Fuß mit Gänseblümchen

ZU SICH SELBST ERWACHEN

„Fliederfein blühst du in mir/Frühlingswort.“ Diese Gedichtzeile von Rose Ausländer malt ein Sinnbild erwachender Lebenskräfte nach dem Winter. Träume sind Wegbereiter des in uns verborgenen Frühlings.

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  • Sehnsucht
  • Gefühle
  • Selbsterkenntnis

Text Brigitte Berger

Paartherapeutin Brigitte Berger

Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.

SICH WAGEN

Es gibt Lebenszeiten, da überwintern wir. Wir kühlen Gefühle, in der Metapher das Wasser, herunter und lassen uns getrost überschneien.
Die Schneedecke, die sich im Winter wärmend über die unter der Erde schlummernden Neuaustriebe legt und sie so vor hartem Frost schützt, die Eisfläche, die uns erlaubt, trockenen Fußes einen See zu überqueren – das sind im Traum Metaphern für Schutzhaltungen. Diese dienen der Angstbewältigung.

Sie treten in unterschiedlichster Gestalt auf. Häufige Formen sind übermäßige Anpassung, Perfektionismus, Harmoniebestreben, Arbeitssucht. Auch zu viel Sport, Schlaf, Essen und Sex können als Schutzhaltungen fungieren.  Entscheidend ist, dass wir hinter ihnen unsere Herzenswünsche und unsere Verletzlichkeit verbergen.

Wenn der Frühling kommen will, die Sonne wieder wärmer scheint, Schnee und Eis dahingeschmolzen sind, beginnen wir uns nach unserem Leben zu sehnen.
Es wird Zeit, aus der Schutzhaltung herauszutreten. „Komm ins Offene, Freund!“ formulierte es der Dichter Hölderlin. Freilich, es ist ein Wagnis. Wenn wir uns zeigen, machen wir uns verletzlich. Im Inneren regen sich deshalb Widerstände.

  • Frau streckt sich im Bett
  • Frau liegt vor grünen Pflanzen

KRISEN KÖNNEN HEILENDE ANFÄNGE SEIN

Jede Veränderung stellt für das bestehende System eine Bedrohung dar. Im Grunde ist der sich regende Widerstand ein sicheres Zeichen für eine Weiterentwicklung. Das Vertraute, (selbst ein vertrautes Elend wärmt), ist uns nahe, denn da kennen wir uns aus.

In der Sicherheit von Schutzhaltungen kann uns nichts passieren. Es passiert allerdings auch nichts mehr. Bleiben wir in ihnen stecken, büßen wir authentisches Leben ein. Bestenfalls funktionieren wir noch. Meist sind es dann eine krisenhaft empfundene innere Leere und das Abhandenkommen der Begeisterung für das Leben, die einen Aufbruch einläuten.

Träume sind auf der Suche nach Frühlingsworten, die unser Leben wieder duften lassen. Sie ermutigen uns, den Neuanfängen in uns zu trauen und zeigen, wie wir den Widerständen unsere Ressourcen entgegensetzen können, um Wachstumskrisen zu meistern, wie im folgenden Beispiel:

Eine Therapeutin baut ein Haus und gerät in eine Krise. Was sie träumt, berichtet sie:

„Es regnet so stark, dass das Dach über unserem Schlafzimmer einbricht. Ich gehe durch eine Landschaft. Sie wird zunehmend grau und grauer. Die Häuser und Gartenzäune sind altertümlich und aus grauem Stein. Keine Menschen auf der Straße. Alles wirkt abweisend und trostlos.

Schließlich komme ich zum Herrscher dieser Ansiedelung. Es ist ein unfreundlich wirkender Gnom. Er weist mich darauf hin, dass ich beim Verlassen das Schild nicht übersehen solle. Ich übersehe es. Auf diesem Schild steht: Wer etwas mitnimmt, dem wird der Prozess gemacht. Ich weiß: Am Ausgang werden sie mich fassen und richten.

Daraufhin gehe ich zum Friseur. Ich lasse meine Haare in Form bringen und pflegen.

Die Familie ist zusammen. Kinder und Neffen, der Bruder. Ich bereite aus Resten ein gediegenes Mahl. Es ist ein munteres Beisammensein. Mein Bruder fährt mit dem Wagen und überdreht den Motor. Das Auto gräbt sich etwas in die feuchte Erde und verschmutzt es dadurch.

Mir wird klar: Es ist an der Zeit, mir einen neuen Personalausweis machen zu lassen. Ich habe noch die alte graue Klappkarte. Dann befinde ich mich in einem Zug. Ein gutaussehender, mit Anzug und Weste bestens gekleideter, blinder Herr tritt ein. Er sieht aus wie Al Pacino im Film ‚Der Duft der Frauen‘. Ich ducke mich zur Seite, um dem Mann Platz zu machen. Er tritt mir auf die Füße. Ich richte mich schnell auf und sage, ob der schönen Gestalt dieses Mannes: Es ist mir ein Vergnügen! Darüber freut sich der Mann und umarmt mich. Was für ein wunderbares Gefühl, zusammen zu sein!“

DIE TRAUMDEUTUNG

Die erste Szene stellt die Ausgangssituation der Träumerin eindrücklich dar: Das Bauvorhaben, verbunden mit einem Ortswechsel, lässt Gefühle in der Menge (starker Regen) über sie hereinbrechen, dass ihr Schutz, das Dach über ihrem Kopf, ihr klares Denken, unter dem sie ruhig schlafen und sich regenerieren kann, beschädigt wird.  Sie hat Angst, den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. Sie ist ihren Gefühlen schutzlos ausgesetzt.

Das zweite Bild spitzt die Situation zu: Ortschaften und Landschaften im Traum sind Strukturen und Seinsweisen, in denen wir uns im Leben eingerichtet haben. Die altertümlichen Häuser und Zäune aus Stein lassen auf eine Schutzhaltung aus der Kindheit schließen. Die Träumerin wuchs in einer dysfunktionalen Familie auf. Der Stein ist grau, die Farben des Lebens sind aus dieser Abgrenzung gewichen. Dieses Bild lässt an die physiologische Überlebensreaktion bei akutem Stress denken. Fight, Flight, Freeze. Kämpfen, Fliehen, Erstarren – versteinern. Die Versteinerung ist ein Bild ihrer kindlichen Schutzhaltung.

Der Gnom erinnert sie an E.T., seine Sehnsucht „nachhause zu telefonieren“. Sie empfindet mit dieser Gestalt das Gefühl der Spannung, der Verlorenheit und der Verletzlichkeit. Der Gnom weist sie auf eine Gesetzmäßigkeit beim Verlassen der Kindheit hin. „Wer etwas mitnimmt, dem wird der Prozess gemacht.“ Wie präzise der Traum auf den Punkt kommt!  Die Träumerin hat unbewusst die Gefühle der Kindheit mit sich genommen: die Sehnsucht nach Beziehung und die Angst, darin verletzt zu werden. Diese spannungsreiche Ambivalenz bringt die Träumerin in einen Bewusstwerdungsprozess.

Blüten in der Sonne

GEFÜHLE BEGLEITEN

Diese Erkenntnis führt sie folgerichtig zum nächsten Schritt: Die Träumerin wendet sich fachmännisch (Friseur) ihrem Gefühlsausdruck zu. Haare sind evolutionär dem schützenden Fell des Tieres entsprechend. Die Beschaffenheit des Haares, wie des Fells bringen emotionale Gestimmtheit zum Ausdruck. Das Tier sträubt das Fell, wenn es aggressiv ist und Angriff signalisieren möchte. Wir sprechen davon, dass uns die Haare zu Berge stehen, wenn wir entsetzt sind. Wir finden das Haar in der Suppe und meinen damit, dass wir uns an Kleinigkeiten stören. Wir schneiden alte Zöpfe ab, um uns von langlebigen Gefühlsmustern zu trennen und uns einen neuen Ausdruck geben wollen.

Die Träumerin bringt mit ihrer therapeutischen Kompetenz ihren Gefühlsausdruck in Form. Das heißt, sie klärt (waschen), entwirrt (kämmen) und wendet sich fürsorglich (pflegen) ihrem Gefühlsausdruck zu. Sie muss kein Schuldgefühl haben, wenn sie ihren Wünschen Gestalt verleiht, auch wenn das heißen kann, sich aus Beziehungen verabschieden zu müssen. Sie ist nicht schutzlos ausgeliefert, wenn sie einen neuen Lebenskreis betritt. Die Pflege des Haares entspricht einem begleitenden Umgang mit unseren Gefühlen.

Die Träumerin versteht, aus welchen Kindheitsbereichen ihre Krise rührt. Sie lässt zu, dass ihr Herz berührt wird und nimmt sich in ihrem Herzen auf. Hier ist sie zuhause.

Wie sieht das in der Lebenspraxis aus? Aus dem, was Gutes vom Tage übrigblieb, kreiert die Träumerin eine „gediegene“ Seelenspeise. Das nächtliche Gehirn setzt in der Krise aus gelungenen Lebenserfahrungen, aus gelingenden Beziehungen, aus Wissen, das uns reicher und glücklicher machte, und aus unseren Ressourcen, kreativ ein neues Muster zusammen, das uns aus dem krisenhaften Zustand herausführt. Das nährt die innere Familie, die Persönlichkeitsanteile der Träumerin.

Einem Anteil will die Lebensbewegung noch nicht so recht gelingen. Ihr Bruder überdreht den Motor. Ihn beschreibt die Träumerin als einen Menschen, der viel weiß, doch seinen Gefühlen manchmal machtlos ausgeliefert ist. Das kennt sie gut von sich selbst. Dadurch wird die Lebensenergie nicht zielführend übertragen. Sie verausgabt sich in Situationen, die mit Gefühlen stark durchsetzt (feucht) sind.  Dadurch gräbt sie sich dort, wo sie ist, ein, anstatt voranzukommen. Überanstrengung – das alte Muster leistet Widerstand.

Das vorletzte Bild ist eine klare Aussage, wie mit Widerständen umzugehen ist:  Es ist Zeit für einen neuen Ausweis ihrer Identität.

Der Blick zurück in die Kindheit, das siebte Bild: Sie hat noch die alte graue Klappkarte. Die Träumerin assoziiert damit das Wenn-dann-Prinzip ihrer Kindheit, die gefühlten Bedingungen der Liebe: Wenn du dich anstrengst, dann wirst Du vielleicht genügen. Wenn du es allen recht machst, wirst du vielleicht geliebt.

Das darf nun ersetzt werden durch den einfachen Ausweis ihrer Identität: Ich liebe, ehre und achte mich so wie ich bin. Ich genüge mir. Auch, wenn ich heute nichts tue, habe ich bereits genug getan.

Krokus vor vereistem Gras

ZU SICH SELBST ERWACHEN

Durch die Selbstakzeptanz und innere Zugehörigkeit kommt die Träumerin aus der Krise heraus und wieder in eine zielgerichtete Lebensbewegung (Zug). Sie begegnet darin einer lebenserfahrenen Handlungskraft. Anzüge sind keine Freizeitkleidung, sie drücken Profession und Macht aus.

Die professionelle, wie erfahrene Handlungskompetenz der Träumerin als Therapeutin kommt auf sie zu.  Der Mann ist blind. Das heißt, die Handlungskompetenz ist sich ihrer selbst nicht bewusst. Die Träumerin duckt sich weg. Diese Geste wirkt wie die Angst vor der eigenen Größe. Der Mann steigt ihr auf die Füße. Das heißt, er fordert sie heraus. Das Frühlingswort taucht auf! Es ist ihr ein Vergnügen!

Im Ausgang dieses Bewusstwerdungsprozesses kann die Träumerin sich fassen und in ihre eigene Größe aufrichten.

Handlungen ohne Bewusstheit sind blind. Gedanken ohne die Tat treten nicht in die Verwirklichung. Kommen Erkennen und Tun, Frau und Mann im Traum liebend zusammen, kann ein neues Leben entstehen.

Im Film „Der Duft der Frauen“, an den sich die Träumerin erinnert fühlt, nimmt der blinde Protagonist den Kontakt zu den Frauen über ihren Duft auf. „Fliederfein blühst du in mir/Frühlingswort.“ Wir haben ein Gespür für das Bewusstsein, das unser Leben zum Blühen bringt. Darauf dürfen wir vertrauen. Davon träumen wir.

Fotos: iStock, Unsplash / Jack Blueberry, Kinga Howard, Kevin Laminto

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