Visionen, Utopien – und Dystopien (TEIL 2)
Wie könnte eine bessere Welt aussehen? Zu allen Zeiten haben Menschen sich diese Frage gestellt und nach Ideen gesucht. Über den Charakter von Utopien, auch negativen, berichtet unsere Autorin in diesem Teil ihrer Untersuchung.
Hier erfahren Sie mehr über
- Utopisten
- Weltuntergangsszenarien
- Initiatoren und Idealisten
Text Barbara Strohschein
Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.
Neue Lebensformen der Zukunft
Im Gegensatz zu den Visionen, deren Charakteristika ich im ersten Teil dargestellt habe, werden in Utopien neue Lebensformen der Zukunft entworfen. Utopien enthalten niedergeschrieben Konzepte, wie eine bessere Welt aussehen und gestaltet werden könnte. Diese Konzepte entstehen immer aufgrund von Kritik und Bewertungen der Realität im Hier und Jetzt. Sowie in Utopien eine bessere und gerechtere Zukunft beschrieben wird, so wird in Dystopien in grellen Farben der Untergang prognostiziert und ausgemalt.
Dystopien sind heute weit mehr „in Mode“ als Utopien. Nicht nur in den Medien, in Filmen und Romanen, sondern auch in politischen Vorhersagen, wird mit dem drohenden Unterton verkündet: so sieht die grauenvolle Zukunft aus; und wenn das und das nicht geschieht, beschlossen und umgesetzt wird, dann gehe die Welt unter. Besonders in den Klimadebatten wie in vielen gesellschaftlichen Diskursen sind diese dystopischen Zukunftsentwürfe weit verbreitet.
Mangelerfahrungen und Zukunftsentwürfe
Sowohl in Utopien wie auch in Dystopien sind Mangelerfahrungen und Kritik an den gegenwärtigen Zuständen immer und grundsätzlich die Auslöser für die Zukunftsentwürfe.
Die klassischen Utopisten wie der englische Humanist, Jurist und Berater Heinrich VIII. Thomas Morus („Utopia“) aus dem 16.Jahrhundert und der aus Italien stammende Tommaso Campanella („Der Sonnenstaat“) entwarfen eine neue bessere Welt.
Morus hat den Begriff erfunden bzw. aus dem Griechischen abgeleitet: Ou=nicht und Topos=der Ort. Utopien sind, so definiert, Orte, die es noch nicht gibt.
Die Utopisten Morus, Campanella, Platon…
In seinem in Romanform entwickelten Werk ist Morus im Gespräch mit einem Seefahrer, der von einer fernen Insel berichtet, auf der es ein ideales Staatswesen gibt. Fragen wie die folgenden stellt Morus dem fiktiven Seefahrer:
Ist soziale Gerechtigkeit gut?
Muss es Privateigentum geben?
Wenn niemand nach Gewinn strebt, können trotzdem genügend Güter für alle geschaffen werden?
Wie soll ein Staatsoberhaupt fungieren, das nicht aus Eigennutz Kriege anzettelt?
In diesem ersten in der Geschichte auftauchenden Werk dieser Art, hat Morus die Ideen einer gerechten Gesellschaft aufgegriffen, die bis heute relevant und nicht beantwortet sind.
Morus hat für seine entschiedene Haltung dem englischen König, der von ihm verlangte, die Vorherrschaft des Königs gegenüber der Kirche zu akzeptieren, bitter büßen müssen. Er wurde hingerichtet.
Tommaso Campanella war ein italienischer Dominikaner und Philosoph, der in seinem Hauptwerk, ähnlich wie Morus, das Privateigentum als Übel der Gesellschaft beurteilte. (Jahrhunderte vor Karl Marx.) Vergleichbar mit Morus beschrieb Campanella das soziale System einer Insel, in der die Bildung eine zentrale Rolle spielt. So Campanella: Alle auf der Insel lebenden Menschen beschäftigen sich mit sinnvollem Tun. Sie leben in einer Weltordnung, in der jeder versorgt ist in einer geregelten Gütergemeinschaft. Die Produktion richtet sich hier nach der Endlichkeit der Erde aus, in einem Staat, in dem die Sonne die Idee des Guten und Lebendigen verkörpert. Der Rebell Campanella, der immer wieder durch seine eigenwilligen Ideen verfolgt und angeklagt wurde, war nicht nur angetreten, um sich neue Welten auszudenken, sondern auch um Tyrannei, Klüngelei und Heuchelei auszumerzen.
Den Werken dieser beiden berühmten Utopisten gingen Platons Ideen in seinem Buch „Politeia“ voraus, die man im strengen Sinn noch nicht als eine Utopie bezeichnen kann, in dem aber die Ideen zu einem Gesellschaftssystem entworfen wurden, die nachhaltige Wirkung hatten in der Philosophiegeschichte. In philosophischen Gesprächen lässt Platon die Grundzüge eines Idealstaats entwerfen, in dem Gerechtigkeit herrscht. Die ihm nachfolgenden Utopisten griffen seine Ideen auf und konkretisierten sie aufgrund ihrer damals erlebten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Ernst Bloch und das Prinzip Hoffnung
Auch in der Neuzeit gibt es utopische Entwürfe. Zu den prominentesten gehört das Werk des Philosophen Ernst Bloch „Geist der Utopie“, in dem er das Konzept eines neuen Denkens zeichnet. Er erklärt, dass die Utopie als Denk- und Fühlbewegung eine Antriebskraft seien, die im Menschen und in der Materie selbst lägen und die gegen alles Unfertige steht. Das heißt, die Fähigkeit, utopisch zu denken und zu sein, liegt – so Bloch ganz im Sinn einer Entelechie – in allem Lebendigen.
In seinem dreibändigen Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ fächert Bloch auf, wie die Menschheitsgeschichte schlechthin ein Ausdruck von in die Realität umgesetzten Vorstellungen einer besseren Welt sei. Gleich, ob es sich um konkretisierte Entwürfe in der Kunst, für neue gesellschaftliche Systeme, neue Ideen in der Wissenschaft, in der Medizin – ja um Neues in allen menschlichen Bereichen handelt.
Das ist der philosophisch-existentielle Aspekt in Blochs Philosophie überhaupt: Utopie ist ein Ausdruck des Werdens, was im Leben selbst liegt.
Selbsterhaltende Werte
Diese genannten und andere utopische Denker korrigierten in unterschiedlichen Narrativen gedanklich die Wirklichkeit. Man kann sie mit Architekten vergleichen: Sie zeichnen Pläne für die Zukunft, aber gebaut wird sie von Baumeistern und Maurern. Der Architekt stellt schließlich nicht selbst die Häuser her, die er entworfen hat.
Insofern bleibt bei Utopien immer die Frage: Wer setzt unter welchen Aspekten mit welcher Berechtigung und Begründung, was, wie, mit wem und mit welchen Zielen und Werten um?
In allen Utopien spielen eben Werte immer eine Rolle: Es geht durchweg um solche Werte, mit denen sich die Menschheit selbst erhalten kann bzw. könnte: wie Gerechtigkeit, Toleranz, Frieden, die Aufhebung von Privateigentum. Macht, Weisheit und Liebe sollten die Eigenschaft der Herrschenden sein, die Interessen der Einzelnen haben sich denen der Gemeinschaft unterzuordnen. Die menschliche Begrenztheit ist hier weit weniger das Thema als die menschlichen Möglichkeiten.
Schöne neue Welt?
Die negative Utopie nennt man – wie ich schon erwähnte – Dystopie. Auch hier haben sich Autoren ans Werk gemacht, um in ihren Büchern den zukünftigen Untergang der Welt oder das Schreckensbild zu beschreiben, das real wird, wenn „man“ so weitermacht wie bisher. Die bekanntesten sind Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“, in dem ein brutales Staatssystem jede Veränderung verweigert, und in der durch Kontrolle und Indoktrination den Menschen jede Freiheit verweigert wird. Ähnlich wie George Orwells bahnbrechendes Buch „1984“, ist es eine Zukunftsvision eines totalitären Staates.
Wie nah allein diese beiden Werke an die Realität des 20. und 21.Jahrhunderts herankommen, durch den Nationalsozialismus, den Maoismus und Stalinismus, wie an die politischen Entwicklungen heutiger Diktaturen wie in China und anderen Ländern, ist nicht nur bemerkenswert, sondern erschreckend. Es ist erstaunlich, dass der Geist der Dystopie heutzutage eine weitaus größere Kraft zu entfalten scheint, als die zukunftsweisenden positiven Utopien. Aber hilft uns die Dystopie wirklich weiter? Wir sind hier bei einem Grundthema, das natürlich zu bedenken ist: Nach Bloch sind Hoffnungen der Schlüssel für Veränderung. Nach Nietzsche der Grund für Enttäuschungen. Beide Standpunkte sind wahr. Doch wenn wir uns fragen, mit welcher Haltung man optimistischer leben kann, liegt die Antwort nahe: Ein Leben ohne Hoffnung sähe ziemlich düster aus.
Auffallend ist, dass sowohl die Visionen wie auch die Utopien in unserem Kulturkreis im 16. und 17. Jahrhundert in Erscheinung traten und langfristige Folgen und Wirkungen hatten. Diese Zeit ging unmittelbar der Aufklärung – die eine Zeit des Aufbruchs war, voraus.
Wann beginnt ein neues Zeitalter? Und wie folgen den Ideen die Taten?
Die spannende Frage bleibt, wann ein neues Zeitalter beginnt. Ein Zeitalter, in dem diese menschlichen Fähigkeiten dazu dienen könnten, eben ein Zeitalter des Aufbruchs einzuleiten. Dazu gehört, einen Blick auf die langen Schatten zu werfen, die in der Umsetzung von guten Ideen und wunderbaren Utopien entstehen können.
Dementsprechend wäre es leichtfertig, zu sehr auf die guten Ideen in Anbetracht der schlechten Wirklichkeit allein zu vertrauen.
Wie oft wird das Besser-Gedachte zum Schlecht-Gemachten, weil der Übergang von der Idee in die Tat nicht gelingt bzw. nicht im Blick ist. Leider gibt es nicht nur betreffs der Utopien das Problem, sondern auch in der Wirkung von Idealen, und Erlösungsideen und Weltverbesserungen: Jesus rief zur Gottes- und Menschenliebe auf; und die Kirche, die sich auf ihn beruft, schafft die Inquisition, Ausbeutung und Missbrauch.
Karl Marx wollte die klassenlose gerechte Gesellschaft; und die Auswirkungen des Kommunismus waren mit Säuberungsaktionen und der Vernichtung von Klassenfeinden verbunden.
Frankenstein wollte den perfekten Menschen kreieren und erzeugte ein namenloses ungeliebtes Monster, das auf der Welt herumirrte und im Meer ertrank.
Der Sohn Gottes, ein tabubrechender Denker und eine Romanfigur – sie alle waren aufrichtig von einer Idee beseelt, den Menschen oder die Welt von Übeln zu erlösen. Sie ahnten nicht, was ihren guten Absichten folgte. Ein menschenähnliches Monstrum, der Stalinismus und die Inquisition – Ergebnisse der Menschen- und Weltverbesserung, durch die etwas in Gang gesetzt wurde, was außer Kontrolle geriet und sich zum Nachteil wendete.
Wie die Vorstellungskraft zu Veränderungen führt und was zu bedenken ist
Sollte es daran liegen, dass die Weltverbesserer, die Idealisten, Ideologen am Widerspruch zwischen Denken und Handeln scheitern?
Hier gibt es schon einen bemerkenswerten Unterschied: Die Utopisten und die Visionäre zogen nicht – wie die Idealisten – selbstverständlich in Betracht, dass ihre Sicht und ihre Werke wirklich werden würden. Ich würde sie als Initiatoren, aber nicht als Idealisten bezeichnen. Initiatoren regen an, regen auf, geben Anstöße, neue Perspektiven zu erkennen.
Idealisten hingegen haben – wenn ich das verallgemeinern darf – mehr ihre Ideen als die Folgen durch deren Umsetzung im Blick. So bin ich der Meinung, Initiatoren werden gerade in unserer Zeit, in der die Weltuntergangsstimmung zur Mode geworden ist, umso dringender gebraucht. Mit Idealisten hingegen ist keineswegs zu spaßen. Denn wie oft werden sie zu Ideologen, zu Rechthabern, die ja nur das Gute wollen und sich allein schon deshalb im Recht fühlen und jede Infragestellung ihrer guten Absichten als Angriff ablehnen. Idealisten werden dann zu Illusionisten, weil sie die menschlichen Grenzen und die Fakten der Realität nicht im Blick haben.
Doch diejenigen Denker (-innen gab es bisher kaum), die Utopien entwerfen, die auf einer kritischen Analyse der gegenwärtigen Realität aufgebaut sind, als auch solche Visionäre, die mehr sehen als nur die Realität, geraten weniger in Gefahr, in diese Fallen zu laufen, obgleich ihre Inhalte durchaus natürlich Ideale beschreiben.
Utopisten können im besten Sinn konstruktive Kritiker der Zeit sein; und Visionäre sind diejenigen, die in einem großen universellen Zusammenhang die Tendenzen und Latenzen der Weltentwicklung im Verhältnis zu den universellen Gesetzen sehen können.
Schritte zu Veränderung
Die große Frage ist natürlich: Wie können Zukunftsentwürfe dazu führen, dass konkret ein schlechter Zustand aufgehoben werden kann. Das wäre ein Schritt von der Theorie zur Praxis, ein Thema, das die Philosophen seit jeher beschäftigt. Aber ich werde darauf verzichten, dieses Thema hier zu erörtern. Ich werde stattdessen acht Schritte nennen, die von der Idee in die Veränderung führen, ganz gleich, ob es sich um ein politisches Projekt, eine neue Unternehmenskultur, ein wissenschaftliches, soziales oder künstlerisches Projekt handelt.
In diesen Schritten könnte (je nach Kontext) in der Praxis eine Vorstellung von einer gewünschten Zukunft umgesetzt werden, ohne in die Grube des Unmöglichen oder die der Illusion zu fallen:
- Eine kritische Analyse der Ursachen von Konflikten
- Eine Vorstellung einer Lösung
- Das Konkretisieren der Vorstellung in einzelne Lösungsschritte
- Das Antizipieren der Auswirkungen, die eine Lösung haben könnte
- Die Überprüfung der Ziele, die angestrebt und umgesetzt werden
- Die kritische Reflexion im Lösungsprozess selbst
- Die Auseinandersetzung mit den offenkundigen oder versteckten Widerständen
- Eine kritische und neutrale Beobachtung der Vorgänge
- Die Überprüfung des Ergebnisses im Verhältnis zu dem, was vorgestellt, geplant und angezielt wurde
Zu diesen Schritten gehört die Fähigkeit, nicht nur das Gewollte zu antizipieren, sondern auch die Folgen dessen, was man sich wünscht und umsetzt, zu bedenken. Das heißt, sie zu kommunizieren und immer wieder zu überprüfen. Denn wie oft im Leben geschieht es, dass Wünsche wahr werden, deren Wirkung sich ins Gegenteil verkehrt.
Positive Prinzipien der Verbreitung von Zukunftsideen
Das Konzept einer „gerechten Welt“ (in einer klassenlosen Gesellschaft z.B.) impliziert den Ausschluss und die Vernichtung aller, die nicht in das System passen. Der Klimaschutz könnte zu einer ökonomischen Katastrophe führen, wenn entscheidende Wirkfaktoren nicht bedacht werden. Beispiele dieser Art ließen sich im Kleinen wie im Großen fortsetzen. Deshalb ist es entscheidend, dass sich die Kommunikation und Verbreitung von Zukunftsideen an sechs positiven Prinzipien orientieren, die von der Arbeitsgruppe des Physikers Prof. Dr. M.Stock, Beirat für nachhaltige Entwicklung des Landes Berlin, stammen. Diese Prinzipien sind meiner Ansicht nach allgemein gültig, wenn es darum gehen soll, Inhalte zu vermitteln, die auf den Anstoß zur Veränderung hinauslaufen sollen.
- Positive Botschaften kommunizieren
- Perspektive schaffen
- Politikübergreifend denken und handeln
- Prüfen, was stimmt und was nicht stimmt
- Partizipation als Strategie
- Prozesshaft orientiert sein
In Anbetracht der vielen menschlichen Fehler und Fehlleistungen, hier und jetzt und in der Vergangenheit, ist es umso wichtiger, an die Kraft der menschlichen Vorstellungs- und Tatkraft zu erinnern, statt sich im Pessimismus oder der Abwehr gegen alles Neue zu verankern.
Schließlich sind Menschen lernende Wesen und die Realität ist nie schon das, was sie werde könnte.
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