Lob zu verteilen, sondern den Fremden in seiner Andersartigkeit aufzunehmen und wahrzunehmen.
Dieses Problem verschärft sich angesichts der Tatsache, dass der Kulturschock auf beiden Seiten – Flüchtlinge und Bürger des Einwandererlandes – heute weitaus größer ist als damals. So krass waren die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und Europa letztlich nicht.
Ganz im Gegensatz zu den massiven kulturellen Differenzen zwischen den arabisch-islamisch geprägten Ländern und den christlich-westlich geprägten Ländern. Alles ist hier anders: die Religion, die Geschlechterbeziehungen, die familiären Prägungen, die Alltagskultur, die Werte, die Gefühlswelten, die Einstellung zu demokratischen Werten wie Freiheit und Gleichberechtigung usw. Das allerorts vorhandene Verfügen über ein Smartphone und der Umgang mit digitalen Systemen ändert an diesen gravierenden Differenzen nichts.
So kocht der Verlust von Heimat zu einer hochbrisanten Problematik hoch: der geflüchtete Mensch ist per se entwertet. Nicht etwa, weil diese Entwertung gewollt wird, sondern weil allein die äußeren Bedingungen schon an sich einen solchen Menschen entwerten: als einen Mittellosen, Bittsteller und Machtlosen. Denn welche Macht hat ein Fremde ohne Heimat?
Nachwirkungen des Verlusts der Heimat
Zu diesem Ohnmachts-Problem kommen die oft unterschätzten Auswirkungen traumatischer Erfahrungen von Flüchtlingen aus Krisen- und Kriegsgebieten: Eine sehr schwierige Voraussetzung für einen Neubeginn in der Fremde. Durch den Verlust der Heimat ist das komplett in Frage gestellt, was ein Mensch für die Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühls braucht: Orientierung, Respekt, Vertrautheit, Verständnis und Verstehen. So wundert es nicht, dass durch den Wegfall oder zumindest durch die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls ein Geflüchteter geschwächt, irritiert, aggressiv, verzweifelt oder stumm wird.
Es wundert auch nicht, dass Flüchtlinge sich – im ärgsten Fall – auf eine Weise selbst behaupten wollen, die ihren Gastgebern unangenehm, unangemessen und inakzeptabel erscheinen: wie übertriebene Forderungen stellen, wie die kulturellen Regeln des Gastlandes nicht zur Kenntnis nehmen, wie Übergriffe auf Frauen vorzunehmen, wie gewalttätig zu werden.
Der Verlust der Heimat vonseiten der Geflohenen führt zur Gefährdung der Heimat derjenigen, die unfreiwillig zu Gastgebern geworden sind. Diese wehren sich dann gegen die unliebsamen Eindringlinge und sehen ihre Existenz bedroht – was an der Pegida-Bewegung und der Wählerschaft der AfD unverkennbar ist.
Der interkulturelle Lernprozess
Der Verlust der Heimat wird in seiner Wirkung als seelisch-politischer Faktor weit unterschätzt. Es käme darauf an, die Flüchtlingsproblematik psychisch und existentiell zu begreifen, statt nur unter dem Aspekt der Verwaltung und Nutzbarmachung potenzieller Arbeitskräfte. Einerseits ist es zweifellos eine große Chance für den Geflüchteten, durch Arbeit oder eine Ausbildung mit der Kultur des Landes vertraut zu werden.
Andererseits ist es problematisch, jeden Flüchtling unter dem Aspekt seiner „Verwendbarkeit“ zu sehen. In der typisch westlich-kapitalistische Art, alles und jeden zu benutzen und zu verwenden, werden die Möglichkeiten des interkulturellen Lernens nicht hinreichend gesehen und wahrgenommen. Dieser interkulturelle Lernprozess auf beiden Seiten wäre langfristig aber ein Weg aus dem Flüchtlingsdilemma und aus den ungelösten Globalisierungskonflikten.
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