Zum Recycling-Zeichen angeordnete Plastikflaschen.

MARKTPLATZ FÜR ZIRKULÄRE KUNSTSTOFFE

Mit „cirplus“ will Christian Schiller dazu beitragen, das Kunststoff-Problem zu lösen. Der digitale Marktplatz vermittelt zwischen Anbietern und Abnehmern für Plastikabfälle sowie zirkuläre Kunststoffe.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Rezyklate
  • Müll im Meer
  • Einen Weg von der Idee zum Unternehmen

Text Antoinette Schmelter-Kaiser

Cirplus-Gründer Christian Schiller

Christian Schiller hat Internationales Beziehungen und Völkerrecht studiert. Danach baute er den deutschen Ableger von BlaBlaCar auf und aus. 2018 entwickelte er mit Volkan Bilici das Start-up cirplus.

Sechs Tage von Cartagena in Kolumbien zu den karibischen San Blas-Inseln: Diesen Segeltrip hatte sich Christian Schiller 2018 als Passagier „traumhaft“ vorgestellt. Doch an Tag zwei kam es zu einer unschönen Begegnung: Auf offenem Meer wurde das Schiff vorübergehend manövrierunfähig, als sich die Schraube in einem dichten Teppich aus Plastikmüll und Algen verfing; Umfahren wäre wegen dessen Größe nicht möglich gewesen.

„Das sah nicht nur schlimm aus, sondern roch auch abstoßend“, erinnert sich der heute 37-Jährige. Erst als ein Besatzungsmitglied ins Wasser sprang und den Abfall per Hand entfernte, konnte die Fahrt weiter gehen.

SINNVOLLER EINSATZ STATT VERSCHWENDUNG

Seine einjährige Weltreise setzte Christian Schiller anschließend wie geplant fort und genoss die „unglaubliche Freiheit“, unterwegs nichts als seinen Rucksack dabei zu haben und seine Route zwischen drei „Errungenschaften“ als einzigen Fixpunkten frei wählen zu können – dem Machu Picchu, den Pyramiden von Gizeh und Angkor Wat.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ging ihm die Plastik-Problematik, mit der er „unfreiwillig physischen Kontakt“ gehabt hatte, aber nicht mehr aus dem Kopf.

„Wie kann es sein, das aus endlichen Ressourcen wie Erdöl Plastik hergestellt wird, das dann als Wegwerfartikel im Ozean landet?“, fragte er sich. „Das ist die Verschwendung schlechthin.“

FREIRAUM FÜR RECHERCHEN

Zunächst vage, dann immer konkreter begann er, sich Gedanken über eine sinnvollere Verwendung des „Zuviels“ an Kunststoffabfällen zu machen. Den Freiraum dazu bot ihm die Teilnahme an „Entrepreneur First“: einem sechsmonatigen Talent Accelerator Programm in Berlin, für das er sich auf Empfehlung eines Freundes bewarb und qualifizierte.

„Während der Zeit dort konnte ich mich intensiv mit der Materie beschäftigen, von der ich zuvor wenig wusste“, blickt Christian Schiller zurück. „Außerdem habe ich mit Volkan Bilici den perfekten Partner getroffen, als wir uns bei einer Art Speed-Dating von je 25 Teilnehmern mit wirtschaftlichem und 25 mit technischem Hintergrund kennenlernten. Volkan ist in der Welt der Webtechnologien und Blockchain-Applikationen zu Hause.“

VOM PROBLEM ZUM LÖSUNGSANSATZ

Inhaltliche Einschränkungen oder die Notwendigkeit einer konkreten Geschäftsidee gab es bei Entrepreneur First eingangs nicht, wohl aber die Herausforderung, jeden Freitag vor versammelter Mannschaft zu erklären, mit welchem Projekt man sich beschäftigt, wie groß das betreffende Problem ist und worin der eigene Lösungsansatz besteht. Außerdem galt es vom ersten Tag an, geeignete Kunden zu kontaktieren.

Nach drei Monaten fiel nach einem Pitch vor einem Komitee aus Investoren die Entscheidung, wer weiterkomme sollte. Zu den ausgewählten Teams zählten auch Christian Schiller und Volkan Bilici, die drei weitere Monate an ihrem Vorhaben feilen durften und schließlich gesponsort mit ca 92.000 Euro Startkapital 2019 ihr Start-up cirplus aus der Taufe hoben.

ZIRKULÄRE KUNSSTOFFE – KLASSIFIZIERUNG

Seit Frühjahr 2020 ist es im Livebetrieb: laut Selbstverständnis ein „globaler Marktplatz“ für Kunststoffabfälle und Rezyklate, der auf B2B-Basis Anbieter und Interessenten zusammenbringt und als „digitaler Katalysator für die gesamte Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe“ agiert, damit idealerweise irgendwann „keine mehr in die Umwelt gelangen.“
Doch damit nicht genug: Um das gehandelte Material klarer kategorisieren und klassifizieren zu können, hat cirplus mit einem Konsortium um Prof. Dr. Hans-Josef Endres vom Institut für Kunststoff- und Kreislauftechnik der Universität Hannover den weltweit ersten DIN-Standard für hochwertiges Kunststoffrecycling entwickelt.

Er „definiert allgemeine Grundvoraussetzungen“ für Kunststoff-Rezyklate und erlaubt seit November 2021 mit einem Kriterien-Katalogs die Klassifizierung von vier unterschiedlich umfangreichen Daten-Qualitätsstufen – laut Christian Schiller eine wichtige Voraussetzung für einen transparenteren und effizienteren Handel mit ihnen.

NOCH VIEL POTENZIAL UND BEDARF

„Je besser die Qualität, desto höher der Preis und die Absatz-Möglichkeiten“, erklärt Christian Schiller die derzeitigen Marktmechanismen. „Rezyklate für einfache Produkte wie Blumentöpfe oder Parkbänke sind bereits gängig. Aber den Ansprüchen von Herstellern wie zum Beispiel Henkel oder BMW, die neuerdings die Devise ‚Secondary First‘ ausgegeben haben, können sie nicht genügen.“

In diesem Segment sieht er noch viel Potenzial. Auch generell ist er zuversichtlich für den Bedarf an Rezyklaten. Denn abgesehen von einer vorübergehenden Baisse während des Corona-Lockdowns, als die Erdöl-Preise und damit auch die für die Herstellung neuer Kunststoffe fielen, sieht er eine verstärkte Nachfrage. In die Karten gespielt hat ihm auch das Verpackungsgesetz, das hierzulande seit dem 1.1.2019 die dualen Systeme verpflichtet, im Jahresmittel mindestens 50 Prozent der insgesamt über ihr Sammelsystem erfassten Abfälle zu recyceln.

„In Zukunft sollen Inverkehrbringer von Verpackungen bestraft werden, wenn sie keine Rezyklate einsetzen und Verpackungen nicht recyclingfähig sind“, ergänzt Christian Schiller. „Dafür wird § 21 des Verpackungsgesetzes gerade überarbeitet.“

  • Hände voller Linsen.
  • Volkan Bilici und Christian Schiller
    Volkan Bilici und Christian Schiller

ORDNUNG INS CHAOS BRINGEN

Dass ausgerechnet Christian Schiller Bewegung in die Recycling-Branche bringt, hat seinen Grund. Zuvor hatte er nach seinem Studium Internationale Beziehungen und Völkerrecht als Quereinsteiger entscheidend zur Etablierung des Online-Portals BlaBlaCar in Deutschland beigetragen, das Mitfahrgelegenheiten vermittelt.

„Ich bin vom Typ her ein Macher und mag es, Ordnung ins Chaos zu bringen“, beschreibt er seine größte Stärke. „Bei den Anfängen von BlaBlaCar hierzulande wurde ein Generalist gebraucht, der von der Kundenbetreuung bis zum Online-Marketing alles können musste. Der Lerneffekt war immens, der Grad an Gestaltungsmöglichkeiten hoch.“
Nach viereinhalb Jahren mit „einem unglaublichen Wachstum“ sah er für sich beim deutschen Ableger von BlaBlaCar keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Deshalb kündigte er, ging auf Weltreise und stieß per Zufall auf das Thema, für das er seither brennt.

TÄGLICH INTRINSISCHE MOTIVATION

„Ich möchte mit cirplus einen fundamentalen Beitrag dazu leisten, das Kunststoffproblem zu beheben“, bringt er seine „intrinsische Motivation“ auf dem Punkt, die ihn jeden Tag antreibe. Begeisterung und Ausgebremst-werden halten sich dabei oft die Waage. Denn bei vielen Entscheidern und Einkäufern in Firmen, die Kunststoffe brauchen, sind die Vorbehalte gegenüber zirkulären Kunststoffen bzw. Rezyklaten noch immer groß.

„Es bringt mich auf die Palme, dass viele nicht offen für Neues sind“, moniert Christian Schiller. Trotzdem steigt die Zahl der Anbieter, Interessenten und Mengen an Kunststoff-Abfall und -Rezyklaten, die dank cirplus den Besitzer wechseln. Momentan sind 1,3 Millionen Tonnen Material als „Inventar“ bei cirplus gelistet – das entspricht in etwa einem Sechstel der Menge, die in Europa pro Jahr an Kunststoffrezyklaten eingesetzt wird.

100 PROZENT UNABHÄNGIG UND NEUTRAL

Bislang sind alle Matching- und Vermittlungs-Dienste kostenlos, denn cirplus muss noch kein Geld verdienen. Mitgetragen wird das zu „100 Prozent unabhängige“ Portal, das auf „strenge Neutralität“ achtet, durch Business Angels und Investoren, die allesamt „keine Shareholder aus der Kunststoffwertschöpfungskette“ sind.

„In Zukunft werden wir unsere Kunden aber zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Kasse bitten“, kündigt Christian Schiller an. „Die strategische Entscheidung, ob sie dafür eine Abo- oder Transaktions-Gebühr bezahlen oder gar ein ganz anderes Geschäftsmodell eingeführt wird, ist noch nicht gefallen.“
Parallel soll das Angebot von cirplus ausgeweitet werden – egal ob Material-Zertifzierung durch Prüflabore, Lieferanten-Verifizierung, Logistik oder Zahlungsabwicklung.

ANREIZ FÜR BEWERBER

Um alle diese Aufgabe zu stemmen, sucht er nach weiteren Mitarbeitern. „15 Festangestellte sind unsere Zielzahl für das nächste Jahr“, so Christian Schiller. Als Anreiz für Bewerber werden auf der Homepage viele Argumente angeführt: flexible Arbeitszeiten, ausgeprägtes Teamwork, Möglichkeiten zur beruflichen und persönlichen Entwicklung, die Kombination von Arbeiten im Hamburger Büro, in einem Berliner Coworking Space und im Home Office.

Das Wichtigste kommt zum Schluss: „Nichts fühlt sich besser an, als Gutes für die Welt zu tun und damit sein Geld zu verdienen. Je mehr wir sind, desto optimaler für den Planeten. Wir bei cirplus werden von einer Mission getrieben – eine der größten Umwelt-Herausforderungen unserer Zeit anzugehen.“

STEIGERUNG IM TATSÄCHLICHEN EINSATZ

Für Christian Schiller ist cirplus „hoffentlich auf lange Frist“ der Job seines Lebens. Lohnenswert ist der seiner Ansicht nach auf jeden Fall.

„Die Recycling-Quote lizenziert hergestellter Kunststoffverpackungen beträgt in Deutschland angeblich 63 Prozent“, erklärt er. „Aber das besagt nur, dass diese Menge Verwertungsanlagen durchläuft und nicht das, was schlussendlich mit ihnen geschieht. Intransparenz ist leider Teil des Systems. Der tatsächliche Einsatz von Kunststoff-Rezyklaten muss deutlich steigen. Dazu möchten wir mit cirplus beitragen – und so dafür sorgen, dass Kunststoffe wieder in Produkten landet und nicht in unseren Weltmeeren.“

Fotos: iStock

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