„Win-Win“-Abkommen unter der Lupe
Das Grimm’sche Märchen „Katze und Maus in Gesellschaft“ liefert die Antwort auf die Frage, ob eine Win-Win-Strategie per se erfolgreich ist – und unter welchen Voraussetzungen.
Hier erfahren Sie mehr über
- Blindes Vertrauen
- Bauchgefühl
- Gier
Text Irmela Neu
Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommunikation, ist Autorin und studierte Politologin.
Das Win-win-Abkommen
Das Märchen beginnt folgendermaßen:
„Eine Katze hatte Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr so viel von der großen Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, dass die Maus endlich einwilligte, mit ihr zusammen in einem Hause zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen.“
So beschlossen die beiden, für den kommenden Winter Vorsorge zu treffen. Die Katze überzeugte ihren Kumpanen, eben die Maus, dass ein Töpfchen Fett angekaufte werden muss; schließlich, so meinte die Katze überaus fürsorglich, könnte die Maus bei der Nahrungssuche ansonsten in eine Falle geraten, und das sei zu verhindern. Daher der Fettnapf.
Auf folgenden Vorschlag der Katze ging die Maus des Weiteren ein:
Das mit Fett gefüllte Töpfchen sollte in die Kirche gebracht und unter dem Altar versteckt werden, denn dort es sei gewiss sicher; niemand würde sich getrauen, aus der Kirche und schon gar nicht im Altarbereich etwas zu entwenden. Bei Bedarf könnten sich dann beide gleichermaßen daran laben, so das Argument der Katze. Gesagt, getan!
Das Abkommen: ein Fettnapf
Die Rollenverteilung bei dem Abkommen war klar: das Abkommen selbst war die Idee der Katze, Kauf des Fettnapfes und Aufbewahrung in diesem bestimmten Versteck beruhten ebenfalls auf ihrer Initiative. Von Anfang an war dieses Abkommen also klar von der ohnehin auch physisch stärkeren Katze dominiert.
Mutig war es demnach, unser Mäuschen! Ja, es ist sehr verwunderlich, dass die Maus überhaupt darauf eingegangen war und das Abkommen zustande kommen konnte; schließlich waren die Machtverhältnisse von Anfang an klar. Darüber hinaus ist es nun mal die Natur der Katze, Mäuse zu jagen und sich dann und wann auch einzuverleiben. Doch warum sich nicht auf ein innovatives Experiment einzulassen! Schließlich gab es ja als Vertrauensbasis das gemeinsame Abkommen; die Katze hatte sich ebenso verpflichtet wie die Maus, das Abkommen zu erfüllen. Die Vertrauensbasis war gegeben.
Vielleicht gelingt es den beiden tatsächlich, die Schranken der Natur zu überwinden. Welch geradezu exemplarischer Fortschritt auch für die Menschheit wäre das denn! Sie hätten gleichsam ein Exempel statuiert.
Tun sie das? Gelingt es oder falls nicht, woran genau scheitert es?
Folgen wir dem Verlauf des Märchens.
Die Durchbrechung des Abkommens
Nach einer Weile überkamen die Katze lukullische Gelüste nach dem Fett, dessen Duft sie geradezu in der Nase hatte. Naja, natürlich war es eigentlich als Vorrat für sie beide in einer Notlage gedacht, doch war die Verlockung gar zu heftig. Es war wie ein Ruf an die Katze aus dem Fetttöpfchen unter dem Altar! Er siegte.
Die Katze wollte sich also zu dem Versteck begeben. Doch wie sollte sie ihren Ausgang vor der Maus rechtfertigen? Da bedurfte es schon eines überzeugenden Argumentes als Ausrede. Der Vorwand war rasch ersonnen und vorgebracht. Sie erfand wortreich ein Narrativ von einer Taufe.
Nun, sie sollte Taufpate („Gevatter“) von einem entzückenden kleinen Neugeborenen sein; das lieblich gemusterte kleine Wesen über den Altar zu halten, das sei die ihr angetragene Aufgabe – ein Vorschlag aus der Familie, den sie doch nun wirklich nicht abschlagen könne. Sie sei dazu auserkoren worden! Es war also klar: die Katze müsse ihrer Obliegenheit nachkommen, die Hausarbeit sei nun leider ausschließlich Angelegenheit der Maus.
Die Maus willigte voller Verständnis ein und bat die Katze, beim guten Essen an sie zu denken. Etwas nostalgisch gab sie der Katze mit auf den Weg: „‘Von dem süßen roten Kindbetterwein tränk ich auch gerne ein Tröpfchen’“ – ein bescheidener Wunsch im Konjunktiv. Die Katze zog also von dannen, um ihrer Gaumenlust zu frönen. Von dem leckeren Fett im Töpfchen unter dem Altar schleckte sie die oberste Hautschicht ab, ein besonderer Leckerbissen.
Sie ließ es sich auch weiterhin gut gehen – genoss die Sonne bei einem Spaziergang über den Dächern der Stadt, gelegentliches Streckyoga, genüssliches Nachschmecken der Leckerei, Freude pur über ihren Alleingang. Unsere Maus war daheim geblieben und hatte derweil vereinbarungsgemäß die Hausarbeit erledigt.
Die ungleiche Verteilung ist der Auftakt zu weiteren Ereignissen. Ändert sich die Katze? Ahnt die Maus etwas von der Hinterlist der Katze?
Der listige und der ahnungslose Partner des Abkommens
Als die Katze abends satt und gut gelaunt heimkommt, begrüßt sie ihr Partner – die Maus – freundlich mit den Worten, sie hätte doch sicher „‘einen lustigen Tag’“ gehabt. Das kann man wohl sagen! Aber nicht laut verraten, klar. Auf die Frage nach dem Namen des Täuflings antwortete die Katze trocken: „‘Hautab’“. Die Maus äußerte sich sehr verwundert über diesen seltsamen Namen, woraufhin die Katze angriffslustig konterte: „‘Was ist da weiter, er ist nicht schlechter als Bröseldieb, wie deine Paten heißen.‘“ Wusch, da hatte sie ihr verbal eins ausgewischt.
Rekapitulieren wir: erst hatte die Katze die Vorteile eines Win-win-Abkommens gepriesen, was die Maus zur Einwilligung bewegte, dann überkam die Katze die Genuss-Gier, sie wurde wortbrüchig; darüber hinaus erwies sie sich als Künstlerin, ein überzeugendes Narrativ zur Erfüllung ihrer Begierden zu erfinden. Zu guter Letzt haute sie ihrem Kumpel verbal noch eins rein – durch einen Direktangriff auf die lediglich erstaunte Frage der Maus. Ganz schön gerissen in der Anwendung von Manipulationstechniken, unsere Katze!
Und unsere Maus? Sie wundert sich zwar, blieb jedoch ahnungslos, weil sie keinerlei Verdacht schöpfte. Vielleicht hatte sie auch eine leise Vorahnung, doch das harsche Vorgehen der Katze brachte diesen Hauch einer Ahnung zum Schweigen, falls er überhaupt da war. Geht es so weiter oder wacht die Katze auf, dechiffriert das Vorgehen ihres Partners und findet einen Weg aus der für sie misslichen Situation?
Die Aushebelung des Abkommens
Sie ahnen es schon, geneigter Leser, es geht so weiter wie bisher. Doch mit welchen Argumenten überzeugt die Katze ihren Mäusepartner? Wie geht sie vor?
Sie macht es sich einfach und bleibt bei dem erfolgreichen Narrativ von ihrer unabweisbaren Verpflichtung als Patin in der Kirche. Wieder willigte die „gute Maus“ bereitwillig ein, übernahm die Hausarbeit und ließ sie ziehen. Was machte die Katze? Nun, Sie wissen schon! Sie ging mit dem Vorgeschmack einer köstlichen Schleckerei zum Versteck unter dem Altar in der Kirche und verleibte sich die Hälfte des als Vorrat gedachten Fetttöpfchens genüsslich ein.
Dabei stellte sie hochzufrieden fest: „‘Es schmeckt nichts besser, als was man selbst isst.‘“ Von Teilen ist nicht die Rede, wohl aber vom Hochgenuss für sich selbst. Narzissmus pur, oder? Zumindest eine ehrliche Ansage für sich selbst. Heutzutage würden wir vielleicht eher sagen. „Das steht mir einfach zu!“
Es ist die Selbstverständlichkeit in der Ichbezogenheit, die zeitlos zu sein scheint.
Daheim angekommen, fragt sie die Maus wieder nach der erneuten Taufe, ihrer Rolle als Patin, und will auch dieses Mal wissen, „‘wie denn dieses Kind getauft worden sei.‘“ Die Antwort der Katze war auch dieses Mal kurz und bündig: „‘Halbaus.‘“ Unsere Maus gab ihrer höchsten Verwunderung Ausdruck und bemerkte zudem: „‘Der steht nicht in unserem Kalender.‘“ Dabei blieb es, ohne dass sie zu den seltsamen Namen, die ihr die Katze nannte, genauer nachgefragt hätte.
Erst „hautab“, dann „halbaus“, wahrlich seltsame Namen. Natürlich betrafen sie eigentlich das Naschverhalten der Katze in Bezug auf den Vorratstopf. Sie waren Teil ihres Narrativs. Unsere Maus glaubte ihr, begehrte nicht auf. Bei allem Erstaunen über diese wahrlich höchst merkwürdigen und eigenwilligen angeblichen Namen kam sie nicht auf die Idee ihrer eigentlichen Bedeutung. Sie vertraute blind, dachte geradlinig. Ein Perspektivenwechsel wäre nur möglich gewesen, wenn sie die Behauptung infrage gestellt hätte. Doch die Katze wusste sehr wohl, wie sie ihren Partner einschüchtert und damit Nachfragen verhindert.
Greift das Narrativ auch weiterhin? Nicht ganz – überzeugen Sie sich selbst!
Der erste Verdacht
Die Gier ließ der Katze keine Ruhe. Immerhin war der Fettnapf ja noch halbvoll. Wieder muss das Narrativ einer weiteren Taufe herhalten – dieses Mal wegen der angeblich außergewöhnlichen Musterung des Täuflings, die eine außergewöhnliche Patin verlange – eben sie, die Katze. Doch noch bevor sich die Katze auf den Weg macht, schöpft ihr Partner einen zumindest leisen Verdacht und sagt: „‘Hautab! Halbaus! Es sind so kuriose Namen, die machen mich so nachdenksam.‘“
Wie reagiert die Katze? Wieder mit einem Angriff; dieses Mal mit schlagenden Argumenten im Stil von Vorwürfen. Vom Herumsitzen daheim kämen „Grillen“, also Hirngespinste. Zudem würden diese vom Stubenhocken ohne Ausflüge in die frische Luft noch verstärkt: „‘Das kommt davon, wenn man bei Tage nicht ausgeht.‘“ Da hat die Maus die Hausarbeit alleine gemacht, die sie sich eigentlich teilen wollten, und nun strickt ihr die Katze daraus auch noch Vorwürfe!
Solchermaßen eingeschüchtert, bleibt es lediglich bei der Bemerkung. Ihrem leisen Verdacht, ihrer Vorahnung, ja Intuition, verleiht sie keinen weiteren Ausdruck. So zieht unsere Katze einfach ein drittes Mal von dannen, dieses Mal ohne Narrativ „‘ aller guten Dinge sind drei’“ rechtfertigt sie sich vor sich. Die Maus versorgt in der Zeit ihrer Abwesenheit den Haushalt, die Katze vertilgt den Rest des Topfes und kommt satt gefressen heim.
Obwohl die Katze ihr Narrativ dieses Mal gar nicht vorgebracht hatte, fragte sie die Maus nach dem Namen auch dieses Täuflings. Der Name würde ihr nicht gefallen, gab die Katze gleich zu, er laute: „‘Ganzaus.‘“ Auch dieses Mal gab die Maus ihrer höchsten Verwunderung Ausdruck, ohne dass sie dem weiter nachginge. Sie schüttelte lediglich den Kopf, „rollte sich zusammen und schlief.“ Verdacht ade, Manipulation der Katze erfolgreich.
Wie geht es weiter? Entkommt die Maus der für sie verhängnisvollen Dynamik? Flog der Betrug jemals auf, und wenn, wie?
Die Aufdeckung des Betrugs
Nun, es kam der Winter und damit die Notwendigkeit, auf den vermeintlich noch vorhandenen Fettvorrat im Napf zurückzugreifen. Dies schlug unsere Maus ihrem Partner auch sehr freundlich vor. Sie sollten sich ihren Vorrat gemeinsam gut schmecken lassen: „‘Komm Katze, wir wollen zu unserem Fetttopfe gehen, den wir uns aufgespart haben, der wird uns schmecken.‘“
Die Katze war einverstanden, wenn auch mit den verheißungsvollen Worten: „‘…der wird dir schmecken, als wenn du deine feine Zunge zum Fenster hinausstreckst.‘“ Was das wohl bedeutet? Die Auflösung kommt sogleich.
Beide machten sich auf den Weg zum Versteck des Fetttopfes unter dem Altar, den sie gemeinsam öffneten. Er war leer! Die Maus reagierte entsetzt. Plötzlich verstand sie die verräterischen Worte ihres vermeintlich ehrlichen Partners, der Katze, wobei sie das Narrativ noch immer für bare Münze nahm: „‘aufgefressen hast du alles, wie du zu Gevatter gestanden hast: erst Haut ab, dann halb aus, dann….‘“
Die Katze unterbricht die Maus und schleudert ihr einen zunächst nur verbalen Frontalangriff entgegen: „‘Willst du schweigen, noch ein Wort, und ich fresse dich ganz auf.‘“ Die Maus spricht es jedoch aus: „‘Ganzaus.‘“ Kaum gesagt, macht die Katze sogleich ihre Drohung wahr und….Katzenart eben.
Doch halt! Schauen wir genauer hin: Erst in dem Moment, in dem die Maus den Betrug erkennt und ausspricht, kostet es sie das Leben. Das geht weit über die Katzenart hinaus. Hier sind Ängste, Wut und Rache in der Gewaltspirale. Archaische Verhaltensformen werden wach. Da wir diese ebenso in unserer heutigen Zeit kennen, scheinen auch sie zeitlos zu sein.
„Siehst du, so gehts in der Welt.“ Mit diesen Worten endet das Märchen. Ja, auch aus heutiger Sicht ist dem zuzustimmen. Doch es gibt auch eine andere Seite, was den Lerneffekt angeht.
Win-win-Abkommen von ungleichen Partnern
Von Anfang an waren die beiden Partner von Hause aus und von ihren Absichten her deutlich ungleich. Die Manipulation der Katze durch Lobeshymnen auf ihre Freundschaft begann bereits mit Zustandekommen des Abkommens. Des Weiteren ersinnt sie ein Narrativ in Variationen, dass sie mit Worten aus der Trickkiste von „Zuckerbrot und Peitsche“, von lieblichen Ausführungen bis hin zu Schuldzuweisung, Drohung, Erniedrigung und mehr durchsetzt.
Die arglos vertrauende Maus war dem nicht gewachsen, vielmehr ausgesetzt. Sie erledigte den Pflichtanteil ihrer Übereinkunft, nämlich den Haushalt, während die Katze ihrer Genussgier frönte.
Unter welchen Umständen hätte die Maus selbstbewusst entschiedener auftreten und dem Betrug entkommen können? Stoff für weitere Überlegungen und Diskussionen!
Wachsamkeit als Teil eines Win-win-Abkommens
Es ist klar, dass in unserem Beispiel von Anfang an ungleiche Partner zusammenkamen. Das alleine erfordert schon eine erhöhte Wachsamkeit. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, besagt das Sprichwort. Wenn es darum geht, ein Narrativ zu hinterfragen und ggf. zu entlarven, ganz sicher.
Mehr noch: Vertrauen setzt ein ethisches Bewusstsein und Verhalten der Partner ohne Manipulationsvorhaben und -techniken voraus. Ein Abkommen ist bindend. Sich der Vertrauenswürdigkeit eines Partners vor Abschluss einer Vereinbarung zu vergewissern, ist ein Gebot der Klugheit. In jedem Fall ist Wachsamkeit beim gesamten Prozessgeschehen ein guter Begleiter.
Anfechtungen aller Art können nämlich Veränderungen herbeiführen, die an den Grundfesten von Vertrauen rütteln können – im schlimmsten Fall bis zu Tricksereien, Hinterlist und Betrug reichen. Spuren dessen können sich nicht nur im Verhalten, sondern auch im Sprachgebrauch zeigen. Besonders logisch klingende Argumente von Narrativen lassen aufhorchen.
Wachsamkeit meint: gut zuhören, nachwirken lassen, analysieren und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ins Auge fassen. Dieser Adlerblick aus der Perspektive des Überblicks trennt bildlich gesprochen die Spreu vom Weizen. In jedem Fall ist von Anfang an eine offene Kommunikation gefragt.
Von unschätzbarem Wert ist dabei unsere intuitive Intelligenz – eine Kombination von Bauchgefühl, Herz, Hirn und Hand. Viel Entdeckerfreude hierbei!
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