Für mehr urbane Begrünung: vertikale Gärten
Vertikale Gärten sind vielen ein Begriff. VERD° nennt sich ein System, das in Städten mit vertikal wachsenden Pflanzen Schatten spendet, die Umgebungstemperatur abkühlt, Feinstaub sowie Lärm reduziert, CO2 speichert und für mehr Freude am Aufenthalt im Freien sorgt.
Hier erfahren Sie mehr über
- Überhitzte Städte
- Effektive Begrünung
- Das Startup OMC°C
Text Antoinette Schmelter-Kaiser
Nicola Stattmann ist Produktdesignerin mit eigenem Designbüro in Frankfurt sowie Gastprofessorin an verschiedenen Hochschulen. Mit der Produktdesignerin Carlotta Ludig gründete sie das „OFFICE FOR MICRO CLIMATE CULTIVATION“ (OMC°C)
Tagelang intensiver Sonnenschein, keine Wolke am Himmel, Temperaturen von 30 Grad und mehr, nachts kaum Abkühlung: Im Frühsommer 2023 kam Deutschland wieder ins Schwitzen -– egal ob Hamburg, Berlin oder München. In Städten war die Hitzewelle besonders belastend. Denn dort lassen die dichte Bebauung und versiegelte Flächen wie Straßen und Plätze das Thermometer noch stärker ansteigen. “
„Jede Stadt in Europa bräuchte ungefähr zehnmal mehr Grün, um klimaresilient zu werden“, bringt Nicola Stattmann das Problem der fortschreitenden Erderwärmung auf den Punkt. „Dafür sind neue Bäume wichtig. Aber die brauchen rund neun Kubikmeter guten Boden für ihr Wurzelwerk und 20 bis 25 Jahre, bis ihre Kronen für einen relevanten Schatten sorgen.“ Für andere Bepflanzungs-Arten mangele es auch oft an Platz, Zeit oder Geld.
ZWEI VARIANTEN FÜR „VERD°“
Mit einer „anarchischen Idee“ möchten die Frankfurter Produktdesignerinnen mehr Tempo und frischen Wind in das Thema urbane Begrünung und vertikale Gärten bringen: Module mit einjährigen Kletterpflanzen, die an Netzen aus Flachs bis zu zehn Meter emporranken, sollen auf Plätzen, Straßen oder in Innenhöfen für Schatten sorgen – als freistehende Variante mit sechs Pflanzensegeln auf kreisförmigen Betonsockeln oder als Flächen vor Fassaden.
Das VERD° genannte System kann aber noch mehr: Es kühlt die Umgebungstemperatur herunter, reduziert Feinstaub sowie Lärm, speichert CO2 und sorgt für mehr Aufenthaltsqualität. Und dies bei geringem Pflegeaufwand. Durch Hornspäne sind alle Nährstoffe im Biosubstrat der 35 Zentimeter tiefen, an einem Leichtbaugerüst hängenden Pflanzbehälter enthalten. Im Frühjahr werden diese mit Samen und Setzlingen bestückt und dann automatisch bewässert. Im Herbst wird der Bewuchs samt Ranknetz „geerntet“ und wandert als Biomasse in Kompostieranlagen.
ENTWICKLUNG ÜBER DREI JAHRE
Was so einfach wie funktional klingt, wurde „Schritt für Schritt“ über einen Zeitraum von drei Jahre hinweg entwickelt: Initialzündung zu VERD° war Nicola Stattmanns Suche nach einem Projektschwerpunkt für ihre Studierenden, als sie Gastprofessorin an der Hochschule der bildenden Künste Saar war. Schon zuvor hatte sie sich mit ihrem Büro auf nachhaltiges Ecodesign fokussiert. Stadtbegrünung erschien ihr als Thema aus drei Gründen passend: Zum einen war ihr die Notwendigkeit bewusst, mehr Vegetation in überhitzte Städte zu bringen. Zum anderen sind Produktdesigner:innen ihrer Ansicht nach dafür prädestiniert, skalierbare und seriell zu fertigende Lösungen zu finden. Außerdem hatte sie den Wunsch, „gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen“. Was noch fehlte, war eine intensive Recherche, um das Terrain zu sondieren.
EXPERTEN IN EINEM VERZWEIGTEN NETZWERK
Die übernahm Carlotta Ludig, eine junge Mitarbeiterin aus Nicola Stattmanns Büro, mit überraschendem Ergebnis:
„Fassaden- und Dachbegrünung werden immer wichtiger und gefragter. Auf Module mit schnellwachsenden, einjährigen Kletterpflanzen, die minimal in die bestehende Infrastruktur eingreifen und flexibel platziert werden können, ist aber niemand gekommen“, sagt die 28-Jährige.
Entsprechend neugierig und interessiert waren renommierte Experten, die in einem weit verzweigten Netzwerk angesprochen und für eine Kooperation gewonnen wurden. In 2021 und 2022 wurden Forschungsanlagen bei der Kunsthochschule Kassel und in Illertissen aufgestellt und die einzelnen Komponenten des VERD°-Systems erforscht.
Im Team mit Bollinger+Grohmann Ingenieure (Statik), Wurst Stahlbau GmbH (Produktion), Dieter Gaißmayer von der gleichnamigen Bioland-Gärtnerei und Stiftung Gartenkultur in Illertissen (Pflanzenauswahl) sowie Stefan Diez mit gleichnamigem Diez Office (Design) entstanden nach Monaten gemeinsamen Tüftelns und Abstimmens die finalen Prototypen, die im April diesen Jahres beim Frankfurter Senckenberg Naturmuseum aufgestellt wurden.
GUTES FEEDBACK BEIM MARKENEINTRITT
Dort installiert nicht nur der Deutsche Wetterdienst (DWD) Messstationen, um das Mikroklima mit den Parametern Temperatur, Feuchtigkeit und Windstärke zu untersuchen. Außerdem erfasst die Sektion Entomologie III der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung voraussichtlich drei Jahre lang Insekten, die angezogen werden.
Beim offiziellen Markteintritt Mitte Juli waren Interesse und Feedback ebenfalls sehr gut: Zu einem Vorort-Termin kamen Vertreter von Presse, Umweltpolitik, Stadtverwaltung, Architekt:innen und Landschaftsplaner:innen. „Das war ein großes, aufregendes Event“, freuen sich Nicola Stattmann und Carlotta Ludig, die bereits erste fixe Kunden haben und gemeinsam als „OFFICE FOR MICRO CLIMATE CULTIVATION“ (OMC°C) firmieren.
Für die Anschubfinanzierung ihrer Firma konnten sie eine Berliner Crowdinvesting Plattform mit ins Boot holen, auch die Stadt Frankfurt zeigte sich von Beginn an als Unterstützer.
TOLLE ENERGIE IM TEAM
Die Aufgaben bei OMC°C teilen sich die beiden Frauen: Nicola Stattmann versteht sich als Produktentwicklerin und „Moderatorin“, die zwischen allen beteiligten Sparringspartnern koordiniert und sie zusammenbringt. Carlotta Ludig, die schon in ihrem Produktdesign-Studium ein Faible für lange Excel-Tabellen hatte, kümmert sich um Preiskalkulation und -gestaltung.
„Wir ergänzen uns gegenseitig“, so das Resümee des Duos, das von der „tollen Energie“ im Team schwärmt und bilanziert: „Die Entwicklungsphase für alle Komponenten ist abgeschlossen. Das Patent ist angemeldet, jetzt müssen wir noch die aufwändigen Hürden für die technische Zulassung und Typengenehmigung nehmen, Hersteller und Lieferanten mit viel Know-how und Engagement sind gefunden. Auf dieser Basis können wir uns vorstellen, weitere Varianten von VERD° zu entwickeln.“
RADFAHREN UND SPIELEN UNTER VERD°
Carlotta Ludig würde sich wünschen, irgendwann auf einem Radweg zu fahren, den VERD°-Module mit duftenden Pflanzen und Blüten begrünen sowie beschatten. Nicola Stattmann könnte sich vorstellen, mit ihnen Freiflächen von Kindergärten auszustatten und Schaukeln oder Klettergerüste zu integrieren.
„Ein Betreiber von 80 Einrichtungen hat schon bei uns angefragt. Er erzählte, dass die Kinder an heißen Tagen nicht draußen spielen können, weil der Schatten fehlt. Das mit VERD° zu ändern, fände ich sehr schön und berührend. Auch in diesem Fall bedeutet die Arbeit für „OMC°C“ für mich zeitintensive Freude.“
Als Belohnung für ihren Einsatz bekommt sie auf der ganzen Linie Zustimmung für ihr Herzensprojekt. Beim Gründerpreis der Stadt Frankfurt 2022 belegte „OMC°C“ den dritten Platz. Beim hessischen Gründerpreis geht das Start-up in sein nächstes Rennen.
Fotos: OMCC°, Anja Jahn, Ingmar Kurth