Reisbauer sitzt auf einem Büffel

„AUCH DAS GEHT VORÜBER“

Ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen: Eine ist in meinem Heimatland Vietnam sehr beliebt; die andere handelt von meiner Covid-19 BA.5 Erkrankung. Die Erkenntnis aus beiden ist dieselbe.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Schicksalsergebene Gelassenheit
  • Widrigkeiten als Notwendigkeit
  • Den gegenwärtigen Moment & Herausforderungen meistern

Text Van Nguyen Hoang

Schwarz-Weiß-Bild von Van Nguyen Hoang.

Van Nguyen Hoang wurde in Vietnam geboren. Dort und in London studierte sie Jura, bevor sie Dozentin für Inter­nationales Recht an der Hanoi National University und Gast­forscherin am Max-Planck-Institut in München wurde. Ihre buddhistischen Gedanken zeigen sich in ihren Arbeiten.

AUCH DAS GEHT VORÜBER 1

Die erste Geschichte trägt den Titel „Wir werden sehen“ und geht so:  Es war einmal ein Bauer, der nicht viel Geld hatte und statt eines Traktors ein altes Pferd benutze, um sein Feld zu pflügen. Eines Nachmittags, als er auf dem Feld arbeitete, fiel das Pferd tot um.

Alle im Dorf sagten: „Oh, wie schrecklich, dass so etwas passiert.“ Der Bauer sagte nur: „Auch das geht vorüber.“

Er war so friedlich und ruhig, dass die Dorfbewohner zusammenkamen und ihm, weil sie seine Haltung bewunderten, ein neues Pferd schenkten. Viele meinten: „Er ist ein Glückspilz“. Doch der Bauer sagte nur: „Auch das geht vorüber.“

Ein paar Tage später sprang das neue Pferd über einen Zaun und lief weg. Alle im Dorf schüttelten den Kopf bedauerten den Bauern und riefen: „Was für ein armer Kerl!“ Doch dieser lächelte und wiederholte: „Auch das geht vorüber“.

Schließlich fand das Pferd den Weg nach Hause und alle sagten über den Bauern erneut: „Was für ein Glückspilz.“ Dieser meinte: „Auch das geht vorüber.“

Später im Jahr ritt der kleine Junge des Bauern auf dem Pferd aus, stürzte und brach sich das Bein. Alle im Dorf sagten: „Wie schade für den armen Jungen.“ Und der Bauer sagte: „Auch das geht vorüber.“

Zwei Tage später kam die Armee ins Dorf, um neue Soldaten einzuberufen. Als sie sahen, dass der Sohn des Bauern ein gebrochenes Bein hatte, beschlossen sie, ihn nicht zu rekrutieren. Nun sagten alle: „Was für ein glücklicher junger Mann.“
Der Bauer lächelte wieder – und sagte: „Auch das geht vorüber.“

  • Ein Landwirt treibt Kühe über die Steppe
  • Eine Frau zündet Räucherstäbchen an

AUCH DAS GEHT VORÜBER 2

Und nun zu meiner eigenen Geschichte. Ich habe, um die fast zweijährige Pandemie zu überstehe, stets sehr auf mich aufgepasst. Aber dann, in einem unerwarteten Moment, habe ich mich bei einer Geburtstagsfeier mit der Variante BA.5 angesteckt.

Die Freundin, die mich ansteckte, war gerade von einem Frankreichurlaub zurückgekehrt und wusste nicht, dass sie infiziert war. Als sie mir später, nach einem Schnelltest mitteilte, dass sie BA.5 hatte, wies ich zwar noch keine Symptome auf, war aber sehr beunruhigt, da ich in der Zwischenzeit ein Ticket gekauft hatte, um zwei Wochen später nach Norwegen zu fliegen.

Zwei Tage später traten alle Symptome auf einmal auf: laufende Nase, Halsschmerzen, Kopfschmerzen, anhaltender Husten und Müdigkeit … Ich fühlte mich wie ein Zombie, dachte sogar, ich könnte sterben, weil ich wegen der Hustenanfälle oft keine Luft mehr bekam. Und plötzlich stiegen viele Gedanken über die Pandemiezeit in mir hoch.

Blick auf Berge

CORONA, DER WECKER

Corona hat uns sehr wachgerüttelt, um zu erkennen, dass wir in diesem Leben vielleicht nach anderen, nachhaltigeren und tieferen Werten suchen müssen. Die Pandemie hat uns auf eine Reise voll von schmerzhaften Umwälzungen mitgenommen. Es schien, als würden wir die Sonne nie wieder sehen. Wir warfen uns gegenseitig verstörte Blicke zu, weil uns der Dreh- und Angelpunkt fehlte; und wussten nicht einmal, ob es ein Morgen geben würde.

In den letzten Monaten wurde unser Leben plötzlich in zwei Hälften geteilt. Die Hände durften sich nicht mehr berühren, weil man sich sozial distanzierte. Wir mussten uns zu Hause isolieren, langweilten uns mit dem, was wir routinemäßig taten und mussten schließlich das tun, was wir schon lange nicht mehr tun wollten: uns selbst gegenübertreten.

 

Wir fühlten uns klein, und unser Leben war extrem zerbrechlich. Wir begannen uns zu fragen, wer wir sind und wofür wir in diesem Leben da sind.

Es war für die meisten von uns schwierig, das zu tun, was wir seit unserer Kindheit bis heute ununterbrochen hätten tun sollen, nämlich uns selbst zu verstehen und damit umzugehen, unabhängig davon, was gerade passiert und womit wir konfrontiert sind. In der Zeit der Panik, der extremen Angst, in der die Menschen sich nicht an Ruhm, Profit, Lust oder Geld klammern können, sind sie gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen und plötzlich einen wunderbaren Wert zu erkennen: das eigene Leben.

In der Not der Pandemie haben viele erkannt, dass das Glück so einfach ist, aber dass wir diese unter „normalen“ Umständen nicht erkennen, wie z.B. das Glück, Zeit mit Familie und Freunden zu teilen … im Lichte der Bewusstwerdung ist es gut, die Widrigkeiten mit der Einstellung anzunehmen, dass Widrigkeiten eben notwendig sind, um eine Person zu formen, um die Essenz des Menschen zum Vorschein kommen zu lassen.

Mensch steht in einer Höhle in einem Lichtstrahl

NEUER MUT

Als mir diese Einsicht kam, habe ich mir selbst Mut zugesprochen. Ich erinnerte mich an die obige Geschichte und dachte, dass auch diese schwere Zeit vorübergehen würde. Glücklicherweise erholte ich mich nach etwas mehr als einer Woche (während es bei einem anderen Infizierten dieser Geburtstagsfeier sechs Wochen dauerte), kurz vor der Reise, obwohl ich mich immer noch sehr müde und schwach fühlte.

Umso überraschter war ich, als ich es vor Ort schaffte, auf den Berg Preikestolen in Stavanger zu steigen, dort, wo Tom Cruise Impossible Mission (Teil 6) – Fallout (2018) gedreht hatte. Die Aussicht war überwältigend.

Und genau in dem Moment, als ich sehr stolz darauf war, beim Aufstieg sechs Stunden lang ein gleichmäßiges Tempo zu halten, rutschte ich aus. Was für ein Pech, vielleicht muss ich jetzt den Notruf wählen, dachte ich. Ich versuchte jedoch, Ruhe zu bewahren, setzte mich hin, um mich auszuruhen und die schmerzende Stelle zu massieren; dabei tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass auch das vorübergehen würde.

Zum Glück war der Fuß nicht gebrochen, und so gelang es mir schließlich, mich Zentimeter für Zentimeter fortzubewegen … Es dauerte zwei Tage, bis ich mich vollständig erholt hatte. Zum Glück regnete es in diesen zwei Tagen stark, weshalb ich ohnedies gezwungen war, den Aufstieg zu unterbrechen.
Ich könnte diese Geschichte noch lange fortsetzen, aber lassen Sie sie mich mit einigen Zeilen zusammenfassen. Wie wir sehen, gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden „Stories“, vor allem den „Auch das geht vorüber“- Gedanken.

FREI VON SCHMERZ

Halten wir fest: Das Leben ist unbeständig, nicht nur seit es in „The Big Bang Theory“ heißt: „Die Unvermeidlichkeit des Wandels ist die universelle Konstante“.  Wer die Vergänglichkeit erkennt, wird frei von Schmerz sein. Nicht alles ist so, wie es scheint. Manchmal sind die Dinge einfach dem Schicksal überlassen. Wir sollten nicht darauf beharren, das zu bekommen, was wir wollen.

DAS WUNDER DES DASEINS

Es gibt immer Dinge, die zusammenwirken: Glück und Leid, Freude und Traurigkeit, Glück und Unglück … Denn, wenn man das Unglück nicht erleidet, wie kann man dann den Moment des Glücks genießen? Nur wenn man weiß, was der Kummer ist, kann man die Freude schätzen. Im Leben kommt es sehr oft vor, dass Beides aufeinander folgt. Deshalb ist es sinnlos, auf die Ereignisse und Umstände unseres Alltags überzureagieren.

Oft kann das, was wie ein Rückschlag aussieht, in Wirklichkeit ein Segen sein. Und wenn unser Herz und unsere Achtsamkeit am richtigen Platz sind, sind alle Ereignisse und Umstände Geschenke, aus denen wir wertvolle Lektionen lernen können.

Wie der Humanist Giovanni  Giocondo einst sagte: „Alles, was wir eine Prüfung, einen Kummer oder eine Pflicht nennen, ist ein Geschenk und das Wunder einer überschattenden Gegenwart.“

ACHTSAMKEIT FÜR EIN GLÜCKLICHES LEBEN

Es wäre schön, wenn wir lernen würden, unsere Achtsamkeit dauerhaft in unseren Körper zurückzubringen, Selbsttransformation zu praktizieren, um uns selbst immer klarer zu verstehen, sowie die Gewohnheit zu entwickeln, unsere Ideen und Gedanken in jedem Moment zu kontrollieren, sobald wir den Phänomenen der Welt durch unsere Sinne ausgesetzt sind.

Wenn wir zudem tief im gegenwärtigen Moment leben und sehen, dass die Bedingungen um uns herum magisch sind, werden wir innere Stärke entwickeln. Bis dahin werden wir, was auch immer geschieht, keine Angst haben, sondern einen starken Geist, um damit fertig zu werden und ein achtsames Leben aufzubauen.

Und in der Tat gewährt ein in jedem Augenblick achtsames Leben das glücklichste und sinnvollste Dasein.

 

Fotos: Unsplash / Ines Alvarez, Markus Bluthner, Long Bun, Daniel Burka, Kiril Dobrev, Chinh Le Duc 

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