Gold zwischen schwarzen Steinen

VON DER GROSSHERZIGKEIT

Das Grimmsche Märchen „Die Geschenke des kleinen Volkes“ macht deutlich, wie unterschiedlich Menschen mit Gegebenheiten umgehen: gierig oder mit Herz?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Zwei ungleiche Wanderer
  • Den Umgang mit Geschenken
  • Die Wirkung von Großherzigkeit

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zu empathischer Kommu­nikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de

Das Märchen beginnt folgendermaßen:

„Ein Schneider und ein Goldschmied wanderten zusammen und vernahmen eines Abends, als die Sonne hinter die Berge gesunken war, den Klang einer fernen Musik, die immer deutlicher ward …“.

Die ungewöhnliche, doch sehr fröhliche Musik beflügelte sie, so dass sie rasch in diese Richtung weiterwanderten. Der Mond war schon sichtbar, als sie zu einem Hügel gelangten. Dort feierte eine Gruppe von kleinwüchsigen Männern und Frauen recht ausgelassen, indem sie sich Händchen haltend im Takt der Musik herumwirbelten, zudem sangen und bester Laune waren. Das war die Musik, die sie von Weitem gehört hatten und von der sie sich zum Fest hin hatten leiten lassen.

Feuer Akrobatik

Das fröhliche Fest

Den Platz in der Mitte des Tanzes nahm ein alter, größerer Mann mit Rauschebart und buntem Rock ein; er hieß sie in den Kreis eintreten, was sie auch bereitwillig taten, zumal ihnen die Tanzenden hierfür Platz gemacht hatten. Allerdings war der Goldschmied kühner als der Schneider, der zunächst zögerte, sich dem Kreis anzuschließen, dann aber doch mitreißen ließ. Gemeinsam tanzten sie „in den wildesten Sprüngen weiter.“

Vom äußeren Erscheinungsbild glichen sich unsere beiden Wanderer ganz und gar nicht: der Goldschmied hatte nämlich einen starken Buckel – kam dies von seiner Arbeit? Vielleicht buckelte er überhaupt recht gerne? Schmiegte er sich hinterrücks an Leute ran, um daraus einen Vorteil zu ziehen? Nun, das wird sich im weiteren Verlauf noch zeigen.

Doch zunächst unterwarf sie der alte Mann mit dem Rauschebart einer Prozedur.

Mit einem Mal zog er ein breites, an seinem Gürtel hängendes Messer hervor und wetzte es eine Weile. Dann schaute er sich nach den beiden Fremdlingen um, die dies voller Angst beobachtet hatten.

Noch ehe sie sich versahen, packte der Alte den Goldschmied und schor ihm nicht nur seinen Kopf kahl, sondern auch sein Kinn.

Weg waren seine Haare und sein Bart! Gleiches geschah mit dem Schneider. Was das wohl sollte? Klärt es sich noch auf?

Steine in der Hand

Das ideelle und das materielle Geschenk

Lassen wir an dieser Stelle unserer Fantasie aus dem Reich der Möglichkeiten freien Lauf, geneigte Leser. Die Kopf- und Barthaare wegrasieren, darin können wir zwei symbolische Akte sehen:

Zum einen gelten die Haare traditionell als Statussymbol. Reiche Leute trugen noch im 19. Jahrhundert eine aufwendige Perücke, die ärmeren nicht. Die Haare sind Ausdruck von Kraft und Macht, der Bart von Weisheit. Gefangene werden auch heute noch kahlgeschoren und damit dieser Attribute beraubt.

Zum anderen dürfte es in unserem Märchen sehr wohl ein Ausdruck von Entmachtung sein, die beide nicht ohnmächtig zurücklässt, sondern dazu auffordert, sich neu zu definieren: alte Gewohnheiten wie alte Zöpfe über Bord werfen, sein Verhalten überprüfen, Statusdenken sein lassen. Diese Möglichkeit zum Neustart, die wie eine Tabula rasa der Haare zum Ausdruck kommt, ist in der Tat so gesehen ein Geschenk!

Doch der alte Mann aus der fröhlichen Feierrunde machte ihnen noch ein anderes, materielles Geschenk. Er zeigte ihnen einen Haufen Kohle und bedeutete ihnen, sie sollten damit ihre Taschen füllen, was sie auch sogleich taten, „obgleich sie nicht wussten, wozu ihnen die Kohlen dienen sollten.“
Vielleicht waren die kleinen Menschen der fröhlichen Runde Minenarbeiter, die diesen Rohstoff zu Tage förderten? Im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung war Kohle Gold wert! Doch wie sollten das unsere zwei Wanderer wissen, die lange zuvor als Goldschmied und Schneider ihr Geld verdienten?

Was machten die beiden denn aus dem ideellen und materiellen Geschenk des alten Mannes der fröhlichen Runde? Ahnen Sie schon etwas, geneigte Leser?

Von der Wirkung der Geschenke

Die beiden suchten sich ein Nachtlager und schliefen vor Müdigkeit sofort ein. Sie wachten jedoch früher als gewöhnlich auf, weil sie einen schweren Druck verspürten. Die Kohlen in ihren Taschen! Sie schauten nach. Zu ihrem großen Erstaunen waren es keine Kohlen mehr, sondern – pures Gold! Die Kohlen hatten sich ohne ihr Zutun in die Währung verwandelt, also in das, was sie auf dem Kapitalmarkt wert waren: pures Gold….

Ja, sie waren nun reiche Leute geworden! Auch äußerlich entsprachen sie wieder dem Erscheinungsbild von gut situierten Bürgern; Haare und Bart strahlten schöner denn je wieder in üppiger Pracht. Doch war ihr Reichtum nicht gleich verteilt; der Goldschmied, „der seiner habgierigen Natur gemäß die Taschen besser gefüllt hatte“, besaß doppelt so viel als der Schneider.

Damit nicht genug! „Ein Habgieriger, wenn er viel hat, verlangt noch mehr“ und deshalb schlägt der Goldschmied unserem Schneider vor, doch noch einmal das Fest aufzusuchen. Natürlich nicht, um fröhlich mitzufeiern, sondern, um sich die Taschen so voll wie möglich füllen zu lassen.

Unser Schneider wollte nicht mitkommen: „Ich habe genug und bin zufrieden; jetzt werde ich Meister, heirate und bin ein glücklicher Mann.“

Welch ein Unterschied zu unserem Goldschmied! Dieser war ja ohnedies schon an Gold in seiner Tasche doppelt so reich als der Schneider und wollte noch mehr!

Der Schneider neidete ihm diesen Reichtum keineswegs; vielmehr freute er sich über das Geschenk; er wollte nun das Geld dafür verwenden, was er schon lange ersehnt hatte: berufliches Fortkommen und privates Glück durch Heirat. Er schwelgte in der Aussicht auf seine neuen Möglichkeiten dank des Geschenkes! Er blieb sogar noch eine Nacht länger in der Herberge, die in der Nähe des Festplatzes lag – und das nur, um seinem Wanderkumpel, dem Goldschmied, einen Gefallen zu tun. Welche Großherzigkeit!

Er wollte in der Herberge bleiben, während der Goldschmied den Abend herbeisehnte und vorbereitete, um zum Festplatz zu gelangen.

Würde er die Feierrunde wieder treffen? Was würde passieren?

Goldstaub in der Hand

Noch mehr Gold!?

Abends zog unser Goldschmied endlich wieder los. Er hatte sich noch Taschen besorgt, damit er nur ja viel an Kohlen mitnehmen könnte. Diese würden sich ja in Gold verwandeln! Frohgemut erreichte er den Festplatz vom Vorabend; tatsächlich war die Gruppe, „das kleine Volk“, wieder ebenso ausgelassen mit Tanz und Musik am Feiern. Der Alte schor ihm wieder Kopfhaar und Bart.

Während das Fest seinen Lauf nahm, scheffelte er sich die Taschen voll, was das Zeug hielt.

Trotz des Gewichts seiner Taschen oder gerade deswegen kehrte er ganz glückselig heim. „‘Wenn das Gold auch drückt’ sprach er, ‚ich will das schon ertragen’ und schlief endlich mit dem süßen Vorgefühl ein, morgen als steinreicher Mann zu erwachen.“ Er konnte es am nächsten Morgen kaum erwarten, seine Taschen zu öffnen, aus denen ihm das pure Gold entgegen glänzen würde!

Die Strafe für Gier

Doch – in den Taschen war nichts als die schwarze Kohle. Rasch und voller Hoffnung schaute er in den Taschen nach, in denen die des nachts zu Gold verwandelte Kohle vom ersten Abend war. Doch auch hier – nichts als Kohle! Das Gold hatte sich zurück verwandelt. Vor lauter Enttäuschung und Ärger „schlug er sich mit der schwarz bestäubten Hand an die Stirn“ und musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass er kahl war; auch von seinem Bart keine Spur!

Es kommt noch schlimmer: Er musste darüber hinaus feststellen, dass ihm zu seinem Höcker auf dem Rücken auch noch einer vorne auf der Brust gewachsen war. Kahl, bartlos, zwei Höcker, Kohle statt Gold…. au weia! „Da erkannte er die Strafe seiner Habgier und begann laut zu weinen.“

Der Aspekt der Strafe gehört zur moralischen Aussage des Märchens. Es liegt darin jedoch noch mehr verborgen.

Die Gier hat seinen Blick und seine Handlungen so verengt, dass er gar nicht mehr in der Lage war, andere Aspekte wahrzunehmen als die Vermehrung seines Reichtums – sein altes Grundmuster. Kein Mitfeiern, keine Freude in der Mitmenschlichkeit, kein Danke an seinen Wanderkumpel, den Schneider; immerhin hatte dieser ja zunächst weniger Gold in seinen Taschen als der Goldschmied und immerhin war er ja noch seinetwegen in der Herberge geblieben.

Von Dankbarkeit also keine Spur beim Goldschmied!

Ein goldenes Herz

Lebensfreude durch Großherzigkeit

Ganz anders unser Schneider. Seine mit Freude erfüllten Pläne versetzten ihn in eine glückliche Stimmung, die ihn gegen Versuchungen von außen immun machen. Es gibt bei ihm auch keine innere Stimme des Neides beim Vergleich des Goldreichtums mit seinem Wanderkumpel. Darüber hinaus unterstützte er ihn aktiv. Es kommt noch besser: als er ihn weinen hört, tröstete er ihn und sprach:

„‘Du bist mein Geselle auf der Wanderschaft gewesen, du sollst bei mir bleiben und mit von meinem Schatz zehren.‘ Er hielt Wort, aber der arme Goldschmied musste sein Lebtag die beiden Höcker tragen und seinen kahlen Kopf mit einer Mütze bedecken.“

Mit diesen Worten endet das Märchen. Der Schneider ist so großherzig, dass er mit ihm sein Geschenk teilt. Er hält Wort, auf ihn ist Verlass.
Vielleicht spürt er auch, dass er ohne seinen forschen Wanderkumpel das Fest gar nicht aufgesucht hätte und ist ihm dankbar.

Wir können vermuten, dass er seinen Traum vom Glück wahr gemacht hat. Er führte ein „tugendhaftes Leben“, wie die alten Griechen sagen würden. Was dazu gehört? Den eigenen Fokus wahrnehmen und sich nicht von dem wegreißen lassen, was als mächtige Kraft einen Sog ausübt, der sich verselbständigt, doch alles andere als gut tut. Die Lebensfreude lässt diese Dynamik gar nicht erst aufkommen, denn sie ist der Gradmesser von Großherzigkeit!

Doch gibt es auch Grenzen der Großherzigkeit als Tugend?

Aus heutiger Sicht könnten wir rasch zu der Vermutung kommen, dass eine Portion Naivität oder Gutmütigkeit dazu gehört, die ihrerseits einen negativen Beigeschmack hat: sich über den Tisch ziehen zu lassen. Schauen wir uns dies näher an.

Zwei Menschen umarmen sich

Großherzigkeit als Lebenseinstellung

Es gibt einen Unterschied, ob ich im Fokus von einer gegen mich gerichteten Absicht von anderen Menschen bin, die sich durch Übervorteilung einen eigenen Gewinn versprechen – oder ob ich gar selbst aktiv trickreich gegen andere vorgehe, um davon zu profitieren. In jedem Fall sind Achtsamkeit und Wachsamkeit nach innen und nach außen gefragt. Welche Ausrichtung verfolgen wir prioritär? Welche Rolle spielt in meinem Leben die Mitmenschlichkeit? Wie äußert sich das?

Naiv bin ich dann, wenn ich Absichten, Strategien oder Handlungen nicht oder nur wenig wahrnehme, die bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen. Naivität und Einseitigkeit in der Wahrnehmung sind eng miteinander verbunden.

Das gilt auch bei der Gutmütigkeit. Ein gutmütiger Mensch ist sicher eher frohgemut und heiter, doch bedarf es auch der Fähigkeit, Perspektiven im Blick zu haben, die eine Neuorientierung erfordern.

Großherzigkeit zeigt sich in der Ausrichtung an Mitmenschlichkeit. „Ein großes Herz haben“ meint, Mitgefühl walten zu lassen, auch wenn sich im Inneren andere Stimmen melden, die Feindschaft anzetteln wollen. Letztlich haben wir als Menschen alle Möglichkeiten in uns; es kommt darauf an, uns selbst bewusst zu machen, welche Stimmen wir auf laut schalten, so dass sie andere übertönen; oder welchen leisen Stimmen wir mehr Kraft verleihen.

Ist der Mensch gut oder böse?

Diese grundlegende Frage beschäftigt uns bis auf den heutigen Tag. Eines ist sicher: Wir sind das, was wir immer wieder im Denken, Sprechen, Handeln nähren. Wir merken es an uns selbst und an dem, wie uns die Umwelt wahrnimmt. Es ist ein eng verwobenes Wechselspiel von Innen und Außen, das immer wieder für Überraschungen gut ist.

Großherzigkeit ist eine Lebenseinstellung, zu der ganz wesentlich eines gehört: Humor leben, der aus dem weiten Herzen kommt. Viel Freude dabei!

Fotos: iStock, Unsplash / Christin Victoria Craft, Muillu, Marek Studzinski, Taylor Wright

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