Vom übermäßigen Streben nach Macht
„Der Fürst“ von Niccolò Machiavelli hat seit seinem Erscheinen die Mächtigen der Welt beeinflusst. Was sagt er uns heute?
Hier erfahren Sie mehr über
- Den Beginn der Neuzeit
- „Machiavellismus“
- Macht, Management und Authentizität
Text Irmela Neu
Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zu emphatischer Kommunikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de
Vom Beginn der Moderne
Das ausgehende 15. und das 16. Jahrhundert, in dem der Florentiner Niccolò Machiavelli lebte (1469 – 1527), hat es in sich: Religionskriege, Aufstände, Herausbildung eines städtischen Bildungsbürgertums vor allem in der Handelsstadt Florenz, aus der unser Autor stammt. Während im Mittelalter und auch noch darüber hinaus in weiten Teilen Europas die mittelalterliche Ständeordnung mit ihrer sozialen Undurchlässigkeit vorherrschte, bildete sich in Florenz ein Herrschaftssystem heraus, das dem vom Handel reich gewordenen Bürgertum eine neue Machtstellung verlieh.
Es markiert den Beginn der Neuzeit, ja der Moderne. Der gesamte Wertekanon, der den erstrebenswerten Lebens- und Arbeitszielen zugrunde lag, erfuhr einen dramatischen Wandel.
Während in der Antike und in den religiös geprägten Jahrhunderten die „Tugend“ („Virtus“) mit den moralischen Werten eines „tugendhaften Verhaltens“ verbunden war, fand nun ein Wertewandel statt. Tüchtigkeit im Alltag, kluger Umgang mit Geld, Erreichen eines angesehenen gesellschaftlichen Status sowie Tatkraft galten als erstrebenswert. Bei Bürgern, die von der Ideenlehre des Protestantismus geprägt waren, sollten diese Werte in einer zunehmend städtischen Gesellschaft noch an Bedeutung gewinnen. Die moderne Leistungsgesellschaft lässt grüßen!
Mit dem Aufkommen der so genannten Geldaristokratie – bleiben wir im Florenz von Machiavelli – rückte ein Thema in den Fokus, dem sich unser Autor in seinem Werk „Il principe“ gewidmet hat: dem der Macht.
Wie erreicht man Machtpositionen? Welches Verhalten ist nötig, um diese zu erreichen, zu erhalten, ja auszubauen?
„Il principe“ als Klassiker
Im Jahre 1516 widmet Machiavelli seine Schrift Lorenzo de Medici, einem Neffen von Papst Leo X. – Familienpolitik pur, in diesem Fall der Medici. Dieser Lorenzo war in Florenz wegen seiner großspurigen, ausschweifenden Lebensführung und seiner Arroganz mehr als verhasst. Verschwörungen gegen ihn wurden gewaltsam niedergeschlagen. Lorenzo verstarb 1519, drei Jahre nach dem Erscheinen des uns interessierenden Werkes.
Ob nun die Schrift als Ratgeber gedacht war, als Satire oder als etwas, was wir heute als Grundlage eines „Coachings“ bezeichnen würden, sei dahingestellt. Es ist ein Konglomerat aus historisch mit vielen Beispielen untermauerten Erkenntnissen, Erfahrungen und Einschätzungen einer psychologisch ausgerichteten Beobachtung menschlichen Verhaltens zum Machterhalt.
Über die Jahrhunderte wurde das Werk in vielerlei Hinsicht entweder hochgeschätzt oder gänzlich abgelehnt, ja verfolgt. Sein Plädoyer für einen starken Staat, der im Sinne der Staatsräson seine Interessen durchsetzt, ist schillernd: auf der einen Seite liefert der Autor Argumente für die Rechtfertigung desselben; auf der anderen Seite entlarvt er mit seiner Schrift die Methoden, Macht möglichst effektiv zu erzielen und auszuüben. Sie ist in diesem Sinn sowohl als Beschreibung eines Ist-Zustandes (ggf. als Ratgeber), als auch zur Aufklärung geeignet.
Das Werk enthält einen Sprengstoff, an dem nicht allen Machthabern gelegen war. Bestehende Machtstrukturen könnten ins Wanken geraten. So wurde das Buch bisweilen als „teuflisch“ verboten und auf den Index gesetzt. Es sei ein Beispiel erwähnt: Jesuiten in Ingolstadt haben nach der Publikation des Werkes ein Bild des Autors verbrannt, weil sie in ihm einen Helfer des Teufels sahen. Worin aber bestehen nun die Techniken und Methoden zur Erlangung und Festigung von Macht?
Kluges (Selbst-)Management als Voraussetzung von Machtausübung
Im Kapitel XVII geht unser Autor der Frage nach, ob es für einen Herrscher besser wäre, geliebt oder gefürchtet zu sein: „Milde oder Grausamkeit?“
Grundsätzlich spricht er sich für den Ruf der Milde aus, schränkt diesen aber sogleich mit folgenden Ausführungen ein:
„Doch darf ein Herrscher nicht leichtgläubig und beeinflussbar sein. (…) Vielmehr soll er maßvoll, klug und menschenfreundlich handeln, damit ihm allzu großes Vertrauen nicht unvorsichtig und allzu großes Misstrauen nicht unerträglich werden.“
Zu dieser Klugheit gehört es auch, genau zwischen Wunschvorstellungen und Realität unterscheiden zu können,
„denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält.“
Gefordert ist also die Fähigkeit, genau wahrzunehmen, welche Einflüsse von welchen Beratern oder allgemein von der Umgebung vorgenommen werden. Da ist die volle intuitive Intelligenz gefragt! Heutzutage könnten wir dies auch auf Lobbyisten ausdehnen – vor allem, wenn sie einen erheblichen Einfluss auf Entscheidungen ausüben.
Darüber hinaus fordert unser Autor dazu auf, sich vor ideologisch festgefahrenen Positionen und Zielen zu hüten, die einem Abgleich mit der Realität nicht standhalten. Dazu gehört die Einschätzung von Maßnahmen und deren Folgen, wenn diese am Konzept orientiert gleichsam durchgezogen werden. Das bringt im Sinne von Machiavelli „Grausamkeiten“ mit sich, führen sie doch zu Krieg, Streit, zu unversöhnlichen Positionen, zu gesellschaftlichen Spaltungen, ja zu Hass aufeinander; genau davor warnt unser Autor sehr eindringlich an mehreren Stellen seines Werkes.
Nicht ohne Grund! Früher war es bisweilen üblich, unliebsame Herrscher schlichtweg zu ermorden; dafür hat eine Gruppe mit oberster Geheimhaltung eine „Verschwörung“ angezettelt – ganz ohne Theorie, vielmehr strategisch wohl geplant; Machiavelli führt einige historische Beispiele dessen an. Um es jedoch soweit nicht kommen zu lassen, brauchen Menschen in Machtpositionen die Fähigkeit, zu erspüren, wann sich Hass zusammenbraut.
Am ehesten wird dies geschehen, „wenn er sich an der Habe (…) seiner Mitbürger vergreift“, sich von Gier getrieben ihr Vermögen aneignet. Rücksichtslose Machtausübung auf der einen Seite, Hass, Furcht und Ohnmacht auf der anderen Seite. Es sind sicher Extreme, doch in der Tendenz gilt so Manches davon auch noch heute. Die Fähigkeit zu emotionalem Management und Umsicht sind die Grundvoraussetzungen, sich in Machtpositionen zu begeben. Doch: Welche Außendarstellung garantiert dem Herrscher Macht?
Die Verbreitung von Furcht
Ist es besser, geliebt oder gefürchtet zu werden? Die Antwort unseres Autors ist klar: es ist besser, gefürchtet zu werden:
„Denn von den Menschen kann man im Allgemeinen sagen, dass sie undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig sind.“
Es gilt also, sich eine starke gesellschaftliche Position zu erarbeiten, die ebenso Respekt wie Angst einflößt. Nur so bleibt die Position vor Angriffen aller Art gesichert. Erreichen kann der Herrschende dies, „indem er in allen seinen Handlungen Großmut, Kühnheit, Ernst und Kraft spürt.“ Also emotionales Management mit geschickten Außenstrategien verbunden!
Es geht jedoch um noch mehr: Wenn die Menschen mit List, Tücke und Boshaftigkeit ihren Vorteil erheischen wollen, dann bedarf es einer gewissen Gerissenheit und Schläue, um damit umzugehen. Machiavelli sieht die Notwendigkeit, der „Tiernatur des Menschen“ zu begegnen, was das Tierreich lehrt: vom Löwen die Überlegenheit, das Ansehen, die Kraft, vom Fuchs die Schläue, ja Hinterlist. Ein weiteres Argument für die von ihm propagierte Fähigkeit, beide Fähigkeiten miteinander zu kombinieren, ist dieses:
„Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind.“
Es ist also eine dauernde Wachsamkeit, Habachtstellung und Erzeugung von Furcht, ja Angst nötig, um sich abzusichern. Härte und Drohung, Hinterlist und Verbreitung von Angst – die Gefahr von Dauermobbing liegt in der Luft! Das auszuüben ist für alle Beteiligten ebenso anstrengend und kräftezehrend wie dem durch Abwehr zu begegnen. Da kommt es zum Selbstschutz auch noch in der Außendarstellung darauf an, dass die Angriffsflächen möglichst klein werden. Von Authentizität keine Spur! Ganz im Gegenteil. Die Kunst der Täuschung ist aus dieser Weltsicht gefragt!
Manipulation durch Täuschung
Es kommt noch schlimmer; es geht nämlich um mehr als um Selbstschutz. Es geht um den reinen Machterhalt. Dazu gehört
„die Fuchsnatur gut zu verbergen und Meister in der Heuchelei und Verstellung zu sein. Die Menschen sind ja so einfältig und gehorchen so leicht den Bedürfnissen des Augenblicks, dass der, der betrügen will, immer einen findet, der sich betrügen lässt.“
Dem ist auch für unsere heutige Zeit nichts hinzuzufügen. Die Erkenntnisse der Massenpsychologie lassen grüßen!
Es geht noch weiter: Ein Herrscher braucht die vorgenannten guten Eigenschaften nicht in Wirklichkeit zu besitzen und anzuwenden; doch „muss er sich den Anschein geben, als ob er sie besäße.“ Harter Tobak! Er muss also die Fähigkeit besitzen, den Anschein von Großmut, Kühnheit, Ernst und Kraft glaubhaft zu vermitteln, um seine Herrschaft zu sichern. Zum Erreichen dessen ist eine Staatsräson erlaubt, die Angst verbreitet, doch den Spagat zwischen Verbreitung von Furcht und bedrohlichem Hass meistert.
Aus dieser Sicht werden die Bürger zu Untertanen – es sei denn, sie durchschauen die dahinter liegende Absicht der Fassade mit all ihren Tricks, Argumenten und Maßnahmen. Gut 270 Jahre später wird der Aufklärer Immanuel Kant als Ziel der Aufklärung einfordern, dass sich die Bürger aus ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ befreien. Nach wie vor keine leichte Aufgabe!
Hatte Machiavelli noch einen Herrscher in überschaubaren Regionen bzw. Städten im Blick, so sind es heute globalisierte Machtapparate und Institutionen, die wir unter diesem Blickwinkel in Augenschein nehmen können. Es dürfte leicht sein, Faktoren zu identifizieren, die sich als Manipulation durch Täuschung erweisen. Hinzu kommt der immense Einfluss von Massenmedien, ganz zu schweigen von Täuschungen durch KI generierte Programme. Da hilft nur eins – nach wie vor: Wachsamkeit, Achtsamkeit und eine sensible intuitive Intelligenz!
Ob die Verhaltensweisen zumindest im Prinzip ebenso gleichgeblieben sind wie die Methoden zum Machterhalt? Ob nicht vielleicht sogar die Mittel und Möglichkeiten der Manipulation zugenommen haben? Stoff zum Nachdenken und Recherchieren …
Die Trendwende
Die Kontinuität des Machtstrebens bis in unsere heutige Zeit ist sicherlich die eine Seite – solange Macht durch Ausübung von Manipulation als erstrebenswertes Ziel gilt, was allenthalben zu beobachten ist; auf der anderen Seite sind heute die Möglichkeiten weit besser, Manipulationen zu entlarven – und ja, mehr denn je ist intuitive Intelligenz gefragt! Darüber hinaus gibt es eine Justiz …
Machiavelli führt uns vor Augen, wie eng menschliche Verhaltensweisen, Machtstreben und Manipulation miteinander verwoben sind; er trägt politischen, sozialen und psychologischen Faktoren Rechnung. In jedem Fall inspiriert er auch heute noch zum Nachdenken und zu genauem Hinschauen.
Gibt es eine Trendwende im Hinblick auf das, was er beschreibt, analysiert und rät? Durchaus. Seit einiger Zeit ist die „Authentizität“ als Wert und Verhaltensnorm hoch im Kurs, also die Ablehnung von machiavellischen Methoden der Täuschung aus der Trickkiste. Dies gilt vor allem für den privaten Bereich, doch zunehmend auch für Führungskräfte im Management.
Im Politischen ist diese Trendwende (noch) nicht wirklich zu erkennen. Ist es eine utopische Vorstellung, Machtstreben durch die authentischen Werte zu ersetzen, die unser Autor nennt? Wenn wir den Ist-Zustand anschauen, dann schon. Doch es besteht Hoffnung; die Trendwende könnte auch diesen Bereich erfassen, wenn genügend Menschen statt „Macht“ ein „authentisches Leben“ anstreben. Fangen wir bewusst damit an – jetzt!
Fotos: iStock, Unsplash / Jorgen Haland, Rafal Szczawinski