Baum vor einer pinkfarbenen Wiese

TRÄUME BEGLEITEN UNS EIN LEBEN LANG

Wir sind nie allein, denn Träume begleiten uns immer: solange wir leben, träumen wir. Und Niemand ist uns näher als dieses inwendige Du. Aber das Beste ist: es kann uns wirklich helfen.

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  • Traumforschung
  • Selbstbegegnung
  • Heilungswege

Text Brigitte Berger

Paartherapeutin Brigitte Berger

Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.

TRÄUME ALS RÄUME DER SELBSTBEGEGNUNG

Die Traumforschung und die Neurowissenschaft sind sich einig: Träume dienen der Erhaltung und evolutionären Weiterentwicklung des Lebens. Der afrikanische Traumforscher Mark Solms geht sogar davon aus, dass wir auch tagsüber träumen. Beständig sei unser Leben umgeben von einem Traum, einem Strom der unbewussten inneren Auseinandersetzung.

Durch Meditation und Übungen der Achtsamkeit können wir ein Gespür für diese Ebene entwickeln. Nachts, wenn das Gehirn nicht mehr mit der Wahrnahme von Welt, dem Sich- darin-Bewegen und -agieren beschäftigt ist, ist es frei für zwei für unsere Regeneration grundlegend wichtige Prozesse. In der Konsolidierungsphase wiederholt das Gehirn Verhaltens- und Denkweisen, die sich als günstig erwiesen haben, und speichert sie für die Zukunft im Gedächtnis ab.

In der Traumphase setzt sich das Gehirn mit nicht gelösten Problemstellungen auseinander.

Der Traum analysiert punktgenau die Störung und setzt kreativ aus dem vorhandenen Wissen und Erfahrungen neue Muster zusammen, um die Herausforderung gut zu meistern. Diese großartige Leistung geschieht ohne unser Zutun: solange wir leben, träumen wir. Der Traum arbeitet immer für uns, ob wir uns nun an ihn erinnern oder nicht. Treten wir zu unseren Träumen in Beziehung, etwa durch das Traumerinnern, das Traumnotat oder einem Traumgespräch, eröffnen wir einen einzigartigen Raum der Begegnung mit uns selbst.

Vögel fliegen vor einem blau pinken Himmel

FRAGEN FÜHREN WEITER

In der Hinwendung zum Traum ist es wichtig, einer Deutung der Träume zu widerstehen. Der Traum geht vom Problem zur Lösung oder anders ausgedrückt von einem gestörten inneren Gleichgewicht in eine neue Balance.  Entlang dieses psychologischen Aufbaus eines jedes Traumes gilt es, mit den Metaphern des Traumes einfühlsame Fragen an das eigene Leben zu stellen. Im Dialog mit dem Traum entfaltet sich sein schöpferischer Reichtum. Je zärtlicher und genauer die Fragen, desto mehr kommen wir bei uns an.

Dazu ein Traumbeispiel. Am Vortag des Traumes fühlt sich die Träumerin vom Verhalten einer Freundin unvermittelt verletzt und auf Distanz gebracht. Gleichwohl die Träumerin versucht, das Geschehen auf der Ebene des Verstandes gering einzuschätzen, empfindet sie es auf der emotionalen Ebene als bedrohlich, deshalb bedrückt es sie den ganzen Tag. Nachts geht der Traum der Not auf den Grund und prüft die möglichen Lösungsstrategien. Schließlich findet der Traum einen neuen Weg. Schauen wir uns diesen Begegnungsraum näher an.

Die Träumerin erzählt den Traum:

„Ich sitze auf der Rückbank eines Autos. Eine Bedrohung von außen. Ein grüner 2CV, eine ‚Ente‘, fährt dazwischen. Aus diesem Auto kommt etwas in den Innenraum meines Autos und packt weiße Kissen vor die Autoscheiben, wie zum Schutz vor der Bedrohung, damit man mich nicht von außen sehen könne. Je mehr Kissen die Sicht verstellen, desto mehr komme ich in das Gefühl der Enge und des Erstickens. (Ich wache panisch auf.)

Auf einem Ostermarkt gibt es einen Stand mit Schinken. Der Schinken sieht sehr schön und appetitlich aus. Ebenso der Mann, der ihn verkauft. Doch, ach herrje, ich bin Vegetarierin! Nun sitze ich hinter dem Fahrersitz auf der Rückbank eines Autos. Diesmal ist es so, als hätte ich einen Chauffeur. Der junge Mann vom Schinkenstand lehnt sich über die offene Tür, beide Arme auf das Autodach gestützt, und sieht mich an. Ich frage ihn, wie er denn ein Tier essen könne, es müsse sterben und das Schlachten sei ein blutiges Geschehen. Er sagt, er esse nur wenig Fleisch, diesen Schinken genieße er, er stärke ihn.

Ich sehe auf seine Füße und Beine, wie der Mann fest am Boden steht.  Ich betrachte die gesamte Gestalt, die wir gemeinsam bilden. Ich sehe sie vor mir als Bild: Sie beugt sich über mich, wie die Luft im Frühling sich sanft auf die aufgebrochene Erde legt. Dann nehme ich einen dampfend umgegrabenen Acker im frühen Morgenlicht wahr.“

Rosa Himmel und Berge

WIE GEHEN SIE MIT VERLETZUNGEN UM?

Am Anfang entfaltet der Traum die Situation und Problemstellung. Wer auf der Rückbank des Autos sitzt, hat die Selbststeuerung abgegeben. Genauso fühlte sich die Träumerin den Tag über. Wie fremdgesteuert trieb sie durch den Tag. Wann saß sie in ihrem Leben hinten im Auto? Als Kind saß sie auf der Rückbank. Kinder sind abhängig von der Liebe ihrer nächsten Bezugspersonen.

Ihre durch Krieg und Flucht traumatisierte Mutter, war eine abwesende Mutter. Die Mutter sah das Kind nicht wirklich, sie sah durch es hindurch. Die Atmosphäre der Zurückweisung und vorenthaltenen Liebe, die dadurch unweigerlich entstand, erlebte das Kind als lebensbedrohlich. Das ist die Wunde der Frau, was an die Begebenheit mit der Freundin rührt.

Wir wissen aus der Säuglingsforschung, wie überlebensnotwendig dieser frühe Beziehungsraum ist. Hier wird der Aufbau des Urvertrauens in sich und die Welt im Kind grundgelegt. Wenn das Trauma berührt wird, geht die Selbststeuerung verloren.

Frau sitzt auf einer roten Düne

Nun folgt die Auseinandersetzung mit den im Gedächtnis abgespeicherten, alten Reaktionsmustern, um wieder in den „grünen“ Bereich, in die Balance zu kommen. Ein „grüner 2CV, ‚eine Ente‘“ versucht sie zu retten. Ein 2CV ist ein altertümliches Auto. Es erinnert die Träumerin an die Flower-Power Zeit, in der sie sich als Teenagerin orientierungslos in Beziehungen zurecht zu finden suchte. Enten sind, anders als andere Tierarten, dem Partner ein Leben lang „treu“.  Das heißt, sie sind nicht im eigentlichen Sinne, aus freier Entscheidung treu, sie haben keine andere Wahl.

Wie sieht das alte Lösungsmuster aus? Wie ist die Träumerin bislang mit Verletzung umgegangen? Die weißen Kissen assoziiert die Träumerin mit: Sie packt sich in Watte. Sie schottet sie sich ab. So spürt sie nichts. So wird sie nicht mehr gesehen und sieht den anderen nicht mehr. So muss sie sich nicht mit der Realität auseinandersetzen und ist der Welt und der Wahl enthoben, verantwortlich für sich zu entscheiden, was ihr guttut und was nicht. Im Traum wird der Träumerin das Trennende, von der Wirklichkeit Abschneidende dieser Schutzhaltung, bewusst. Sie sagt, sie fühle sich zwar durch diesen Rückzug in Sicherheit vor Verletzung in der Nähe zu einem Menschen, andererseits fühle sie sich in sich selbst gefangen und ersticke gleichsam an ihrer Einsamkeit.

Feuerroter Abendhimmel

DAS GESCHENK DES LEBENS

Da wird es Zeit für die Auferstehung, findet der Traum. Ostermarkt.  Der Schinken, wie auch der Mann, der ihn verkauft, ziehen die Träumerin an. Was ist das für ein Lösungshinweis?  Der Schinken kommt vom Schwein. Tiere können wir, im Unterschied zum vernunftbedingten Handeln, als Metapher für emotional gesteuertes Verhalten hinterfragen. Auch das Schwein wählt in einer Weise nicht. Es ist ein Allesfresser. Eine emotionale Verhaltensweise, die undifferenziert alles in sich aufnimmt und daraus Energie gewinnt. Es nimmt, was ihm geboten wird, auch Reste, Abfälle der Liebe.

Als Kind blieb ihr, um zu überleben, nichts anderes übrig, sie hatte keine Wahl, als erwachsene Frau schon. Im Schinken des Ostermarktes ist diese emotionale Verhaltensweise bereits überwunden. Doch, ach herrje, sie ist ja Vegetarierin! Da meldet sich der Widerstand! Fühle nicht! Stelle dich nicht der Verarbeitung dieser emotionalen Verhaltensweise.

Sicher, es kann schmerzhaft sein, und es könnte lebendig, „blutig“ werden, wenn wir das emotionale Verhaltensmuster aufgeben, zu allem „ja“ zu sagen. Es kann Schmerzen bedeuten, wenn wir uns aus Beziehungen lösen, selbst, wenn diese Beziehungen uns längst nicht mehr guttun. Wir treffen eine Wahl und müssen unter Umständen, die sich gegen uns richten, „nein“ sagen. Wir verzichten darauf, in destruktiven Beziehungen zu verharren und unsere Energie allein aus der Wut darüber oder aus dem Gefühl „rechtschaffend beleidigt“ zu sein, zu beziehen.

Der Lohn dieses Bewusstwerdungsprozesses jedoch ist ein „Chauffeur“: eine souveräne  Selbststeuerung, die uns sicher dorthin bringt, wo wir unserer Bestimmung nach sein wollen. Ende der Fremdbestimmung! Ende der Opferhaltung! Damit verbunden ist eine neue Handlungskraft (der junge Mann), der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht.

Der Heilungsweg des Traumas beginnt, wenn wir bereit sind, genau hinzusehen. Dieser Mut ist der Träumerin zugewandt und beschirmt sie fortan.  Das Bild der neuen Lebensgestalt könnte viel versprechender nicht sein: Das frühe Morgenlicht zeigt an, dass die Dunkelheit überwunden ist und ein neuer Lebenszyklus seinen Anfang nimmt. Die Verhärtung als Schutzhaltung, ist aufgebrochen. Der umgegrabene Acker ist ein Sinnbild der Bereitschaft, zu empfangen und schöpferisch zu werden, der Himmel, die Freiheit des Geistes über uns ausgebreitet.

Wirklich, das Einzige, wovor wir Angst haben müssten ist, dass uns Himmel auf den Kopf fällt.

Die Weisheit der Träume

Träume als kreative Wegfinder und Mutmacher

Von Brigitte Berger

Traum macht Sinn. Evolutionär betrachtet dient der Traum der Weiterentwicklung des Lebens. Unaufhörlich webt der Traum an dem Stoff, den wir brauchen, um das Leben gut zu meistern. Der schöpferische Reichtum der Träume entfaltet sich dem, der ihrer Deutung widersteht und stattdessen in einen Dialog mit dem Traum tritt. Das gilt es im Besonderen im therapeutischen und beratenden Kontext zu beachten. Es ist nicht die Interpretation, es sind die einfühlsamen und genauen Fragen entlang der Traumbilder, die den Träumer in eine neue Wirklichkeit seiner selbst erheben. Träume sind einzigartige Selbstbegegnungsräume, die uns einladen, die zu werden, die wir im besten Sinne sind. Das Buch für ein Leben mit Träumen erscheint im Juni 2024 bei Kohlhammer, Bücher für Wissenschaft und Praxis, gedruckt und als E-Book.

zum Buch

Fotos: Unsplash / Gauravdeep Singh Bansal, Eberhard Grossgasteiger, Natalia Hofmann, Jr Korpa, Hunter So

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