GESUNDHEIT DURCH ANERKENNUNG
Andauernde Gesundheit ist ein Wunsch, dem die Realität leider immer wieder Grenzen setzt. Wie kann sie dennoch gelingen? Unsere Autorin verfolgt einen interessanten Ansatz.
Hier erfahren Sie mehr über
- Mentale Gesundheit
- Selbst-Bewusstsein und Akzeptanz
- Anerkennung und Wahrnehmung
Text Barbara Strohschein
Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.
Können wir immer gesund sein und gesund bleiben?
Es gehört zu den medizinischen Utopien, den perfekten Menschen zu schaffen. Nicht nur die Genforscher haben Anfang der 2000er Jahre in ihrem „Human Genom Projekt“ davon geträumt, den für immer gesunden, schönen Menschen zu kreieren, dem Alterung und Krankheit erspart bleiben.
Doch Utopien sind, wie wir wissen, Zukunftsentwürfe, nicht mehr und nicht weniger.
Sie können allenfalls dazu anregen, das menschliche Leben durch Träume und Taten zu verbessern.
Wenn wir nicht zu den Wissenschaftlern gehören, die den Menschen im Rahmen der Genforschung zu perfektionieren suchen, bleibt uns nur übrig, darüber nachzudenken, wie wir gesund bleiben können.
Das menschliche Leben, ja, alles Lebendige, bedeutet Werden und Vergehen.
Wie soll nun Anbetracht dieser unbestrittenen Tatsache Gesundheit zu einem Lebensprinzip werden – dazu noch in diesen krisengeschüttelten Zeiten, in denen der Alltag der meisten Menschen von Stress und Leistungsdruck geprägt ist?
Ich will vorschlagen, wie wir mit der Tatsache, dass wir nicht endlos leben und krank werden können, anerkennend und konstruktiv umgehen können.
Der allererste Schritt dazu ist, diese unvermeidbare Tatsache zu akzeptieren. Das klingt so selbstverständlich. Aber ist es das? Ich denke, eher nein. Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Leistung und Perfektion ausgerichtet ist und Krankheit und Tod eher als Störung, denn als Herausforderung wahrgenommen werden. Viele Menschen heute haben die Leistungs- und Perfektionsansprüche tief verinnerlicht. Sie werten sich selbst ab oder werden von anderen abgewertet, wenn sie meinen, diesen Ansprüchen nicht zu genügen.
Diese überhöhten Ansprüche an sich und andere führen fast unweigerlich dazu, sich nicht gut genug zu fühlen und anderen, die nicht funktionieren, die Anerkennung zu versagen.
So entstehen ein Mangelbewusstsein und unausgesprochene Kränkungen, die dazu führen können, dass jemand dadurch krank wird.
Es wäre ein konstruktiver erster Schritt Richtung Gesundheit, diesen Entwertungen und den psychischen wie physischen Folgen daraus, zu widerstehen. Und nüchtern zu erkennen, dass niemand perfekt sein muss und kann und jeder Mensch ein vollkommenes Wesen ist – mit allen Licht- und Schattenseiten.
Gesundheit bedeutet damit Akzeptanz und Anerkennung dessen, was Leben bedeutet: Wandel.
Mentale Gesundheit
Der Begriff „mentale Gesundheit“ ist weit verbreitet, wird von der WHO genau definiert und beschreibt alle inneren, kognitiven Prozesse wie Aufmerksamkeit, Denken (Problemlösung), Emotionen, Gedächtnis, Lernen, Motivation, Wahrnehmung. Doch diese Bedeutung ist meiner Ansicht nach erklärungs- und ergänzungsbedürftig.
Menschen sind keineswegs nur kognitive Wesen sind, die mit dem Kopf „arbeiten“. Wir werden von unseren Gefühlen gesteuert, von Trieben, Wünschen und Träumen, vom Unbewussten, das wir nur sehr partiell oder gar nicht in den Wirkprozessen verstehen können. Die Nicht-Beachtung der Wirkung von Gefühlen, dem Unbewussten, dem durch Triebe gesteuertes Verhalten führt dazu, wichtige Antriebskräfte, die auch die kognitiven Fähigkeiten positiv beeinflussen, zu unterschätzen.
Wenn wir den Begriff „mental“ in einem erweiterten Sinn von „bewusst“ verstehen, haben wir die Chance, mentale Gesundheit als das Ergebnis eines Bewusstseinsprozesses zu verstehen.
In diesen wäre dann einzuschließen, dass wir unsere Gefühle erleben und anerkennen, dass wir uns mit unseren Träumen und Visionen befassen, dass wir logisch denken und fähig werden, uns selbst zu beobachten, um eine Fähigkeit nach und nach zu beherrschen: uns selbst zu verstehen und anzuerkennen.
Warum Gesundheit weit mehr ist, als nicht krank zu sein
Definition von Gesundheit
„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.“ So lautet die Verfassung der WHO von 1948, der 2019 folgende Definition hinzugefügt wurde: „Psychische Gesundheit und Wohlbefinden werden nicht allein durch individuelle Merkmale beeinflusst, sondern auch durch die sozialen Umstände, in denen sich Menschen befinden und die Umgebung, in der sie leben“.
1986 postulierte die von der WHO verabschiedete Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung die Notwendigkeit eines Umdenkens in der Krankheitsbekämpfung. So sollte Krankheit nicht mehr durch ein Denken definiert werden, das die Entstehung von Krankheit ausschließlich auf einzelne Erreger oder Risikofaktoren zurückführt. Gesundheitsförderung sollte zukünftig darauf abzielen, „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer gesundheitlichen Eigenverantwortung befähigen.“
Gesundsein bedeutet nach diesen WHO Definitionen, dass ein Mensch in der Lage ist, sich wohlzufühlen, für sich zu sorgen, selbstbestimmt zu leben, sich der eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu sein und sie zu befriedigen sowie einen Weg zwischen Ruhe und Arbeit zu finden.
Eine weiterführende Definition von Gesundheit
Die Beschreibung von Gesundheit der WHO wiederum setzt viele Faktoren voraus. Nicht nur die Lebensumstände, sondern – das möchte ich ergänzen – bestimmte Fähigkeiten, vor allem ein Selbst-Bewusstsein. Ohne Selbst-Bewusstsein sind alle anderen Fähigkeiten streng genommen gar nicht möglich.
Sich wohlzufühlen setzt voraus, dass ein Mensch sich fühlen kann und sich dieses Gefühl bewusst macht.
Für sich zu sorgen bedeutet, zu spüren, was nötig ist für die Selbsterhaltung.
Selbstbestimmt ein Leben zu führen, erfordert, eine Ahnung davon zu bekommen, wer man ist, wohin man will und was zu tun ist, um nicht nur von anderen Menschen abhängig zu sein. Wir müssen entscheiden, wieviel Anregung und Arbeit und wieviel Ruhe wir brauchen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Das bedeutet, sich selbst zu kennen und wahrnehmen zu können.
All das sind Fähigkeiten, die Bewusstsein voraussetzen.
Insofern steht die Frage im Raum: Wie kann ein Mensch selbst-bewusst werden und sein, um gesund zu bleiben? Und mit diesem Bewusstsein auch akzeptieren, dass Krankheit und Tod zum Leben gehören? Therapeuten und Ärzte wissen nur zu gut – und ich erlebe es bei meinen Klienten in meiner Praxis ebenfalls: Viele Menschen heute haben ein Problem damit, ihren Körper zu spüren und ihre seelischen Prozesse wahrzunehmen. Das ist jedoch die Voraussetzung dafür, um dann über die Balance zwischen Anstrengung und Erholung, zwischen unausweichlichen und selbst eingebrockten Abhängigkeiten entscheiden zu können.
Dazu kommt, dass es entscheidend ist, nicht nur für sich, sondern auch für andere wachsam zu sein und Regeln zu schaffen, um sich bewusst steuern und entscheiden zu können: anwesend sein im Hier und Jetzt.
So merkwürdig das vielleicht klingen mag: Um uns selbst zu erkennen, anzuerkennen und wahrzunehmen, müssen wir in Beziehung sein, um zu wissen, was uns guttut und was uns schadet. Doch nicht nur in Beziehung zu uns selbst, sondern in Beziehung zu anderen Menschen. Erkenntnis und Selbsterkenntnis sind ohne dieses nicht zu bewerkstelligen.
Hiermit sind wir bei dem philosophischen Thema „Anerkennung“ angekommen. Anerkennung setzt immer ein In-Beziehung-sein zu sich, zu anderen Menschen wie auch notwendig zur Realität voraus. Beziehungslos zu sein, macht Anerkennung unmöglich.
Wie entsteht Selbst-Bewusstsein?
Ich will es provokant auf den Punkt bringen: Im Alleingang ist die Entwicklung von Selbst-Bewusstsein für die seelische und körperliche Gesundheit nicht möglich. Jeder Mensch braucht einen anderen Menschen und eine Gemeinschaft, um sich zu erkennen und sich gesehen, wahrgenommen und anerkannt zu fühlen. Erst im Spiegel, im Bezug auf einen oder etwas anderes als uns selbst, können wir erkennen, wer wir sind und was wir wollen.
Dieter Jarzombek, der Gründer des gemeinnützigen Vereins für Erwachsenenbildung und des Zentrums für seelische Gesundheit Calumed hat dies in seinem Vortrag 2023 so beschrieben:
„In diesem Verständnis von Gesundheit bzw. Krankheit sind zwei Ansätze von besonderer Bedeutung enthalten:
a) der Gedanke der Selbstbestimmung und der Entwicklung persönlicher Fähigkeiten und darüber hinaus der Gedanke der Partizipation an der eigenen und an der gemeinschaftlichen und öffentlichen Gesundheit.
b) der Gedanke eines ökologischen Verständnisses von Gesundheit mit einem Bezug zu öffentlich-politischem Handeln, unterstützenden Umwelten und verstärkten sozialen Aktionen. Für körperlich wie psychisch chronisch Kranke ist die Schaffung kleiner Netze von sozialer Unterstützung und Selbsthilfe eine entscheidende Notwendigkeit. Hier können in besonderer Weise Zuwendung und Verständnis vermittelt werden. Gerade darauf sind viele der Betroffenen besonders angewiesen und nur so können soziale Isolation und Hilflosigkeit vermieden und Ängste bewältigt werden.“
Ist Gesundheit ein Menschenrecht?
Es liegt natürlich nahe, Gesundheit nicht nur als eine Aufgabe für das einzelne Individuum zu erklären. Die Umweltbedingungen, die sozialen Verhältnisse, klimatische Einflussfaktoren, Status, Einkommen und Bildung spielen eine entscheidende Rolle für den Erhalt der Gesundheit.
Es ist bekannt, dass reiche und gebildete Menschen weit mehr Möglichkeiten haben, sich gesund zu erhalten als arme und weniger gebildete. Hier liegt eine Ungerechtigkeit durch die sozialen Unterschiede vor. Zweifellos kann der Staat, können die soziale Systeme durch Versicherungen dazu verhelfen, diese Unterschiede auszugleichen.
Doch trotz aller Bekenntnisse über die Würde des Menschen, die nicht von Einkommen, Status und Einkommen abhängig gemacht werden kann, sind diese Ungerechtigkeiten nicht aufgehoben.
Insofern nützt das Rekurrieren auf die Menschenrechte relativ wenig, wenn nicht die Konsequenzen für die Bildung und Erziehung für Kinder oder auch in der Erwachsenenbildung gezogen werden würden: Nämlich ein Curriculum zu entwickeln, durch das man nicht nur Lesen und Schreiben und Rechnen lernt und wie man mit einem Computer arbeitet, sondern wie man mit sich selbst umgeht.
Es wäre naheliegend, Kindern schon früh beizubringen, wie man sich gut ernährt, wie man sich selbst spürt, wie man ein Selbstwertgefühl und ein Selbstbewusstsein und soziale Kompetenzen erlernt, um sich in einer Gemeinschaft wohlfühlen und sich zu behaupten. Auch gehörte dazu, zu lernen, sich selbst und andere Menschen anzuerkennen, auch jene, die Behinderungen haben, krank sind und Hilfe brauchen.
Und die Voraussetzung dazu ist, empathiefähig zu sein. Auch sich selbst gegenüber. Doch das sind Ziele, die weder in der Schule noch im Elternhaus per se verfolgt werden. Und die nicht in einem kognitiven Lernprozess erreicht werden können.
Gesundheit im Alltag und in Krisenzeiten
Wie kann sich ein Mensch wohlfühlen, wenn in seinem Umfeld Konflikte zu bewältigen sind? Wenn die Nachrichten über politische Ereignisse wie Kriege, Aufrüstung, Zunahme am Rechtspopulismus, Umweltkatastrophen, Epidemien, wirtschaftlicher Niedergang jeden Tag ins Haus flattern? Oder wenn jemand selbst betroffen ist von der Angst vor Arbeitslosigkeit, Mieterhöhungen und der Gefahr, keinerlei Einfluss und Bedeutung zu haben? Wenn notwendige Amtshandlungen immer komplizierter und schwieriger zu bewerkstelligen sind und das Gefühl entsteht, einem „System“ hilflos ausgeliefert zu sein?
Fakt ist, dass in Krisenzeiten wie den heutigen, Menschen weit anfälliger für seelische und körperliche Krankheiten sind: Die Umweltbedingungen schaffen keine innere Sicherheit mehr, machen Angst und erzeugen Ohnmachtsgefühle. Das wiederum sind Emotionen, die bis in die Körperzellen wirken können. Insofern liegt es nahe, darüber nachzudenken, wie es gelingt, die Krisen nicht zu ignorieren und dennoch nicht an ihnen direkt oder indirekt zu zerbrechen.
Anerkennung leben, um gesund zu sein
Eine neue Perspektive
Es mag vielleicht verwundern, dass ich den Allerweltsbegriff „Anerkennung“, der „Lob“ oder die „Akzeptanz eines politischen Aktes“ (Anerkennung von Grenzen und Gesetzen etc.) beschreibt, mit Gesundheit in Verbindung bringe. „Anerkennung“ ist interessanterweise nicht primär ein Thema der Psychologie, sondern der Philosophie, in der es um die Sichtung und Erklärung von Bewusstseinsprozessen geht.
In meinem Beitrag habe ich schon mehrfach auf diesen Begriff hingewiesen, um Sie darauf vorzubereiten, welche Rolle „Anerkennung“ im Prozess der Gesundheit spielt. Bevor ich auf die Anerkennungstheorien – vor allem von Hegel – eingehen werde, möchte ich Sie zu einer Phantasiereise einladen:
Stellen Sie sich vor, wie es Ihnen geht, wenn der Tag damit beginnt, dass Sie Ihre morgendliche Trägheit überwunden und wieder Ihre Morgengymnastik geschafft haben. Ihr Partner oder Ihre Partnerin sagt Ihnen beim Frühstück, dass Sie heute gut ausgeschlafen aussehen und sicher in den anstehenden Verhandlungen im Beruf erfolgreich sein werden.
Sie gehen in Ihr Büro und bekommen die Nachricht, dass Ihr Chef Sie gern sprechen möchte. Etwas unruhig machen Sie sich auf den Weg zu ihm. Er eröffnet Ihnen die Chance, aufgrund Ihrer von ihm wahrgenommenen Leistungen, eine neue lukrative Aufgabe zu erfüllen. Das kommt sehr unerwartet, und Sie nehmen dankbar und etwas verwirrt die Chance an.
Am Abend sind Sie eingeladen zu einem Geburtstagsfest bei Freunden. Das Geschenk, das Sie mitbringen, stößt auf echte Begeisterung und der Abend ist heiter und fröhlich. Mit welchen Gefühlen gehen Sie nach einem solchen Abend ins Bett?
Anerkennung – ein komplexer Vorgang aus philosophischer Perspektive
Anerkennung zu geben und zu bekommen, impliziert viele Fähigkeiten: sich selbst und den anderen wahrzunehmen: in Beziehung zu sein; sich in jemanden einfühlen; sich erinnern, was einem anderen Menschen gefällt; die richtigen Worte für ein positives Feedback finden; mit einem anderen Menschen ein Projekt gestalten und sich in diesem Prozess kennenlernen; eine Situation, auch wenn sie schwierig ist, nicht zu verdrängen, sondern sich konstruktiv mit den Problemen auseinanderzusetzen.
Dieses „In-Beziehung-Sein“ und das bewusste Wahrnehmen von sich selbst, von einem anderen Menschen, von realen Tatsachen, der Realität schlechthin, gleich, wie sie ist, ist das Gegenteil von „Abwehr“ und schafft Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Deshalb, weil Menschen per se soziale Wesen sind und auf die Beziehung zu anderen Menschen angewiesen sind, um sich selbst zu erleben.
Unsere Macht und Ohnmacht
Der berühmte Philosoph Hegel hat in seiner schwer lesbaren „Phänomenologie des Geistes“ eine einfache wie logische Formel für das Prinzip „Anerkennung“ gebracht und damit die Liebe zwischen den Menschen beschrieben:
A begegnet B, B erkennt sich durch A, A erkennt sich durch B und in diesem Prozess entsteht etwas sich immer weiterentwickelndes Gemeinsames.
Hegel spricht nach vielen Zwischenschritten, in denen er den Bewusstseinsprozess der Anerkennung – auch der Realität gegenüber – beschreibt, den Kampf um Anerkennung.
Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, um es krass zu formulieren. Denn: Was nicht anerkannt wird, existiert nicht. Was anerkannt wird, wird wahrgenommen und dann erst kann man damit umgehen und darauf reagieren.
Im Kampf um Anerkennung zwischen „Herr und Knecht“, beschreibt das Kapitel, das Marx und Engels als politisches Programm für den Kommunismus verwendet haben, jedoch keinen Klassenkampf: Sondern den Kampf zwischen dem Herrn, einem Synonym für das autonome Bewusstsein und dem Knecht, dem Synonym für das sich abhängig fühlende, ohnmächtige Bewusstsein. Nun kämpfen diese beiden Bewusstseinsformen miteinander, bis der Mensch, in dem dieser Kampf stattfindet, endlich anfängt zu verstehen, dass wir immer beides zugleich sind: Autonom und abhängig, mächtig und ohnmächtig, ohne Arbeit und frei und mit erdrückender Arbeit und unfrei.
Dieses aus dem Kampf um Anerkennung entstehende Selbst-Bewusstsein ist auch für den inneren Gesundungsprozess im Alltag entscheidend. Ist und bleibt es uns bewusst, dass wir beides sind und können, sind wir auch fähig, unsere Macht und Ohnmacht gleichermaßen zu akzeptieren, ohne das Selbst-Bewusstsein damit zu verlieren. Das ist ein wichtiger Aspekt der seelischen und damit auch körperlichen Gesundheit.
Abgesehen davon wird die Anerkennung, die ein Mensch sich selbst und anderen Menschen wie auch der Realität gegenüber, ein positives Lebensgefühl vermitteln, durch ein „In-Kontakt-Sein“. Mit diesem sich entwickelnden Selbstbewusstsein entsteht auch ein Körperbewusstsein durch den Kontakt zu sich selbst. Und beides hat eine Lebensbejahung zur Folge.
Natürlich kann Anerkennung keine Krankheit verhindern, aber nur durch Anerkennung, durch Erkennen, lassen sich Krankheiten wahrnehmen und behandeln. Das gilt nicht nur für Krankheiten, sondern genauso für Konflikte wie unliebsame Tatsachen. Werden sie nicht anerkannt, sind die Probleme vorprogrammiert und nicht lösbar.
Was geschieht, wenn nicht anerkannt wird
Wer meint, Anerkennung wäre ein kommunikativer Luxus, verkennt, welche Störungen auftreten, wenn Anerkennung ausbleibt.
Das lässt sich an alltäglich auftauchenden Momenten leicht erklären:
- Wenn ein Ehemann nicht wahrnimmt – erkennt-, dass seine Frau einen neuen Pullover trägt, ist er auch nicht in der Lage, anzuerkennen, wie hübsch dieser Pullover bzw. seine Frau ist. Er hat nicht einmal hingeschaut und sie ist enttäuscht.
- Wenn ein Mitarbeiter sich enorm anstrengt, um einer hohen Leistungsanforderung zu entsprechen, und niemand honoriert die Leistung und das Ergebnis, wird er weder erkannt noch anerkannt.
- In der Politik ist dieses Nicht-Erkennen von Fakten, sozialen Realitäten eine entscheidende Ursache für ungelöste Probleme. Das heißt: Wird etwas (zum Beispiel die tieferen Ursachen eines Konflikts) nicht erkannt, kann es auch nicht bearbeitet werden. Zum Beispiel die Tatsache, dass viele Menschen aus der Bevölkerung „gekränkt“ sind, sich nicht gesehen, nicht berücksichtigt und nicht respektiert fühlen – zu Recht oder zu Unrecht, das spielt in diesem Fall keine Rolle. Die Kränkung hat die Abwendung der Wählerinnen und Wähler von den bürgerlichen Parteien hin zum Rechtspopulismus zur Folge, deren Vertreter scheinbar Lösungen versprechen.
- Das Nicht-Wahrnehmen als ein Aspekt des „Nicht-Anerkennens“ ist nicht nur zu demonstrieren in der Medizin, in der Psychotherapie, in der Wissenschaft, in der Politik, sondern immer und überall. Es ist einfach: Wer nicht hinsieht, kann auch nichts ändern. Die Medizin liefert dafür konkrete Beispiele: Wenn eine Frau jahrelang starke Rückenschmerzen hat, und keiner der Ärzte, die sie aufsucht, erkennt, dass Hüft-Arthrose die Ursache ist, folgt daraus, dass auch niemand daran denkt, die Hüfte zu röntgen und zu operieren. Das ist kein von mir ausgedachter Fall, sondern hat so stattgefunden.
- Wenn jemand nicht erkennen will, dass der beste Freund ihn betrügt, weil dies als undenkbar beurteilt wird, kommt die Enttäuschung und der Bruch irgendwann mit Sicherheit.
- Wenn die Politiker nicht erkennen, welche Angst in der Bevölkerung rumort, werden sie auf das Ausagieren von Ängsten (kundgetan durch Proteste, Verweigerungen, Shitstorm, Verdrängungen usw.) nicht angemessen reagieren können. Sie erkennen nicht die psychologischen Wirkmechanismen. Sie reagieren deshalb entweder gar nicht oder falsch. Dieses Nicht-in-Betracht-Ziehen von psychischen Faktoren, ist nicht nur gang und gäbe in der Politik und in der Diplomatie, sondern auch in vielen Wissenschaften üblich.
- Ein gesellschaftliches Problem hat psychische, psychosoziale Ursachen? Auf die Idee, dass es so sein könnte, kommen nicht nur die Wissenschaftler nicht, die es gewohnt sind, ihr Fach unter rein materiellen, technischen Aspekten zu bearbeiten, sondern auch nicht viele Entscheidungsträger, die vergessen, dass in allen sozialen Prozessen Menschen beteiligt sind. Das bedeutet konkret, dass Menschen den Menschen als Faktor in dieser Welt nicht in Betracht ziehen, sondern ihre Wahrnehmung und ihr „Erkennen“ auf Sach- und Systemfaktoren begrenzen. Das hat zur Folge, dass gesellschaftliche Krisen in ihren tieferliegenden Ursachen weder gesehen noch bewältigt werden können.
Das Streben und das Bedürfnis nach Anerkennung
Wie mächtig das Streben und das Bedürfnis nach Anerkennung sind, das kann sich kaum jemand wirklich vorstellen. Darüber wird so gut wie nie geredet, es ist aus verschiedenen Gründen ein Tabuthema. Weshalb? Verlangt jemand direkt Anerkennung, läuft der- oder diejenige Gefahr, sich lächerlich zu machen, für schwach gehalten zu werden oder damit in Verdacht zu geraten, ein mangelndes Selbstwertgefühl an den Tag zu legen. Wer würde auf die Idee kommen, zu einem Kollegen zu sagen: Nun nehmen Sie mich doch mal wahr und akzeptieren mich voll und ganz! Ich brauche das!
Statt des offenen Bekenntnisses, anerkannt werden zu wollen, wird das Streben auf andere Verhaltensweisen und Haltungen „verlagert“: Zum Beispiel durch Auftrumpfen, Rechthaberei, durch Unterdrückung und Abwertung anderer. All dies sind erprobte Wege, um sich selbst mächtig zu fühlen und sich auf diese Weise etwas zu beschaffen, was andere einem nicht geben. Aber auch das „Sich-Beweisen-Müssen“ durch übermäßige Leistungen, durch Anpassung an (vermeintliche) Schönheitsideale, durch das Ansammeln von Statussymbolen sind Aktionsformen im Kampf um Anerkennung.
Das Bedürfnis nach Anerkennung ist problembehaftet auch aus einem anderen Grund. Das Gefühl von Bedürftigkeit ist subtil, sitzt tief und ist mit Scham besetzt. Es erinnert, tiefenpsychologisch gesehen, an die Ohnmacht und die Abhängigkeit von den Eltern in der Kindheit. Gerade in der westlichen Leistungsgesellschaft mit den enorm hohen Ansprüchen, mit dem Drang nach individueller Freiheit und Unabhängigkeit, wird die gefühlte Bedürftigkeit zu einer inneren Bedrohung, die abgewehrt werden muss, über welche Wege und Mittel auch immer.
So entwickelt sich der Wunsch nach Anerkennung aus einer Mangelerfahrung, die im Widerspruch steht zu dem Wunsch, sich stark, autonom und unabhängig zu fühlen. Es wundert nicht, dass auf diese Weise Zielkonflikte entstehen, die nur dann aufzulösen sind, wenn dieser Widerspruch bewusst und bearbeitet wird: anzuerkennen, dass der Wunsch nach Anerkennung sichtbar und akzeptiert wird, um damit konstruktiv umzugehen, statt ihn auszuagieren und zu verschieben.
Alles hat einen geistigen Ursprung
In unserem technischen und leider auch enthumanisierten Zeitalter wird die Bedeutung des Menschen und seine Fähigkeit, über ein Bewusstsein zu verfügen, gewaltig unterschätzt. Das Menschenbild, das heute vorherrscht, beinhaltet, dass der Mensch keinen freien Willen hat, weil er entweder durch das Limbische System oder/und seine unbewussten Triebe gesteuert wird; oder aber es wird behauptet, alles im Leben eines Menschen sei vorherbestimmt; und schon allein deshalb seien die menschlichen Einflussmöglichkeiten insgesamt äußerst begrenzt. So bedingt wahr diese Aussagen sind, so fatal wirken sie. Sie laden zu einer Resignation ein: Was sollen wir denn schon tun, wenn wir letztlich keinen Einfluss auf uns, auf andere und die Welt haben.
Ich möchte meinen Beitrag mit einem Nachdenken über die menschlichen Potenziale beenden:
- Jeder Mensch verfügt per se über ein Bewusstsein.
- Jeder Mensch hat mehr oder weniger die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, was noch nicht da ist.
- Unsere gesamte Kultur auf der Erde ist durch diese menschlichen Fähigkeiten entstanden.
Abgesehen von diesen unbestrittenen Tatsachen sind trotz aller Einwände und Einbrüche in das Verständnis, was Menschen sind und sein können, Menschen geistige Wesen. So wie alles auf dieser Welt einen geistigen Ursprung hat. Wir können statt „Geist“ auch sagen: Information und Energie.
Alle Ereignisse in uns, von uns und in der Natur sind durch Information und Energie gesteuert. Übertragen auf den Menschen können wir das so verstehen: Je nachdem, mit welchen positiven oder negativen Gedanken wir uns beschäftigen, werden diese Inhalte (sprich: Informationen) auf uns und andere wirken. Dieser Wirkprozess spiegelt sich auch wider in der Resonanz durch und auf Anerkennung.
Einfach gesagt:
Wer sich anerkennt, kann andere anerkennen. Wer sich wahrnimmt, kann andere wahrnehmen. Wer die Wirklichkeit wahrnimmt, kann auf sie Einfluss nehmen. Das setzt natürlich, wie schon gesagt, Selbst-Bewusstsein voraus, das wiederum einen großen Einfluss auf die Gesundheit eines Menschen hat. Selbst-Bewusstsein nicht im Sinn eines überhöhten Selbstwertgefühls, sondern im Sinn des Sich-Selber-Wahrnehmens.
Die Rechnung ist letztlich einfach: Befassen wir uns unentwegt mit negativen Gedanken, Informationen und Gefühlen, verdoppeln wir das Negative. Und umgekehrt gilt das Gleiche: Erkennen wir uns und andere an, entdecken wir Möglichkeiten und Chancen.
Schaffen wir uns Vorstellungen von einer Zukunft, die wir wollen und nicht erleiden, wird sich diese Haltung positiv auf unseren Körper, unsere Seele und unseren Geist auswirken, immer mit nüchternem Blick auf das, was ist und werden könnte.
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