Illustration große Blume mit Strahlkranz vor Bäumen

Von der Botschaft des Spiegels

Wie gelangt man zu wahrhafter Selbsterkenntnis oder sogar Transformation? Überlegungen an zwei Beispielen: dem Mythos des „Narziss“ und dem Märchen von Idries Shah, „Der Löwe, der sich selbst im Wasser sah.“.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Narzisstische Selbstbespiegelung
  • Die Verbundenheit von „Ich“ und „Wir“
  • Die Bedeutung der Metamorphose

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zu empathischer Kommu­nikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de

Narziss im Spannungsfeld der kosmischen Gesetzmäßigkeiten

Geneigte Leser, was ein „narzisstischer Mensch“ ist und was „Narzissmus“ bedeutet, ist Ihnen sicher bekannt. Gerade in jüngerer Zeit ist dieser Typus mehr in den Fokus von Psychologie, Neurowissenschaften und Ratgebern von Managementseminaren genommen worden.

Der Begriff geht auf den römischen Autor Ovid zurück, der in seinem mehrbändigen Werk „Metamorphosen“ (1- 8 n.Chr.) den Mythos rund um den schönen Jüngling „Narziss“ begründet hat. Es ist komplexes Werk, das den Fächer des Göttlichen, des Menschseins, der Verbundenheit und der Entstehung von Kosmos, Erde und deren Bewohnern in ein verzweigtes Spannungsfeld von Geschehnissen und vielfältigen Akteuren einbindet.

Die grundlegende, archetypische Botschaft besteht in der sehr anschaulich erzählten Kernaussage, dass nichts endgültig ist, sondern vielschichtigen, subtilen Wandlungsprozessen unterliegt; diese sind das Ergebnis verschiedener, einander ergänzender, miteinander verwobener Faktoren im fortwährenden Zusammenspiel.

Narziss unterliegt als Teil des Ganzen diesem Prozess, griechisch der „Metamorphose“: nichts bleibt so, wie es ist.

Die Wandlung entspricht einem kosmischen Gesetz; „meta“ bedeutet „über etwas hinaus, von einer höheren Warte aus“. Was bleibt, ist die Essenz des Verwandelten. Sie manifestiert sich in neuer, verwandelter Form – wobei zwischen der alten und der neuen ein innerer Zusammenhang besteht.

Wie gestaltet sich dies im Fall von „Narziss“?

Illustration junger Mann im Wald spiegelt sich im Wasser

Der kosmische Wandlungsprozess

Narziss ist dem Mythos von Ovid gemäß Teil der Gesetzmäßigkeit des kosmischen Wandlungsprozesses, der nachfolgend skizziert sei:

Narziss ist ein bildschöner, reicher, charmanter, doch auch hochnäsiger und unzugänglicher Jüngling, in den sich die Dame „Echo“ heftig verliebt. Narziss erwidert ihre Liebe nicht wirklich, weist sie beleidigend ab; Echo verzieht sich tief gekränkt in die Wälder. In bestimmten Gegenden vernehmen wir sie als „Echo“ zu unserer Stimme, wenn wir nur laut genug rufen.

Echo ist also ein Spiegel von uns für die Ohren!

Echo und Selbstliebe

Nun, unser Narziss ist alles andere als glücklich; darüber hinaus wird er auch noch zur Suche nach seinem inneren Kern, nach dem „Echo“ seines wahren Selbst von einem Magier verdammt. In dieser Gemütsverfassung gelangt er an einen spiegelglatten See, um seinen Durst zu stillen. Er beugt sich vor, will trinken … und entdeckt sein Spiegelbild.

Das Wasser spiegelt ihn wider. Welch ein Entzücken! Er verliebt sich mit Haut und Haar in sein eigenes Spiegelbild, will seiner habhaft werden. Dies gelingt ihm trotz wiederholter Versuche nicht.
Er stimmt darob ein lautes Klagelied an, das die Bäume, Tiere und Pflanzen in seiner Umgebung erzittern lässt. Es hilft nichts. Er erreicht nicht, was er will: Seine Sehnsucht greift ins Leere. Er schmilzt vor Selbstliebe dahin, gleitet immer mehr in den Schmerz. Schließlich stirbt er vor Kummer, sich selbst zerstörend.

Das ist jedoch noch nicht das Ende des Mythos – auch wenn das Interesse eines breiteren Publikums an der Entwicklung des Narziss in heutigen Beschäftigungen mit dem Jüngling „Narziss“ als einem archetypischen Charakter meist endet. Doch bei Ovid ist der Tod nicht sein Ende!

Wie es weitergeht?

Die Metamorphose des Narziss vom „Ich“ ins „Wir“

Es gibt keinen Leichnam des an gebrochenem Herzen verstorbenen Jünglings. Er verwandelt sich nämlich in eine wunderschöne, strahlende, lieblich duftende Blume, die den Namen „Narzisse“ erhält und allen, die in ihrer Nähe sind, zur Freude gereicht.

Aus dem jungen Mann wird eine Blume, aus Narziss die Narzisse; kein Zufall! Er konnte sich aus seiner selbstverliebten Enge nicht befreien. Sein Ego war allzu stark. Lieben? Unmöglich. Nur sich. Seine weibliche Seite der Liebesfähigkeit verkümmerte gänzlich. Und dann?

Die Metamorphose erlöst ihn. Er wird zur Blume, die Herzen öffnet, Liebe und Schönheit verkörpert. Was er im Leben nicht konnte, entfaltet sich nun in voller Pracht: seine weibliche Seite. Der unerlöste Anteil des Jünglings „Narziss“ wandelt sich, befreit ihn und lässt seinen wahren Kern in Form der Blume, als die Narzisse, erstrahlen. Als schöner Jüngling Narziss strahlte er eine zwar verführerische, doch zerstörerische Anziehung aus; als Blume „Narzisse“ verströmt er durch seine Schönheit herzöffnende Freude, Liebe, Transformation pur!

Die Metamorphose gibt Hoffnung. Transformation von der Enge hin zur weitenden Befreiung ist möglich! Sie geschieht dank der Öffnung vom „Ich“ ins „Wir“. Im Fall unseres Narziss durch den symbolisch zu interpretierenden Sterbeprozess. Muss das so sein? Sicherlich – doch es geht auch anders!

Das lehrt uns nachfolgendes Märchen.

Illustration Löwe und Schmetterlinge im Wald an einer Wasserstelle

„Der Löwe, der sich selbst im Wasser sah.“

Der Autor ist Idries Shah (1924 – 1996) der einem breiteren Publikum in westlichen Breitengraden weniger bekannt sein dürfte, wohl aber im so genannten Orient. Seine Werke füllen eine ganze Bibliothek. Er hat Mythen, Geschichten, Sagen und Märchen aus Afghanistan und weiteren Ländern recherchiert, gesammelt, interpretiert und herausgegeben; einige liegen auch in deutscher Übersetzung vor. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ebenso tiefgründig und philosophisch wie anschaulich sind – wahre Lehrgeschichten, auch wenn sie sich zum Teil als „Märchen“ verstehen.

Das schauen wir uns näher an:

Es war einmal ein Löwe, und sein Name war Share, der Löwe. Er war der König über alle Tiere des Dschungels. Auf seinem Kopf hatte er eine prächtige, goldene Mähne, die ganz flauschig war – fast so wie seine Haare, nur pelzig und golden.“

Ein Prachtkerl von einem Löwen also! Er spazierte selbstbewusst, ja königlich umher; ab und an gab er ein lautes „Roaar“ von sich, denn „so sprechen die Löwen“. Die anderen Tiere im Dschungel verstanden seine Lautsprache nicht nur nicht, sie fürchteten sich vor ihm und flohen, wenn sie ihn hörten. Der Löwe wiederum verstand deren Reaktion nicht und verstärkte sein „Roaar, roaar“; in diesem Fall jedoch sollte es jedoch die Frage bedeuten: „Warum rennt ihr alle davon?“ Seine Lautsprache interpretierten die Tiere des Dschungels als Wut auf sie und ergriffen noch schneller die Flucht.

DAS MISSVERSTÄNDNIS MIT DER KONKURRENZ

Der Löwe war aber gar nicht wütend! Alles ein Missverständnis! Vielmehr wollte er nur wissen, warum denn alle vor ihm die Flucht ergriffen? Eine verfahrene Situation, Missverständnis pur! Nun ja, das laute „Roaar“ hatte ihn durstig gemacht, so dass er beschloss, einen guten „Schluck Wasser aus einem Tümpel“ zu sich zu nehmen. So gedacht, so getan. Lange musste er suchen. Doch dann entdeckte er tief im Dschungel genau den Teich, der ihm vorschwebte.

Der Tümpel lockte ihn an, denn sein Wasser war so glänzend und glatt wie ein Spiegel. Der Löwe hatte mächtig Durst und sagte beim Anblick des schönen Tümpels zu sich selbst ganz laut: „ROAARRR, ich will jetzt Wasserrrrrr – roaarrr!“ Dort angekommen, beugte er sich über das spiegelglatte Wasser, um seinen Durst zu stillen. Was sah er als erstes? Natürlich sein Spiegelbild!

Er hielt es für einen anderen Löwen, der ihm sein Wasser abspenstig machen wollte – einen Konkurrenten also, und ließ ein lautes „Rooar“ ertönen, was heißen sollte: „Ich möchte auch ein bisschen Wasser haben!“

Andere Tiere kamen ebenfalls herbei, weil auch sie durstig waren und Wasser trinken wollten. Sie fragten ihn, warum er denn nicht trinken wolle und stattdessen sein so lautes „Roaarrr – roaarrr“ vernehmen ließ? Der Löwe klagte ihnen sein Leid und teilte ihnen den Grund für seinen Kummer mit: ein anderer Löwe brüllte ihm eben genau denselben Laut entgegen! Ein Konkurrent!
Einige der Tiere begannen zu lachen, denn sie wussten, dass es sein Spiegelbild war. „Aber Share, der Löwe, wusste das nicht.“

Doch dann passierte ein Wunder.

Illustration zwei Löwen an Wasserstelle im Wald

Die Metamorphose und ihre Ergebnisse

Nun, seine Lage entspannt sich; denn der Löwe erfährt eine Transformation. Doch wodurch?

Ein „wunderschöner Schmetterling“ nähert sich ihm und flüstert ihm ins Ohr: „Sei nicht albern, Share. Da ist niemand im Wasser!“
Eine robuste Ansage! Unser Löwe schenkt jedoch den Worten des Schmetterlings wenig Beachtung, sieht er doch seinen Konkurrenten mit eigenen Augen und hört ihn mit eigenen Ohren! Schließlich übermannt ihn sein Durst:
„‘Es ist mir egal, ob der Löwe da drinnen ist, oder wie wild er ist!‘“
Er nähert seinen Kopf dem Wasser, um zu trinken. Durstig schlürft er das köstliche Wasser in sich hinein. Siehe da! Sein vermeintlicher Konkurrent entpuppt sich als sein eigenes Spiegelbild! Der Schmetterling hatte also recht. Nun hat unser Löwe es erkannt! Es war nur seine Vorstellung …

Bevor wir den Verlauf des Märchens weiterverfolgen, sei dem Moment der Metamorphose nachgegangen:

Der Schmetterling ist selbst Ergebnis einer Metamorphose, hat er doch verschiedene Stadien, Raupe – Puppe – Schmetterling, durchlaufen, bevor er zum prachtvoll schönen Flügelträger wurde, sich frei durch die Lüfte bewegt, Pflanzen begrüßt und Samen zur Befruchtung von Pflanzen überbringt. Also ein wahrer Überflieger mit dem „Meta“- Gespür der Verwandlung! Er ist als Transformationskünstler der Überbringer der Metamorphose für den Löwen.

Ob und wenn ja, wie sie wohl gelingt? 

Vom Ich zum Wir

Oh ja, der Schmetterling hat ganze Arbeit geleistet! Unser Löwe ist nun so richtig einsichtig. Nachdem er seinen Durst gestillt und die wahre Natur des Bildes im Wasser erkannt hatte, verkündete er vor allen Tieren: „Nun, ich habe gelernt, dass ein Spiegelbild nicht das gleiche wie die Wirklichkeit ist!“

Der glückliche Ausgang des Märchens ist die Folge seines Lernfortschritts:
Und sie alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.“

Dank der Metamorphose wurde unser Löwe noch ganz philosophisch. Seine Angst löste sich nicht nur auf, er gewann auch eine wichtige, neue Erkenntnis. Dies ermöglichte ihm und den anderen Tieren, eine friedliche Gemeinschaft zu bilden, in der jeder seinen Platz einnimmt. Sein „Ich“ war in das „Wir“ eingebettet!

Welch eine befreiende Metamorphose und Erkenntnis! Sie regt zu nachfolgenden Überlegungen an.

Die Rolle des Spiegels bei der Selbsterkenntnis

Narziss vergeht vor Selbstliebe; in erlöster Form wird er dank der Metamorphose zur Blume, zur Narzisse, die Herz und Sinne der Betrachter zum Erblühen bringt. Unser Löwe erfährt die entscheidende Transformation noch zu seinen Lebzeiten – dank der Intervention des Schmetterlings, selbst Symbol für Metamorphosen.

Der Spiegel als Verkünder der Wahrheit? Ja schon, denn er spiegelt uns das, was wir sind – was wir denken, fühlen, wahrnehmen. Ein Blick in den Spiegel führt uns im wahrsten Sinn des Wortes vor Augen, wie wir aussehen, wie unsere Stimmungslage ist. Gleichzeitig zeigt er uns bei näherer Betrachtung und bewusster Wahrnehmung unseres Spiegelbildes, in welchen Mustern, Gewohnheiten, Schablonen wir gefangen sind.

Er gibt uns jedoch auch Gelegenheit, uns auszutricksen, uns weiterzuentwickeln. Positive, öfters wiederholte Affirmationen mit entsprechend freundlichem Lächeln strahlt uns der Spiegel zurück. Wir können dies in uns aufnehmen und verinnerlichen. Dann wird mein Spiegelbild erst zu einem „Alter Ego“ und später Teil von mir selbst. Insofern ist der Spiegel selbst meine Metamorphose!

Noch eine löwenstarke Lehre: Nicht nur ein „Spieglein, Spieglein an der Wand“ (im Märchen „Schneewittchen“) oder spiegelglattes Wasser spiegeln uns selbst und das, was ist, wider, sondern auch andere Menschen. Wie ist mein Umgang mit ihnen? Welche Resonanzen habe ich? Wie reagieren sie auf mich?

Wir alle haben „Spiegelneuronen“, die Tierwelt eingeschlossen: das Ich im Wir, das Wir im Ich.

Ein weites Feld, dessen heitere Erkundung zu erstaunlichen Einsichten führt! Einfach auf Entdeckungsreise gehen. Viel Freude dabei!

Fotos: DALL – E

Donner & Reuschel

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