Ein Mann und eine Frau stehen auf einem Wiesenhang

„WEH DEM, DER KEINE HEIMAT HAT“ (TEIL 2)

Ist Heimat auch im Innen zu finden, und wenn ja, wo? In diesem zweiten Teil der Untersuchung zum Thema Heimat kommt die Berliner Philosophin zu einem ganz besonderen Schluss.

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  • Menschliche Nestflucht
  • Heimat Erde
  • Zu kreierende Heimat

Text Barbara Strohschein

Schwarz-Weiß-Bild von Dr. Barbara Strohschein.

Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.

Heimat als Fluchtort

„Warum soll ich nicht beim Gehen“, sprach er, „in die Ferne sehen? Schön ist es auch anderswo. Und hier bin ich sowieso.“ Über diesen Satz des Mister Pief von Wilhelm Busch haben einst die beiden Philosophen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch ein amüsantes Gespräch geführt. Mit der berechtigen Frage: Kommen wir weiter, wenn wir immer zuhause bleiben? Aber fallen wir – vor lauter Lust, in die Ferne zu sehen (wie Mister Pief), dann nicht in den nächsten Tümpel, weil wir nicht mehr im Moment genau hingucken?

Manchem jungen Menschen wird es zu Hause irgendwann zu eng. Fernweh und Abenteuerlust sind die Namen dafür. In solchen Fällen ist die Heimat kein Hort der Geborgenheit, sondern ein Ort, an dem man zu ersticken droht. Das bekannte Motto lautet: „Nichts wie weg.“ Dieses Wegwollen hat etwas Natürliches an sich, wenn man so will: Vögel werden ja auch irgendwann flügge.

Das Zuhause als Wachstumsbremse

Doch bei den Menschen geht es um mehr als das: Die Regeln, die Muster, der familiäre Umgang werden als Last empfunden, die es abzuschütteln gilt. Zuhause zu bleiben, verspricht kein inneres Wachstum. Und ohne dass dies den jugendlichen Stürmern unbedingt bewusst sein muss, ist daran etwas vollkommen richtig Wahrgenommenes: Um eine eigene Identität zu finden, ist es wichtig, das Althergebrachte zu hinterfragen. Nicht nur nachahmen und sich an die elterlichen Wünsche anpassen! Das bedeutet Aufbruch, Abschied und Infragestellung – ein wichtiger Akt, um erwachsen zu werden.

Die Tradition, in der die erwachsen gewordenen Kinder in der Stadt, in der Familie bleiben und die Firmen ihrer Väter übernehmen, kam vor allem in der Nachkriegszeit ins Wanken.
Die Väter waren im Krieg oder in der Gefangenschaft geblieben. Kaum eine Familie überstand diese Zeit ohne Verluste. Was gab es zu erben als nur eine furchtbare Geschichte? Welchen Grund gab es, in dem sowieso brüchigen Familienleben zu verharren? Ohne Väter oder mit den Schuld beladenen Vätern, mit gestressten Nachkriegsmüttern? Die aus dem Krieg zurückgekommenen Väter waren keine Helden.

Aufnahme eines Nests mit zwei Küken von oben

Beschämende Heimat

Nicht nur das war Anlass für die 68Generation, Heimat als nicht erstrebenswert zu empfinden. All das, was Heimat positiv besetzt: Stabilität, Tradition, Familienzusammenhalt, wurde radikal in Frage gestellt. Viele von den 68ern hatten zudem eine große innere Distanz zu Deutschland und dem Deutschsein. Deutschland als Heimat zu haben, beschämte und erfüllte nicht mit Stolz.
Diese 68er Bewegung hatte dabei nicht unbedingt Fernweh und Abenteuerlust im Sinn. Weit eher spielte die Wut über die Enge und der Befreiungswille vom angepassten Nachkriegsspießertum eine Rolle, das sich so erfolgreich mit Wohlstandszuwachs verband. (Diese Übergangsstadien, in denen Heimat unter so viele Facetten erlebt und gedeutet wird, zeigt das Filmepos „Heimat“ von Edgar Reitz.)

Heute gibt es gesellschaftlich zwei sehr gegensätzliche Tendenzen bei jungen Menschen, mit Heimat und Familie umzugehen: die einen streben hinaus in die Welt, teilweise aus unvollständigen Familie kommend.

Diese global orientierte Jugend ist nach überall unterwegs, dockt überall an, verständigt sich weltweit. Vielleicht kann man sogar sagen, sie sind unterwegs zuhause.
Die anderen hocken, mindesten bis zum Berufseinstieg, bei Papa und Mama oder nur bei Mama, im Hotel Familie. Hier zuhause wirkt die Welt weit weniger bedrohlich als „draußen“. Heimat wird hier zum Bequemlichkeits- und Schutzort.

Heimat als Dreh- und Angelpunkt

Wir sind hier mit Extremen der menschlichen Polarität konfrontiert: einerseits gehört zum Menschsein dazu, sich zu verorten, sich irgendwo zuhause zu fühlen. Andererseits ist es ein menschliches Streben, die Welt zu erobern und zu entdecken. Es ist eigentlich kein Widerspruch, der sich hier auftut, sondern etwas, was zusammengehört und gelebt werden will. Ohne Vertrautheit mit Menschen und Orten entsteht kein Vertrauen. Und ohne Aufbruch verändert sich nichts.

Und so können wir sehen, wie Heimat weit mehr ist als eine Ortsbeschreibung. Heimat ist ein Dreh-und Angelpunkt für die Frage und deren Beantwortung: Wer will ich sein? Wo will ich hin?
Wer sich diese Frage stellt, wird sensibel für die Wahrnehmung des eigenen Glücks. Denn dies hängt durchaus mit der Frage zusammen. Wo lasse ich mich, im wahrsten Sinn, nieder?

Mann blickt aus einem Flugzeug Fenster

Heimat als selbstbestimmter Gestaltungsort

Wer neu anfängt, hat gut zu tun. Nicht nur kommt es darauf an, sich zurechtzufinden, neue Kontakte zu knüpfen, sondern sich im mehrfachen Sinn, neu einzurichten. Natürlich gibt es enorme graduelle Unterschiede: Wer von einem Stadtviertel in ein anderes zieht, hat eine weitaus geringere Aufgabe, sich neu zu orientieren, als jemand, der in einen anderen Kontinent auswandert oder aus Syrien oder Afghanistan Wochen und Monate unterwegs war, um irgendwo in Westeuropa eine neue Heimat zu finden. Davon war schon die Rede.

Doch nun: Wie wird der fremde Ort zur Heimat? Um diese weitere Dimension geht es dem Philosoph Ernst Bloch. „In Prinzip Hoffnung“ schreibt er:
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
(Bloch PH, S. 1628)

Als ich mit diesen Bloch‘schen Gedanken das erste Mal konfrontiert wurde, erschrak ich. In einer Heimat war noch niemand? Ist Heimat ein Ort, den es noch nicht gibt? Jeder Mensch hat doch einmal irgendwann – in der Kindheit – eine Heimat gehabt?

Ein Mensch hält ein leuchten rotes Herz vor einem Nachthimmel

Unsere Heimat Erde

Es kommt Bloch auf weit mehr an, als sich nur an einem Ort heimatlich zu fühlen. Bloch will, dass wir die Erde zu unserer Heimat machen. Doch davon seien wir – so Bloch – weit entfernt. Die Entfremdung ist der bezeichnende Ausdruck für ein Lebensgefühl und die bittere Erfahrung, „nicht bei sich zu sein“. Das heißt konkret, beherrscht zu werden, nicht selbst über sich und seine Heimat entscheiden zu können, ohnmächtig zu sein gegenüber den politischen und ökonomischen Verhältnissen: Nicht nur in der Fremde, sondern genauso in der Welt der Arbeit.

Der Mensch entfremdet sich, in dem er nicht nur seine Leistung, sondern sich selbst verkauft – um der bloßen Existenzerhaltung willen. Selbstbestimmt ist ein solcher Mensch nicht. Er verfügt nicht über sich, sondern es wird über ihn – verfügt. Diese Entfremdung wird – existentiell betrachtet – so zu einem Menschheitsproblem, von dem Milliarden von Menschen betroffen sind. Das geschieht, wenn immer mehr Menschen das Recht auf Selbstbestimmung gar nicht wahrnehmen können: weil sie fliehen müssen, weil sie sich verdingen müssen durch Arbeit, die die unter ihren Möglichkeiten liegt, weil sie gar keine Arbeit finden, weil sie keine Heimat mehr haben, weil sie nicht mehr in einer Tradition verwurzelt sind, hin und her gestoßen werden durch die politischen Ereignisse.

All das, was einem Menschen ein Selbstwertgefühl gibt und ihn in die Lage versetzt, sein Leben selbst zu gestalten, fällt weg.

Blick auf die Erde aus dem Weltall

Neue Heimat schaffen

Insofern ist es ein großer Aufruf von Bloch: Schafft Euch die Heimat, die es noch nicht gibt. Er will dazu auffordern, dass die Menschen niemals aufgeben dürfen, darauf zu hoffen, dass diese Zeit kommen wird – durch tätiges Tun, durch Bewusstheit und gezieltes Handeln. Es geht ihm darum, die Bedingungen für ein humanes Leben zu schaffen. Mit dem Recht für jeden Menschen, sich heimisch zu fühlen auf diesem Planeten.

Ist das reinster Optimismus? Eine altmodische Utopie, die mehr als einmal als obsolet abgewertet wurde? Oder haben wir – um angesichts der Weltlage nicht zu verzweifeln – eigentlich gar keine Alternative, als diesen Aufruf zu überdenken und ihn ernst zu nehmen?

Weil immer mehr Menschen auf dieser Erde keine menschenwürdige Heimat mehr haben, ist die Entmutigung fast unendlich.
Der neu aufkommende Nationalismus, die Machtgier von diktatorischen Politikern und der Populismus zu Ungunsten des Volkes scheinen immer mehr die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Sicherheit und würdiges Leben zunichtezumachen.

Blick vom Weltraum auf den Erdball

Was und wo sind unsere Werte?

Vor allem in Europa fällt immer mehr die Siegesgewissheit in sich zusammen, die viel beschworenen westlichen Werte der Demokratie weltweit noch geltend machen zu können. Außerdem – frage ich als Werte-Philosophin – was sind denn, bitte schön, die westlichen Werte? Überheblichkeit? Gewinnstreben? Perfektion? Leistung als Maßstab für alles? Oder geht es noch um gelebte Nächstenliebe, Respekt, Gerechtigkeit und Frieden? So sehr einerseits diese Werte gelebt werden, so sehr trifft zu, dass die Schattenseiten von vermeintlichen Werten die Sicht verdunkeln.

Dabei wird leicht übersehen, dass es diese „Werte“ in Europa sind, wegen derer Menschen auf Flucht hier Heimat finden wollen, obgleich sie in völlig anderen Traditionen aufgewachsen sind und die Geschichte Europas und die Kämpfe, die es gekostet hat, diese aufgeklärte westliche Gesellschaft mit Wohlstand und Gleichberechtigung hervorzubringen, gar nicht kennen.

Doch es gibt, trotz aller zunehmenden Unsicherheit, was Heimat ist, eine tröstliche Perspektive. Sie kleidet sich ein durch die Worte „Noch nicht“. Das ist das Aufbruchsmotto: Noch ist es nicht so, wie es sein sollte. Aber es ist möglich, dass durch ein weltweit wachsendes Bewusstsein darüber, dass alle Menschen eine Heimat brauchen, um im Leben anzukommen, auch menschenwürdige Heimatorte geschaffen werden könnten. Nicht als eine Tatsache, die vorzufinden, sondern zu kreieren ist.

Fotos: iStock, Unsplash / 42 North, Bas Glaap, Casey Horner, NASA

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