Visionen

Visionen und Utopien – Der neue Blick ins Jetzt (TEIL 1)

Zu allen Zeiten haben Menschen Ideen und Pläne entwickelt, um ihr Leben zu verbessern. Doch diese haben nicht nur Licht- und Schattenseiten. Ein Bericht in zwei Teilen über die beiden Seiten des Tagträumens für eine bessere Welt.

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  • Lebensgestaltung
  • Tatkraft
  • Mystik

Text Barbara Strohschein

Schwarz-Weiß-Bild von Dr. Barbara Strohschein.

Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.

Visionen und Utopien

Visionen und Utopien sind gewöhnlich auf die Zukunft bezogen. Und nun sollen sie auf die Gegenwart gerichtet werden? Ich denke ja. Wir brauchen neue Ideen und Perspektiven, um es uns in der weit verbreiteten Weltuntergangsstimmung nicht zu bequem machen zu wollen und gleichzeitig an ihr zu leiden. Gerade in diesen krisengeschüttelten Zeiten ist es entscheidend, nicht klein beizugeben. Vielmehr kommt es darauf an, Mut und die Energie aufzubringen, um neue Lebensentwürfe zu schaffen und in die Wirklichkeit umzusetzen.

Es gibt keinen Grund, sich ins schlechte Jetzt zu fügen, wenn wir auf unsere Vorstellungskraft und unseren Möglichkeitssinn bauen.
Zudem verändert sich alles sowieso im Laufe der Zeit. Und Menschen sind weder nur die Opfer noch nur die Täter ihrer Epoche. Sie sind grundsätzlich dazu fähig, die Realität nicht nur zu erleiden, sondern sie auch zu formen.

Vom Wollen zum Können

Zu den menschlichen Fähigkeiten gehört die Vorstellungskraft, die jedem Gestaltungsakt vorausgesetzt ist. Diese Fähigkeit ist auch die Quelle von Visionen und Utopien, in denen das gesehen und beschrieben wird, was noch nicht da ist, bzw. noch nicht zu erblicken ist. Die Vorstellungskraft äußert sich nicht nur in Visionen und Utopien, sondern in Ideen, durch die Phantasie, durch Entwürfe, in Tagträumen – durchweg Aspekte des menschlichen Bewusstseins.

Der Auslöser für die Vorstellungskraft ist oft ein erlebter Mangel. Zum Beispiel der Mangel an Frieden, an Komfort, an Reichtum, an Lösungen, an Austausch, an Werten, an Sinn und Gelingen und an Sicherheit. Viele Menschen heute, selbst die, die im Frieden leben und relativ privilegiert sind, leiden heute unter diesen Mangelerscheinungen und haben im doppelten Sinne Angst: dass sich nichts ändert und dass sich etwas ändert.

Um etwas verändern zu WOLLEN, gehört jedoch nicht nur die Vorstellungskraft, sondern auch die Hoffnung, dass es möglich ist, real etwas verändern zu KÖNNEN. Wenn niemand mehr hofft, ein Problem lösen zu können, so kann sich auch niemand mehr vorstellen, wie eine Lösung aussehen könnte.

So können wir hier einen interessanten Wirkungsmechanismen konstatieren zwischen Mangelerfahrung, Hoffen, Vorstellungskraft und Tatkraft. Das eine setzt das andere voraus. Wer den Mangel verdrängt oder ihn nicht bewusst wahrhaben will, kann die Spannung zwischen dem was ist und was sein könnte, gar nicht wahrnehmen. Wer nicht hofft, gibt sich keine Mühe, sich positive Veränderungen auszudenken. Und wer sich nichts vorstellt, kann nichts verändern.

  • Schild "Imagine" steht auf einem Hocker
  • Mensch steht in der Nacht vor Sternenhimmel

Mangel und Hoffnung

Die gesamte Kultur- und Zivilisationsgeschichte ist darauf zurückzuführen, dass Menschen aufgrund eines erlebten Mangels kreativ wurden und etwas schufen, was es vorher noch nicht gab. Zu Beginn der Menschheit existierten keine Häuser, keine Städte, keine Räder, keine Technik, aber dafür ein Leben mit und in der Natur. So entwickelte sich im Laufe der Geschichte das Leben in der Wildnis hin zum Leben im Zelt, vom Zelt ins Haus, vom Haus in die Stadt; vom Laufen und Reiten hin zur Erfindung des Rades; vom Erleben sozialer Ungerechtigkeit zur Erschaffung sozialer Systeme. Ob sich dieser Entwicklungsprozess der Menschheit förderlich ist oder nicht, sei – zumindest hier in diesem Kontext – dahingestellt.

Denken wir diese Vorgänge der Hoffnung und des Erfindens nicht nur in großen Zusammenhängen, sondern auch in kleinen Schritten im Alltag: Hoffen, dass der Tag gut anfängt; dass eine Aufgabe zu erfolgreich zu bewältigen ist; dass ein Wunsch in Erfüllung geht; dass einem plötzlich eine neue Idee einfällt usw.
All diese Schritte motivieren, aktiv zu werden. Die Schritte von der Idee zur Tat gelten ebenso für die Lebensplanung, für das Erschaffen eines Kunstwerks, einer wissenschaftlichen Theorie, eines neuen Gesellschaftsprojekts, einer politischen Entscheidung und einer neuen Unternehmenskultur. All das können mögliche Realisations-Ebenen der menschlichen Vorstellungskraft sein.

Gehen wir noch weiter: Das Mangelerlebnis, das Hoffen, die Vorstellungskraft sind – wie schon erwähnt – Vorbedingungen von Visionen und Utopien. Um diese Behauptung zu begründen, ist es notwendig, sich mit diesen beiden Begriffen näher zu befassen, weil sie heute entweder verflacht, oberflächlich verwendet oder aber negativ konnotiert sind.

Blick auf das Meer durch eine Röhre

Visionen und Utopien – notwendig oder Phantastereien?

Eine Zeitlang sind Visionen und Utopien in Verruf geraten. Auf eine an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gestellte Frage, gab er die folgende Antwort: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Eines hat der um keine Antwort verlegene Politiker nicht bedacht: Visionen wie auch Utopien sind, wie schon gesagt, eine Form des Bewusstseins und der menschlichen Vorstellungskraft, ohne die die Realität, in der wir heute leben, nie hätte so erschaffen werden können.

Dieser Prozess des Sich-Vorstellens findet im menschlichen Bewusstsein statt, das zu mehr fähig ist, als das unmittelbar konkret Vorhandene wahrzunehmen. Das Bewusstsein ist ein Aspekt des Geistes, einer formschaffenden Energie, die nicht nur in der Materie steckt, sondern auch Materie schafft. In den höheren Gilden der Theoretischen Physik und der Quantenphysik ist diese Erkenntnis längst zur Wahrheit geworden, ohne dass man dazu Religionen oder eine Spiritualität bemühen muss.

Jedoch wird dies schlichte Tatsache – alles hat seinen Ursprung im Geistigen – in einem materialistischen Zeitalter, in dem es auf Beweise, auf Überprüfung, auf Vermessen und Maximierung ankommt, nicht ernst genommen. Das war und ist in anderen Kulturen und Zeitaltern nicht der Fall, wie es nicht nur Ethnologen und Archäologen, sondern auch Eingeweihte als selbstverständlich begriffen. Von einer geistigen Wirkkraft auszugehen, gehört jedoch nicht zu einem rein materialistischen Weltbild, das immer noch prägend ist.

Visionen und Utopien – der Unterschied

Visionen und Utopien kann man nicht beweisen. Sie werden nicht von selbst real. Sie befinden im Widerspruch zu einer faktischen Welt. Insofern sind sie in Verdacht, in der Nähe von Hirngespinsten zu stehen und etwas Irreales widerzuspiegeln. Dies anzunehmen, hieße, das menschliche Bewusstsein schlechthin als formschaffende Kraft nicht ernst zu nehmen. Das dieser Verdacht, es handele sich um Hirngespinste generell nicht berechtigt ist, zeigt nicht nur die Geschichte, sondern entspricht einer anthropologischen Konstante.

Visionen bezeichnen das Ergebnis einer menschlichen Fähigkeit: zum einen, eine andere Wirklichkeit in einer großen Gesamtschau zu erkennen. Das ist ein Blick in die geistige Welt, in das Universum und dessen universellen Gesetzmäßigkeiten, die auch das Leben auf der Erde bestimmen.  Die großen europäischen Visionäre, von denen ich noch reden werden, haben es eine Schau Gottes genannt. Visionen werden oft fälschlicherweise mit einem Entwurfsdenken gleichgesetzt. In Visionen wird aber nicht das gesehen, was kommen soll, sondern das, was in der geistigen Welt vorhanden ist. Unter diesem Aspekt kann mit dem Begriff nicht einfach so umgegangen werden, als beschriebe er eine schlichte Zielsetzung.

Jedoch wird mit dem Begriff Visionen in Unternehmen oder in der Formulierung gesellschaftlicher Zielsetzungen meiner Ansicht nach leichtfertig umgegangen. Nämlich dann, wenn Visionen mit „Werten“, an denen man sich orientieren kann oder soll, verwechselt werden. Dem Sinn nach: Unsere Visionen sind Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Frieden usw..  Doch gute Ideen und großartige Werte zu proklamieren, hat nichts mit Visionen zu tun, sondern sind Ziele und Wünsche, die noch nichts über ihre Wahrheit und Realisationsmöglichkeiten aussagen.

Blauer Mensch vor gelbem Hintergrund

Besondere Gaben und mystische Erfahrungen

In Visionen werden große Sinnpanoramen erkannt. In einem Hellsehen, wie zum Beispiel denen der Mystiker, die das Wirken der geistigen Welt erschauen können. Visionen sind das Ergebnis einer besonderen Gabe, die befähigt, hinter die Schleier der Wirklichkeit sehen zu können. Die spanische Karmeliterin und Mystikerin Teresa von Avila und der deutsche Mystiker und Schuhmacher Jakob Böhme haben in ihren Schriften die göttliche Welt gesichtet. In seinem Werk „Aurora“ gibt Jakob Böhme seine mystischen Erfahrungen wieder, in der er die Entwicklung aller Lebewesen in einem ewigen Geburtsprozess erschaut, in einem immer währenden schöpferischen Prozess.
Zu diesem Prozess gehört auch die Erkenntnis über die widersprüchliche Natur des Menschen mit seinen Licht- und Schattenseiten. Diese Widersprüchlichkeit ist Ausdruck alles Lebendigen, das sich immer in einem Wandel durch Gegensätze erhält. Böhme wusste, dass diese Tatsache als allgemein menschlich zu akzeptieren ist. Böhmes Werk beeinflusste viele Denker und Dichter des Deutschen Idealismus.

Teresa von Avila sah in ihren Verzückungen die heilige Dreieinigkeit, die mystische Vermählung und die Engel, die die Manifestationen der Liebe sind. Mit der Beschreibung ihrer Visionen überzeugte sie ihre Zeitgenossen, dass es nur um die Liebe zu Gott und den Menschen ging – und um nichts anderes. Auch sie hat sich nicht nur mit den menschlichen Schattenseiten allgemein befasst, sondern auch mit ihren eigenen. Visionen zu haben, bedeutet bei den Mystikern auch eine tiefe Selbsterkenntnis.

Nicht nur diese europäischen Visionäre, sondern auch die spirituellen Lehrerinnen und Lehrer aus den kulturellen Traditionen des Sufismus, Schamanismus, wie auch die Gurus und Yogis, sind und waren dazu fähig, die geistige Welt zu erkennen. In den asiatischen und außereuropäischen Kulturen wurden und werden diese Seher ernst genommen, gehört und gefragt. Zweifellos gibt es auch die Art von Visionen, unter denen psychisch erkrankte Menschen leiden. Doch die Grenze zwischen Weitsicht, Weltsicht, Hellsichtigkeit und Wahnsinn ist schmal und unterliegt oft Fehlurteilen – je nach Zeitgeist.

Ab 17. April können Sie hier auf Purpose den zweiten Teil der Untersuchung lesen. Darin beschreibt die Autorin die Grundzüge und -inhalte von Utopien. Doch nicht nur das: sie erklärt auch, warum das Gegenteil von einer Utopie die Dystopie ist, die heute so „in“ ist, und warum wir neue Utopien brauchen.

Fotos: Unsplash / Clay Banks, Erlend Ekseth, Josh Hild, Debby Hudson, Tatiana Pavlova

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