Zeichnung von Till Eulenspiegel auf einem Seil

WAS WIR VON TILL EULENSPIEGEL LERNEN KÖNNEN

Jeder kennt den mit allen Wassern gewaschenen Meister darin, schier unendliche Kreativität in Narreteien auszuleben und anderen Menschen ihre Begrenztheit vorzuführen. Er hat Lesern auch heute noch etwas zu sagen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Satire
  • Allzumenschliches
  • Befreiung aus Wutklammern

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommu­nikation und ist Autorin.

Die satirischen Geschichten entstanden Ende des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, dem ausgehenden Mittelalter, also an der Schwelle zu einer neuen Zeit des religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs. Der Buchdruck war gerade erfunden und ermöglichte eine vorher nie dagewesene Verbreitung von Schriften.

Zahlreiche Übersetzungen der Till’schen Narreteien lassen zudem auf einen hohen Bekanntheitsgrad schließen, insbesondere in den Niederlanden und in Belgien. Das Werk war ein Bestseller und über mehrere Jahrhunderte noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg populär, vor allem als Lektüre für Kinder.

DIE EULE UND DER SPIEGEL

Eulenspiegels Aktionsradius war vor allem Norddeutschland. Wie sein Name schon sagt, zielen seine Schelmereien darauf ab, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, wobei die Eule als altes Symbol der Weisheit seine Absicht signalisiert. Er möchte durch seine Schelmereien wachrütteln, Selbsterkenntnis entfachen, Menschliches und Allzumenschliches als Gewaltbereitschaft entlarven. Spezialisiert sind seine Streiche darauf, Streit, Prügeleien und Beleidigungen untereinander zu entfachen.

EIN FÜLLHORN AN KREATIVITÄT

Das Gegeneinander entbrennt dabei aus Rechthaberei, Gier, dem Wunsch, seine Ehre bewahren zu wollen, Normerfüllung, Abgrenzungs- und Gefallsucht. Bevor Eulenspiegel als Urheber und Anstifter der Streitereien in den Fokus der Aggressionen gerät, hat er sich freilich schon längst aus dem Staub gemacht.
Die 96 Geschichten lassen die Leserschaft an seiner unerschöpflichen Kreativität von Streichen teilhaben. Schauen wir uns nachfolgend einige seiner Schelmenstreiche exemplarisch näher an.

WENN EINER AUFFORDERUNGEN WÖRTLICH NIMMT …

Till Eulenspiegel ist ein Meister darin, sich bei verschiedenen Handwerkern als Geselle zu verdingen, um dann allerlei Schabernack anzustellen. So auch in der 61. Geschichte bei einem Brotbäcker, den er fragte, was er denn backen solle. Dieser wurde über die in der Frage enthaltene Unkenntnis zornig und fragte spöttisch zurück: „Was pflegt man denn zu backen? Eulen oder Meerkatzen?“

Das brauchte er unserem Schelm nicht zweimal zu sagen; er buk nun ausschließlich Eulen und Meerkatzen. Natürlich war der Bäcker entsetzt. Eulenspiegel witterte ein gutes Geschäft und machte einen „Deal.“ Er bezahlte den Teig, verkaufte die ungewöhnliche Backware vor der Kirche und machte satten Gewinn. Der Bäcker hatte sich selbst um diesen gebracht, weil er Ungewöhnliches, ja Innovatives nicht zugelassen hatte.

Wütend wollte er weitere Geldforderungen für Holz und die Benutzung des Ofens erheben, doch Till war bereits verschwunden. Der Bäcker hatte das doppelte Nachsehen: den entgangenen Gewinn und Gesichtsverlust, Eulenspiegel hingegen den doppelten Gewinn: materiell und seelisch, denn er hatte den Spott des Bäckermeisters vergolten.

  • Bronze von Till Eulenspiegel
  • Till Eulenspiegels Abbild in Stein

DER SOZIALREBELL

Bei einem anderen Beispiel (74. Geschichte) gibt es einen handfesten materiellen Schaden. Eulenspiegel verdingt sich als Barbiergeselle und fragt danach, wo sich denn die Barbierstube befinde. Der Meister gab folgende Auskunft: „Sieh, das Haus gegenüber, wo die hohen Fenster sind, da geh hinein! Ich komme gleich nach.“ Was dann geschieht, liegt geradezu auf der Hand: Eulenspiegel betritt das Haus durch das Fenster. Dem wütenden Schimpfen der Ehefrau des Barbiermeisters ob der zerbrochenen Fensterscheibe entgegnet er scheinbar arglos: „Liebe Frau, soll ein Geselle nicht das tun, was ihn sein Meister heißt?“ Der Sozialrebell lässt grüßen! Er wehrt sich auf diese Weise gegen die starre Hierarchie.

MEISTER DES STREITS

Meisterlich versteht es Eulenspiegel, Anweisungen auszunutzen, um Streit zu entfachen. So manipulierte er (68. Geschichte) die Marktfrauen, die wohl gerne beim Verkauf von Milch eine höhere Menge abrechnen als sie ausgegeben. Er verspricht ihnen, alle Milch abzukaufen und zu bezahlen; dann schüttet er die Milch in einen großen Bottich, wobei er penibel aufschreibt, wie viel ihm jede Marktfrau verkauft hat. Bezahlen will er nach Abschluss der Aktion.

Als es so weit ist, eröffnet er den erwartungsvoll herumstehenden Marktfrauen, er habe leider kein Geld bei sich, käme jedoch in 14 Tagen wieder. „Wer nicht 14 Tage warten will, mag die Milch wieder aus dem Bottich nehmen.“ Dann verschwindet er. Unter den Marktfrauen entbrennt nun ein heftiger Streit, weil jede ihren Anteil zurückhaben möchte. Sie bezichtigten sich dabei gegenseitig so heftig des Betrugs, dass zu guter Letzt der Marktplatz wie nach einer Milchschlacht aussieht. Sie selbst haben nicht nur nichts davon, aufeinander loszugehen; vielmehr verlieren sie im kopflosen Streit auch das, was sie hatten. Erhitzte Gemüter sind nicht in der Lage, Schaden zu begrenzen.

Die Eskalation endet im Chaos als Ausdruck von selbst verantworteter Zerstörung.

Ein Spiegel reflektiert die Wolken im hohen Gras

WIE AKTUELL IST TILL EULENSPIEGEL?

Die Streiche von Till Eulenspiegel werden in ihrer direkten, satirischen Form sicher nicht mehr so aufgenommen wie im Mittelalter und nachfolgenden Jahrhunderten. Heutzutage dürften seine bisweilen groben Streiche sogar abstoßend wirken – so etwa das mehrfach gezielte Einsetzen von ihm hervorgebrachten Haufen seiner „Notdurft“ als Teil von Schelmereien. Dennoch gibt es Bemerkenswertes, etwa seine Manipulationstechnik „Streit entfachen“.

„Wenn zwei sich streiten, lacht der Dritte“ – das ist im Fall von Till Eulenspiegel, dem Urheber eines Streites, der immer rechtzeitig aus dem Blickfeld verschwindet und um keine provokative Rechtfertigung verlegen ist, sinnbildlich. Er bringt andere dazu, heftig zu streiten, ja gewaltsam gegeneinander vorzugehen. Die Manipulation besteht darin, den Streit gezielt zu entfachen, worauf sich die Provozierten auch prompt einlassen. Sie schädigen sich damit selbst. Den Folgen ihrer berechneten Verführbarkeit hält er dann einen Spiegel vor.

DEN VERSTAND AUS DER WUT BEFREIEN!

Im Alltag entsteht Streit zur Verteidigung der eigenen Position, die als natürlich als richtig angesehen wird. Er ist Ausdruck einer Verhärtung und Enge, die den Blick für Lösungsmöglichkeiten verschließt; oft genug führt er zu einer verhängnisvollen Dynamik, die sich bis zum unerbittlichen Hass steigern kann. Daraus folgt die Unfähigkeit, Veränderungen anzustreben oder sich veränderten Gegebenheiten anzupassen.

Was dann gefragt ist:

  • die Fähigkeit, einen Abstand zu den eigenen Emotionen herzustellen, bevor das innere Feuer einen Flächenbrand auslöst.
  • Mit kühlem Kopf kreativ Lösungen finden, die der Weite von Möglichkeiten entnommen sind.

„I don’t react, I act“ betont der Weisheitslehrer Sadhguru immer wieder. Ein wütender Angriff wird durch einen noch heftigeren beantwortet, wenn ich den Impuls hierzu nicht stoppe. Erst dann kann ich meinen Verstand aus der Wutklammer befreien und überlegen, welche Handlung angemessen ist.

Wut ist eine Kraft, die ich auf kreative Möglichkeiten ausrichten kann.

Gleichzeitig zeigt sie mir ein Unbehagen an, dass ein Wert verletzt wird, den ich für wichtig halte. Dies herauszufinden und es mir bewusst zu machen, ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem friedlichen Miteinander. So gesehen ist die Botschaft der Streiche des Till Eulenspiegel zeitlos.

Fotos: Alamy, Shutterstock, Unsplash / Markus Spiske, Inga Gezalian

 

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