Verpflichtung versus Freiheit
Die heutige Gesellschaft ist bestimmt von Verpflichtungen, Verantwortung und Vernunft. Wie kann man trotzdem frei sein? Eine Leseprobe mit Antworten aus dem Buch „Weit weg – Nah dran.“
Hier erfahren Sie mehr über
- Wahre Freiheit
- Wahlfreiheit
- Verantwortung
Text MoonHee Fischer
Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.
Reinhard Mohn, Gründer des Bertelsmann Verlags, schrieb einst an den Club oft Rome:
„Wir haben die Freiheit zum Handeln! Wir sollten sie nutzen.“
Hinter diesem Appell steckt die tiefe Einsicht, dass Freiheit zwar ein Recht ist, auf das wir alle einen Anspruch haben, das jedoch zugleich mit Pflichten einhergeht. Keine Rechte ohne Pflichten.
Freiheit wird irrtümlicherweise als etwas verstanden, was vollkommen losgelöst über allem steht. Da Freiheit aber Wahlmöglichkeiten voraussetzt, bedeutet Freiheit immer Verbindlichkeit. Ob wir uns frei fühlen oder nicht, hängt ganz von der Einstellung zu unseren Pflichten ab und nicht daran, ob wir welche haben oder nicht.
Wahre Freiheit liegt nicht darin, das zu tun, was man möchte oder liebt. Sie wird gefunden, indem man das liebt, was man tut.
Wirkliche Freiheit beinhaltet auch immer die Wahlfreiheit, sich gegen Freiheit zu entscheiden. Alles andere wäre keine echte Freiheit. Es liegt also an uns, ob wir unseren Beitrag für eine bessere Gesellschaft als wertvoll erachten oder ob wir an der Last der Verantwortung zerbrechen.
Konkret gesagt: Freiheit bedeutet zu Wollen und nicht Müssen.
Was ist Freiheit, wer ist frei?
Folgend eine schöne Geschichte aus dem Buch „Der Meister“ von Chao-Hsiu Chen. Es wird von der Begegnung eines Meisters und seinem Schüler mit einem Schafhirten berichtet. Der Schüler fragt den Schafhirten:
„Lebst du hier alleine?“
„Nein“, antwortet dieser, „du siehst doch, ich lebe mit meinen Schafen“.
„Aber du hast keine Eltern und Verwandten?“
„Nein“, wiederholte der Hirte.
„Dann musst du schrecklich einsam sein“, meinte der Junge voll Mitleid.
„Nein“, lachte der Schäfer, „ich bin nicht einsam, ich bin frei.“
„Keiner von uns ist frei“, sprach daraufhin der Meister und blickte zu den Schafen hin: „Wir sind wie sie. Ohne Fürsorge ist niemand lebensfähig. Wir sind alle aufeinander angewiesen; und deshalb haben wir Verantwortung zu tragen.“
„Aber das hieße ja, dass es gar keine Freiheit gibt“, begehrte der Junge auf. „Freiheit gleicht der Luft. Du kannst sie weder sehen noch hören; und wenn sie dich berührt, weißt du ihren Wert nicht zu schätzen. Hast du sie aber verloren, dann sehnst du dich nach ihr. Meinst du, ein freier Mann kann tun, was er will? Nein, denn er muss ebenso die Last der Verantwortung auf sich nehmen wie der Hirte, der für seine Tiere sorgt.“
Da sagte der Schäfer: „Aber es ist doch selbstverständlich, dass ich für sie sorge.“
„Gerade deshalb bist du frei“, sprach der Meister und blickte gleichzeitig auf seinen Schüler.
Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.
Fotos: Unsplash / Ambitious Studio Rick Barrett, Vika Strawberrika, Kristina V